Paul Valéry Windstriche 4

Ein Werk, dessen Vollendung – der Entscheid, der es für vollendet erklärt – nur davon abhängt, ob es uns gefallt, ist nie vollendet. Unbeständigkeit gehört wesentlich zu jenem Urteil, das den letzten und den endgültigen Zustand gegeneinander abwägt, das Novissimum und das Ultimum. Die Maßeinheit schwankt.

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Gelungenes entsteht durch Verwandlung aus Verfehltem.
Verfehlt heißt demnach: zu früh aufgegeben.

Pag. 87

Überraschung als Ziel der Kunst? Aber man täuscht sich häufig in der Art der Überraschung, die der Kunst würdig ist. Kunst will nicht begrenzte Überraschungen, die nur im Unerwarteten bestehen, sondern unendliche, die durch einen immer neuen Entwurf erreicht werden, der alle Erwartung der Welt hinter sich lässt. Das Schone überrascht nicht deshalb, weil man sich nicht genügend darauf eingestellt hatte, nicht durch den bloßen Schock, sondern im Gegenteil, weil man sich so darauf eingestellt hat, dass man nicht weiß, wie man so vollkommene Schönheit selber herstellen oder ausdenken könnte.
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Das Neue ist seiner Definition nach das Vergängliche an den Dingen. Die Gefahr ist, dass es unweigerlich aufhört, neu zu sein, ohne dass der Verlust ersetzt wird. Wie die Jugend und das Leben.
Diesen Verlust zu vermeiden suchen heißt gegen das Neue wirken. Als Künstler um das Neue bemüht sein bedeutet demnach verschwinden wollen, oder, in der Meinung, man suche das Neue, etwas ganz anderes erstreben und so einer Täuschung erliegen.
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Nur den zieht das Neue unwiderstehlich an, der sich vom bloßen Wechsel die größte Erregung verspricht.
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Das Beste im Neuen entspricht einem alten Bedürfnis.
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Jeder große Mensch lebt von der Illusion, er könne der Zukunft etwas vorschreiben; das nennt man dauern.
Die Zeit aber ist widerspenstig – und wenn einer ihr zu widerstehen scheint, wenn ein Werk schwankt und dahintreibt, statt sogleich zu versinken, wird man immer entdecken, dass es sehr wenig jenem Werk gleicht, das der Autor zu hinterlassen glaubte.
Ein Werk dauert gerade, insofern es ganz anders zu erscheinen vermag, als es sein Autor geplant hat.
Es dauert, weil es sich verwandelt hat und soweit es zu tausend Verwandlungen und Deutungen fähig war.
Oder aber, weil es eine von seinem Autor unabhängige Eigenschaft besitzt, die nicht von ihm, sondern von seiner Zeit oder seiner Nation geschaffen wurde, und die durch den Wandel von Zeit oder Nation ihren Wert erhalt.

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Die Lebensdauer der Werke hängt von der Dauer ihrer Verwendbarkeit ab. – Darum ist sie nicht kontinuierlich. Es gibt Jahrhunderte, in denen Vergil keine Funktion hat.
Aber alles, was jemals war und nicht unterging, hat Aussichten auf Wiedererweckung. Man braucht ein Beispiel, ein Argument, einen Präzedenzfall, einen Vorwand.
Und da ist plötzlich irgendein totes Buch, das in Bewegung gerat und von neuem zu sprechen beginnt.

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Das beste Werk wahrt sein Geheimnis am längsten. Lange ahnt man nicht einmal, dass es ein Geheimnis hat.

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Wo ich mit Mühe und außer Atem noch eben hingelangt bin, da taucht plötzlich ein anderer auf, der entspannt und frei die Idee ergreift, sie von meiner Ermattung und meinem Zweifel lost, in ihrer Allgemeinheit und Leichtigkeit sieht, mit ihr spielt, sich aus ihr ein Instrument und einen Schmuck bereitet und der von meinem Schmerz und von dem Blut, das sic gekostet hat, nichts weiß.

