
»Es gibt keine Treppen im Meer und auch im Schmerz keine Stufen.«
Reb Youre
»Als Universum, das mit den Wörtern aus dem Schlaf gerissen wurde, in jedem Alter des Buches, macht die Morgenröte die eingeebneten Formen ungleich.«
Reb Tal
»Sehen ist der Durchgang von Spiegeln. Am Ziel ist die Nacht des letzten Gestirns.«
Reb Elar
»Es gibt das BUch GOttes, durch das GOtt sich befragt, und es gibt das Buch des Menschen, das von gleicher Grösse wie das GOttes ist.«
Reb Rida
»Es genügt eine Minute, um sich eines Jahrhunderts bewusst zu werden.«
Reb Kelat
»Mein Buch hat sieben Tage und sieben Nachte, vervielfacht mit so vielen Jahren, wie das Universum brauchte, um sich davon zu lösen.«
Reb Aloum
»Das Buch hat das Alter des Wassers und des Feuers.«
Reb Rafan
(»Die Seele ist der Augenblick von Licht, den das erste Wort zur Explosion bringen kann; so ähneln wir also dem Universum mit unseren Tausenden von Gestirnen auf der Haut, die man nach der Stärke ihrer Strahlung unterscheidet, wie man einen Stern nach der Klarheit seiner Geständnisse bestimmt.«
Reb Aber
»Die Entfernung ist Licht, solange du bedenkst, dass es keine Grenzen gibt.
So sind wir also die Entfernung.«
Reb Mirshak)
Pag. 22
(» Wenn wir für das Ertragen der gleichen Leiden, dem gleichen übereinstimmenden Tod geweiht, erschaffen wurden, warum wurden uns dann die Lippen, warum die Augen und Stimmen, warum die Seelen und Sprachen verschieden gegeben?«
Reb Midrasch)
Im Buch sein. Fragen des Buches bilden, Teil davon sein; die Verantwortung für ein Wort oder einen Satz, für eine Strophe oder ein Kapitel tragen.
Behaupten können: »Ich bin im Buch. Das Buch ist mein Universum, mein Land, mein Dach und mein Rätsel. Das Buch ist meine Atmung und mein Ausruhen.«
Ich erhebe mich mit der Seite, die umgeblättert wird, und gehe mit der Seite zu Bett, die man glattstreicht. Antworten können: »Ich bin von der Rasse der Wörter, mit denen man einen Aufenthalt baut«, dabei stets wissend, dass diese Antwort immer
noch eine Frage, dass jener Aufenthalt unablässig bedroht iost.
Ich werde das Buch anrufen und Fragen hervorrufen.
Wenn GOtt ist, so nur, weil ER im Buch ist; wenn die Weisen, die Heiligen und die Propheten existieren, wenn die Gelehrten und die Dichter, wenn der Mensch und das Insekt existieren, so nur, weil sich ihre Namen im Buch finden. Die Welt existiert, weil das Buch existiert; denn Existieren bedeutet, mit dem Namen zu wachsen.
Das Buch ist das Werk des Buches. Es ist die Sonne, die das Meer gebiert, es ist das Meer, das die Erde enthüllt, es ist die Erde, die den Menschen schnitzt; sonst waren Sonne, Meer, Erde und Mensch Lichtquellen ohne Gegenstand, bewegtes
Wasser ohne Ausgangspunkt noch Rückkehr, übervolle Pracht des Sandes ohne Anwesenheit, Erwartung von Fleisch und Geist ohne Nachbarschaft, hätten sie doch kein Entsprechendes, weder Verdoppelungen noch Gegensätze.
Die Ewigkeit entkernt den Augenblick gemeinsam mit dem WOrt.
Das Buch vervielfacht das Buch.
Pag. 27-28
GOtt ist ein versteckter Docht, der durch dich Helligkeit sein wird; denn unter dem Glas wartet er auf die Feuergeste, die ihn zu deiner Lampe machen wird.
Pag. 31
Vernachlässige nicht das Echo; denn von Echos lebst du.«
Reb Prato
Pag. 35
Die Geduld des Schreis ist grenzenlos. Sie überlebt den Märtyrer.