Pag. 92-93

KLASSISCH’
Den Alten schien die himmlische Welt geordneter, als sie uns erscheint, und daher völlig verschieden von unserer Welt; so fanden sie in den Beziehungen der beiden Welten keinerlei Gegenseitigkeit.
Die irdische Welt kam ihnen sehr wenig geordnet vor. Was ihnen auffiel, war der Zufall, die Freiheit, die Laune (denn Zufall heißt ja die Freiheit der Dinge, der Eindruck, den die Pluralität und die Indifferenz der Losungen auf uns macht).
Das Fatum war etwas Unbestimmtes, das wohl auf die Dauer und im ganzen gesehen den Sieg davontrug (wie das Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrechnung), doch waren Gebete, Opfer, Riten möglich.
Der Mensch hatte noch einige Macht über die Geschehnisse, denen gegenüber sein direktes Handeln nichts ausrichtet.
So schien ihm Ordnen göttlich. «
Die orientalische Kunst unterscheidet sich von der griechischen darin, dass sie nur gefallen will, während die griechische die Schönheit zum Ziel hat; das heißt, sie trachtet, den Dingen eine Form zu geben, die an die Ordnung des Universums
erinnert, an die göttliche Weisheit, an die Herrschaft durch den Verstand – alles Dinge, die es in der unmittelbaren Natur nicht gibt, in der greifbaren, vorhandenen, die nur aus Zufällen besteht.

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Ein klassischer Schriftsteller ist ein Schriftsteller, der die Gedankenassoziationen verschleiert oder in sich aufsaugt.

KLASSIKER
Dank der seltsamen Regeln ist in der französischen Dichtung der Abstand zwischen dem ursprünglichen »Gedanken« und dem endgültigen »Ausdruck» denkbar groß. Das hat seine Folgen. Zwischen das, was man empfindet oder beabsichtigt,
und die Konstruktion dessen, was dieses Gefühl oder Vorhaben, oder dann eine analoge Empfindung hervorruft, stellt sich die Arbeit. Alle Linien werden neu gezogen, alle Gedanken neu gedacht usw.
Man beachte auch, dass diejenigen, die diese Dichtung zur höchsten Vollendung geführt haben, alle Übersetzer waren, welche die Werke der Alten in unsere Sprache herüberzuführen verstanden.
Ihre Dichtung ist von dieser Gewohnheit geprägt. Sie ist Übersetzung, eine »treulose Schöne« – allem untreu, was nicht mit den Forderungen einer reinen Sprache Übereinstimmt.

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Seit der Romantik ahmt man das Besondere nach, statt wie früher die Meisterschaft.
Der Hang zur Nachahmung ist der gleiche geblieben. Aber die Moderne verbindet einen Widerspruch damit. Meisterschaft heißt (das Wort sagt es selbst): die Kunstmittel zu beherrschen scheinen, statt sich von ihnen sichtlich beherrschen zu lassen.
Meisterschaft setzt demnach voraus, dass man die Gewohnheit hat, von den Mitteln aus zu denken und zu kombinieren, sich ein Werk nur in seiner Bedingtheit durch die Mittel vorzustellen, und das bedeutet: an ein Werk nie von einem Thema oder einer erdachten Wirkung aus heranzugehen, die nicht an die Mittel gebunden sind.
Daraus folgt, dass die Meisterschaft manchmal ins Unrecht versetz und überboten wird durch ein Original, das, aus Zufall oder Begabung, neue Mittel schafft – und zuerst eine ganz neue Welt in die Welt zu setzen scheint. Aber es handelt sich immer nur um Mittel.

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Der Unterschied zwischen klassisch und romantisch ist ganz einfach der zwischen einem, der sein Handwerk versteht. und einem, der es nicht versteht. Ein Romantiker, der seine Kunst gelernt hat, wird zum Klassiker. Deshalb führte die Romantik schließlich zur Schule der Parnassiens.

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»Genie« haben und ein lebensfähiges Werk schaffen ist zweierlei. Alle Verzückungen der Welt ergeben nur unzusammenhängende Elemente.
Ohne sehr genaue Berechnung taugt ein Werk nichts – funktioniert es nicht. Ein hervorragendes Gedicht setzt eine Fülle genauer Überlegungen voraus. Es geht dabei nicht so sehr um die Kräfte als vielmehr um ihren Einsatz. Um Einsatz

– bei wem?

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Seine Theorien verfuhren einen Künstler immer dazu, zu lieben,
was er nicht liebt, und was er liebt, nicht zu lieben.

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THEATER
Jedes Theaterstück ist eine Scharade.

Einem Gesetz des Theaters zufolge kann und muss der Zuschauer sich immer mit einer Person auf der Bühne identifizieren, mit ihr eins werden. Dadurch ist er am Stuck beteiligt und spielt mit – nichts anderes bedeutet das Wort Interesse: mitmachen.

Pag. 95-96

Das Leben des Menschen ist zwischen zwei literarische Gattungen eingebettet. Am Anfang schreibt man seine Wunsche, am Ende seine Memoiren.
Man verlässt die Literatur und kehrt zu ihr zurück. Ein schönes Buch ist für mich ein solches, das mir von der Sprache eine edlere und tiefere Vorstellung gibt. So veredelt der Anblick eines schonen Körpers unsere Auffassung vom Leben.
Diese Art der Empfindung führt dazu, über Literatur im allgemeinen zu urteilen und überjedes Buch im Einzelnen, je nachdem wieviel Gegenwärtigkeit, geistige Freiheit, Gewissenhaftigkeit, Koordinationsmöglichkeit und Bewältigung der Gesamtsphäre der Worte sie vorauszusetzen oder anzuregen fähig sind.

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Der »Schriftsteller«: er sagt immer mehr und weniger, als er denkt.

Pag. 97

MALEREI
Das Ziel der Malerei ist unbestimmt.
Ware es klar umrissen – etwa die Illusion von Gesehenem zu erwecken, oder Auge und Verstand durch eine bestimmte musikalische Verteilung von Farben und Formen zu ergötzen-, so wäre das Problem sehr viel einfacher, und es gäbe sicher mehr schone Werke (das heißt solche, die ganz bestimmten Forderungen entsprechen), aber keine, die unerklärlich schon waren.
Es gäbe die Werke nicht, denen man nie auf den Grund kommt.

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Die Werke der Kunst erwecken die Vorstellung von Menschen, die genauer, ausgeprägter, differenzierter sind und sich selbst, ihre Augen und ihre Hände mehr in der Gewalt haben als jene, die das fertige Werk betrachten und weder die Versuche noch die Änderungen sehen, noch die Augenblicke der Verzweiflung und des Opferns, die Anleihen, die Ausflüchte, die Jahre und schließlich die glücklichen Zufalle – alles, was verschwindet, alles, was verdeckt, aufgelöst, aufgenommen, verschwiegen und verleugnet wird, alles, was der menschlichen Natur entspricht und dem Durst nach Wunderbarem widerspricht – der freilich ein entscheidender Trieb dieser Natur ist.

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Von allen Künsten gibt uns sicher die Malerei am leichtesten das Gefühl ihrer Ohnmacht.
– Schauen Sie diesen Fuß an, sage ich zum Maler, kann man mit diesem Fuß gehen?
– Das will ich ja gar nicht, antwortet er mir.
– Und haben es doch nicht fertiggebracht.

Pag. 99-100

Die Werke der auserlesensten Kunst, die Feinheiten der Zeichnung, das Genießen der Nuancen und Obereinstimmungen einer vollkommenen Sprache, das Köstliche gewisser mathematischer Ambivalenzen, der Schärfegrad im Durchleuchten der Seele: das alles ist Privatangelegenheit weniger Menschen. Waren sie nicht – wer würde einen solchen Verlust auch nur ahnen?

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Schone Werke sind Geschöpfe ihrer Form, die vor ihnen entsteht.

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Der Wert von Kunstwerken liegt nicht in ihnen selbst, sondern in den Weiterbildungen, die sie durch andere Werke und durch spätere Umstande erhalten.
Wir wissen nie im Voraus, ob ein bestimmtes Werk leben wird … Es ist ein mehr oder weniger lebensfähiger Keim; er bedarf der Umstande, und diese können auch den schwächsten begünstigen.

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Manche Werke werden von ihrem Publikum geschaffen. Andere schaffen sich ihr Publikum. Die ersten entsprechen den Bedürfnissen eines durchschnittlichen
natürlichen Empfindens. Die zweiten rufen künstliche Bedürfnisse hervor und befriedigen sie zugleich.

Pag. 101

LITERATUR
Ein Buch ist schließlich nur ein Auszug aus dem Monolog seines Autors. Der Mensch oder die Seele spricht zu sich; der Autor wählt aus dieser Rede aus. Was er wählt, hangt von seiner Eigenliebe ab: er liebt sich in einem bestimmten Gedanken, hasst sich in einem andern; sein Stolz oder sein Vorteil nimmt oder lässt, was ihm durch den Sinn fährt; was er sein möchte wählt aus dem, was er ist. Ein verhängnisvolles Gesetz.
Wenn wir also den ganzen Monolog hatten, so konnten wir auch die präziseste Frage, die sich eine berechtigte Kritik vor einem Werk stellen kann, ziemlich genau beantworten. Kritik, soweit sie sich nicht darauf beschränkt, nach ihrer Laune und ihrem Geschmack zu urteilen – das heißt: von sich selber zu sprechen im Wahn, sic spreche vom Werk -, Kritik als Urteil bestünde in einem Vergleich zwischen dem, was der Autor beabsichtigt, und dem, was er wirklich zustande gebracht hat. Während der Wert eines Werks in der eigentümlichen und veränderlichen Beziehung zwischen diesem Werk und irgendeinem Leser liegt, besteht das eigentliche Verdienst eines Autors in der Beziehung zwischen ihm und seinem Vorhaben: es bemisst sich nach diesem Abstand und nach den Schwierigkeiten, die sich bei der Ausführung des Werks ergeben haben.
Aber diese Schwierigkeiten selbst sind gleichsam ein vorangegangenes Werk des Autors: sie sind das Werk seines »Ideals«. Dieses innere Werk geht dem sichtbaren, tatsächlichen voraus, hemmt und unterbricht es und fordert es heraus. Charakter und Verstand behandeln hier manchmal die Natur und ihre Kräfte wie ein Reitlehrer das Pferd.
Eine Kritik, die ihrerseits vorbildlich wäre, spräche sich einzig über dieses Verdienst aus, denn man kann von jedem nur verlangen, dass er vollbringt, was er sich vorgenommen hat. Man darf einen Geist nur nach seinen eigenen Gesetzen beurteilen, fast ohne sich persönlich einzumischen, wie durch eine Handlung, die unabhängig ist von dem, der sie ausführt, denn es geht nur um den Vergleich von Werk und Vorhaben. (…)

Pag. 103

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Die Syntax ist ein Vermögen der Seele.

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Man hat die Kenntnis einer Sprache allzusehr auf bloße Gedächtnisleistung eingeschränkt. Orthographie als Zeichen von Bildung: dies ist Zeichen der Zeit und Zeichen von Dummheit.
Aber es kommt auf die Handhabung der Sprache an, auf die Verknüpfung der Akte, auf die Erlangung der Unabhängigkeit geistiger Schritte; und, bei ihrer Freisetzung, auf die Freiheit ihrer Zusammenstellung bei der Rede …
Die Syntax ist ein System von Gewohnheiten, die gelegentlich mit vollem Bewußtsein neu zu beleben und zurechtzurücken sich empfiehlt. Bei diesen Materien, wie bei
allen übrigen, muss man sich an die Spielregeln halten, sie aber als das nehmen, was sie sind, ihnen keine übertriebene Autorität zuerkennen. Nicht sich etwas darauf einbilden, dass man sich zahlreiche Ausnahmen vergegenwärtigt. Nicht vergessen, dass in der Epoche der größten Schriftsteller die Freiheiten auch sehr viel großer waren. Ihre Sprache war komplexer, besser gebaut, »organisierter« als die unsere; jedoch gebe ich zu, da6 sie ziemlich uneinig waren in Bezug auf die Zeitenfolge, unsicher hinsichtlich der Kongruenz, unstet und manchmal überraschend in ihrer Art, die Partizipien anzupassen.

Pag. 105-106

IV
Ein geistiges Werk ist von Bedeutung, wenn seine Existenz andere Werke bestimmt, hervorruft, ausschließt, seien sie schon geschaffen oder nicht.
Es macht die Seele empfänglich für Werke ganz anderer Art.
Es ist Anfang oder Ende einer Art Vene…

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Das Menschlichste.
Gewisse Leute glauben, die Lebensdauer eines Werks hange von seiner »Menschlichkeit« ab. Sie bemühen sich wahr zu sein.
Doch welche Werke sind alter als Wundergeschichten? Das Falsche und das Wunderbare sind menschlicher als der wahre Mensch.

Bücher.
Nahezu alle Bücher, die ich schätze, und ausnahmslos alle, die mir nützlich waren, sind schwierig zu lesen.
Das Denken kann von ihnen lassen; aber es kann sie nicht überfliegen.
Einige waren mir nützlich trotz ihrer Schwierigkeit; andere eben deswegen.

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Unter den Büchern nun sind die einen anregend und bringen nur in Bewegung, was ich schon besitze; die andern sind mir Nahrung, deren Substanz sich in meine eigene umsetzen wird. Mein Wesen schöpft daraus Formen des Ausdrucks und des Denkens, oder bestimmte Mittel und fertige Antworten: man muss doch die Resultate der Erfahrungen anderer übernehmen und sich erweitern um das, was sie gesehen haben und wir nicht.

Jeder Dichter wird schließlich soviel taugen, wie er als Kritiker (seiner selbst) getaugt hat.

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Größe der Dichter, mit ihren Worten fest zu fassen, was sie in ihrem Geist nur dunkel geahnt haben.

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Die Inspiration ist die Hypothese, die einen Autor zum bloßen Beobachter macht.

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Der Geist weht, wo er will… Mögen die Geistigen und die Begeisterten uns erklären, warum dieser Geist nicht in den Tieren und so schlecht in den Toren weht.

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Dichterisch ist der Gedanke, der in Prosa gefasst immer noch den Vers verlangt.

Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer banal. Je unverfälschter, um so banaler. Um es nicht zu sein muss man sich anstrengen.
Wenn allerdings ein Mensch wirklich ungebildet oder das Gefühl stark genug ist, um selbst die Banalität, selbst die Erinnerung an das, was einem Umstand gemeinhin entspricht vergessen zu lassen, dann kann dieses blinde Tasten in der Sprache zufällig Worte ergeben, die schön sind.

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Vollendung ist Abwehr. Die Vollendung zwischen sich und den andern stellen. Zwischen sich und sich selber.

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Leicht sein wie der Vogel, nicht wie der Flaum.

Pag. 106-108

Ein Mensch, der nie versucht hat, den Göttern ähnlich zu werden, ist weniger als ein Mensch.

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Denkmal und Ruhm sind Formen des Totenkults, der eine Form der Unwissenheit ist.

Pag. 109

Verbirg deinen Gott.
Nicht die andern, ihre Götter soll man angreifen. Man muss die Götter des Feindes treffen. Zuerst aber muss man sie entdecken. Ihre wahren Götter verbergen die Menschen mit Bedacht.

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Wenn das Ich hassenswert ist, dann wird den Nächsten zu lieben wie sich selber zur schrecklichen Ironie.

Pag. 111

Der Verstand fährt mitten durch Bräuche, Glauben, Dogmen, Oberlieferungen, Schicklichkeiten, Gewohnheiten, Gefühle und Gesetze, wie ein Ingenieur quer durch Walder, Berge und alle Seltsamkeiten und Eigenheiten der Natur stoßt: er durchbohrt, durchschneidet, durchquert sie und erzwingt so den kürzesten Weg

Pag. 116

Das Bewusstsein steigt aus dem Dunkel, lebt von ihm, nährt sich von ihm, und stellt es schließlich undurchdringlicher wieder her durch eben die Fragen, die es sich vermöge und entsprechend seiner Klarheit stellt.

Pag. 117

Die meisten halten nach den ersten Schritten eines Gedankenganges inne. Das ganze Leben ihres Geistes wird nur aus Anfangen bestehen . . .

Pag. 119

Das Denken flieht vor sich selbst in das Schluchzen, das Lachen, die Handlung, die Ohnmacht, die Kehle, die sich zuschnürt, die Faust, die zuschlagt, den Herzstillstand.
Es flieht auch vor sich selber, in das gesprochene Wort, dann ist es aber eine Transformation, die die Wiederaufnahme erlaubt und zur Quelle zurückkehrt. Es ist ein Relais.

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Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren. – Philosophische Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende zurückkommen, im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen.

Pag. 121

Es gibt Lehren, die es nicht vertragen, in eine andere Sprache als die ihrer ursprünglichen Formulierung übersetzt zu werden; sie verlieren dabei jenen Zauber, jene Zurückhaltung, jenes gewohnheitsmassige Vertrauen, dass man ihnen Glauben
schenke, die sie in sich trugen, seit sie sich in Worten kristallisierten, die sich verschleiert und nur ihnen geweiht hatten.

Pag. 123

Verbrechen.
Es gibt Situationen und Ideen, die sich nicht klären lassen, ohne dass wir dabei zugrunde gehen oder zugrunde richten.

Pag. 125

Sich kennen heißt nicht sich bessern.
Sich kennen ist ein Umweg, um sich zu vergeben.

Pag. 126

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Die »Gründe«, die einen von Verbrechen abhalten, sind schändlicher, geheimer als die Verbrechen selber.
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Die Strafe untergräbt die Moral, denn sie schafft für das Verbrechen einen deutlich begrenzten Ausgleich. Aus dem Grauen vor dem Verbrechen macht sie ein bloßes Grauen vor der Strafe; – eigentlich spricht sie frei; sie macht das Verbrechen zu etwas Verkäuflichem und Messbarem: feilschen wird möglich.

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Repressive Justiz. – Wenn jemand, der ein ernsthaftes Geschäft zu verwalten hat, Maßnahmen träfe, die unserm Strafgesetz entsprachen, würde er als verrückt gelten. Die Gesellschaft fasst einen Verbrecher und sperrt ihn fünf Jahre lang ein, ohne an das sechste Jahr zu denken. Dieser Mensch muss leben, aber wovon? – Er hat keinen Kredit mehr, keinen Beruf, keine Mittel. Man lässt ihn wieder frei, nun ist er gefährlicher, unbrauchbarer denn zuvor.
Es sieht so aus, als wurde die Gesellschaft entweder nicht verwaltet oder als wäre sie kein ernsthaftes Geschäft.

Pag. 127

London-Bridge.
Vor einiger Zeit ging ich über die London-Bridge, blieb stehen und betrachtete, was ich so sehr liebe: das Schauspiel eines reichen Wassers, trüb und schwer, mit Wolken von Schlamm, geschmückt mit Perlmuttstreifen; und darauf ein Gewimmel von Schiffen, deren weiße Rauchfahnen, bewegliche Ladebaume und das seltsame Tun – ein Schwanken im Raum von Kisten und Ballen – die Formen belebt und den Anblick beseelt.
Meine Augen zwangen mich stehenzubleiben; ich lehnte mich über die Brüstung, wie unter dem Zwang eines Lasters. Die Wollust des Sehens hielt mich mit der quälenden Gewalt des Durstes vor dem köstlich gewebten Licht gebannt, dessen Reichtum ich nicht auskosten konnte. In meinem Rücken aber fühlte ich ein unsichtbares Volk von Blinden endlos gehen und strömen, in alle Ewigkeit nur auf das augenblickliche Ziel ihres Lebens hingetrieben.
Es kam mir vor, als bestünde dieser Schwarm nicht aus einzelnen Menschen: ein jeder mit seiner Geschichte, seinem einzigen Gott, seinen Schätzen und Schaden, seinem Monolog und seinem Schicksal Im Schatten meines Körpers, meinen Augen entzogen, wurden sie für mich, ohne dass ich es gemerkt hatte, zu einem Strom von Körnern, alle gleich, alle gleicherweise angesogen von irgendeiner Leere, und ich fühlte ihr dumpfes eiliges Strömen eintönig auf der Brücke. Nie habe ich die Einsamkeit so sehr empfunden, in einer Mischung aus Stolz und Angst; befremdende dunkle Empfindung der Gefahr, zu träumen zwischen der Menge und dem Wasser.
Ich fand mich des Verbrechens schuldig, auf der London-Bridge zu dichten.

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Dieses undeutliche Missbehagen kam mir nur unklar zum Bewusstsein. Ich fand darin den bitteren Geschmack einer schwer definierbaren Schuld, als ob ich mich gegen ein verborgenes Gesetz vergangen hatte, ohne jede Erinnerung an meine Verfehlung noch an die Vorschrift selbst. War ich nicht auf einmal aus dem Kreis der Lebenden ausgeschlossen, wo doch ich ihnen das Lehen entzog?
(Zu einer imaginären Opernmelodie fingen diese Worte in mir zu trällern an …)
Wer sich zurückzieht, wird auch schon schuldig. Und wenn ein Mensch sinnt, so sinnt er immer gegen die bewohnbare Welt. Er verweigert der Welt ihr Recht; er rückt den Nächsten unendlich fern.
Dieser dampfende Hafen, dieses glänzende schmutzige Wasser, diese bleichen Himmel mit ihrem Gold und ihrem Ruß, so reich und traurig – sie gewannen über mein Leben eine solche Macht, eine solche Faszination, da6 ich, im Überfluss des Schauens verloren, gestreift von all diesen zielstrebigen Menschen, der ganz andere wurde.
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Wie kommt es, dass einer im Vorübergehen plötzlich von einer solchen Abwesenheit erfasst wird und sich in ihm eine so tiefe Wandlung vollzieht, dass er jäh aus einer beinahe ganz aus Zeichen bestehenden Welt in eine andere fallt, in der fast alles Bedeutung ist? Auf einmal verlieren für ihn alle Dinge ihre gewohnte Wirkung, und das, wodurch man sich zurechtfindet, verblasst. Die Dinge haben keine Abkürzungen und fast keine Namen mehr, während doch im alltäglichen Zustand die uns umgebende Welt sich mit Vorteil durch eine Welt von Zeichen und Schildern ersetzen ließe. Siehst du jene Welt aus Pfeilen und Lettern? … In eo vivimus et movemur.
Manchmal aber geschieht es, dass unsere Sinne dank einer Erregung, die wir nicht begreifen, über unser Wissen triumphieren. Es löst sich auf wie ein Traum, und nun sind wir wie in einem völlig unbekannten Land mitten in der reinen Wirklichkeit. In einem völlig unbekannten Land, wo man eine uns unbekannte Sprache spricht, die für uns nur aus Lauten bestünde, aus Rhythmen, Tonungen, Akzenten, Überraschungen des Gehörs; so ist es, wenn die Gegenstände plötzlich ihren gewohnten menschlichen Wert ablegen und die Seele nur noch der Welt der Augen angehört. Für eine Weile, die Grenzen, aber kein Maß hat (denn leeres Zeichen ist nur noch, was ist, was sein wird, was sein muss), bin ich, was ich bin, bin ich, was ich sehe, anwesend und abwesend auf der London-Bridge.

Vir Bonus
Der Mensch ist von Natur aus „gut“, ist er doch vergesslich, träge, leichtgläubig, oberflächlich.
Diese Worte bezeichnen alle die Leichtigkeit, mit der unsere »Seele« ihre Eindrücke und selbst ihre Kräfte fahrenlässt.
Ein Glück, diese Leichtigkeit. Welch scheußliche Brut wäre eine Menschheit mit unfehlbarem Gedächtnis, stets vorandrängender Tätigkeit, ständiger Geistesgegenwart und immer wachem, kritischem Sinn.
So bereitet sich denn eine schreckliche Zukunft vor, denn all diese schlimmen Tugenden, die das Leben dem Leben schwermachten, werden wachsen und in der Welt immer mehr herrschen – aber nicht in menschlicher Form. Die Maschine, und was sie verlangt, wird die Gewichtlosesten und Ungenauesten in ihre Disziplin zwingen. Sie registriert, sie sieht voraus. Sie präzisiert und sie verhärtet; sie übertreibt die den Lebenden eigene Möglichkeit, zu bewahren und vorauszusehen, und sie strebt danach, das launische Leben der Menschen, ihre vagen Erinnerungen, die dämmrige Zukunft, das ungewisse Morgen in eine Art unveränderter Gegenwart zu verwandeln, vergleichbar dem Leerlauf eines Motors, der seine Normalgeschwindigkeit erreicht hat. Pag. 129-132

bron: Valery, Paul, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Französischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)