Die Geduld des Schreis ist wertlos.
Keine Institution, keine Regierung hat ein Monopol auf den Schrei.
Kein Steinbruch, kein Grat, auch keine Woge.
Hier, das anderswo ist, an unsere Knöchel gekettetes Anderswo, ist es kein Land, das der Schrei in Frage stellt, noch ein Kontinent, sondern die Welt; nicht einen Menschen, sondern alle. Es ist kein Rosenkranz, den der Schrei bezichtigt, noch eine
Kapelle, sondern Hunderte von Kapellen und Millionen von Rosenkränzen; es ist nicht eine Hymne oder ein Gebet, nicht ein Gras oder eine Mondsichel.
Pag. 45
Wo ist der Weg? Stets muss der Weg gefunden werden. Ein weißes Blatt ist voll von Wegen. Man weiß, dass es nötig sein wird, sich von links nach rechts zu wenden. Man weiß, dass man viel gehen wird und viel Mühe haben. Und immer von links nach rechts. Man weiß auch von vornherein – manchmal-, dass man die Seite, wenn sie van Zeichen geschwärzt ist, zerreißen wird. Den gleichen Weg wird man zehnmal, hundertmal wiederholen; den Weg des Nackens, der Nase, des Mundes; den Weg der Stirn und der Seele. Und alle diese Wege haben ihre eigenen Wege. – Sonst waren sie keine Wege.
Wie kommt es, dass wir, wenn wir vor uns die Spur unseres Weges – oder unserer möglichen Wege – gezeichnet haben, im allgemeinen denjenigen einschlagen, der uns van unserem Ziel entfernt, der uns anderswohin führt, wo wir nicht sind – aber
vielleicht sind wir auch dort? -, wenn nicht gerade die Begeisterung uns leitet, wenn wir nicht gerade im Zustand des Aufnehmens oder der Gnade sind – aber das ist selten, sogar sehr selten -, und die es sind – im Zustand der Gnade -, wissen es nicht; ich meine, zu der Zeit, wo sie es sind. Zumal im Zustand der Gnade zu sein oft bedeutet, den Weg zu verlieren, den gewohnten Weg, um einen der heimlichsten, der geheimnisvollsten zu gehen.
Pag. 49
In seiner Jugend schon war er in die schmerzliche Lehre des Todes gegangen. Zum ersten Mal hatte er ihn van nahem gesehen. Er stand an seinem Bett. Der Tod spricht in unserer Sprache mit uns. Um sich verständlich zu machen, stellt er sich auf unsere Ebene – oder erhebt uns auf die Ebene des Zusammenbruchs, bis er uns seine Stimme leiht. Über das Bett seiner Schwester geneigt, hatte er gehört, wie sie sprach, seinem jugendlichen Aufstand entgegenkam und ihm die Rückseite der
Dinge offenbarte, die zugleich die Außenseite ist, je nach dem Willen der Gegebenheiten.
Um der Sterbenden zu antworten, hatte er sich wie sie der Worte bedient, die der Tod flüsterte – die einzigen, die sie vereinen konnten. – Als sie schwiegen, begriff er, dass er sie für immer verloren hatte.
Pag. 52
»Wer in sich an den Seiten seines GOttes lebt, an den Seiten des Lebens und des Todes van GOtt, lebt in zwei aneinandergrenzenden, durch eine Tür getrennten Räumen. Ergeht vom einen in den andern, um ihn zu feiern. Er geht van der Anwesenheit im Bewusstsein zur Anwesenheit in der Abwesenheit. Er muss
gänzlich sein, um danach zu streben, nicht mehr zu sein, will sagen, mehr zu sein, ganz zu sein, denn das GAnze ist Abwesenheit.«
Pag. 53
(Die ersten Satze eines Werkes sind immer mit Hoffnung beladen; unterwegs schmeichelt der Zweifel sich ein und treibt Knospen.
Die doppelte Verzweiflung steht am Ende; die des Schriftstellers und die des Zeugen.)
Pag. 56
Und ihr wisst, dass die Seele ein Wort zum Blütenblatt hat.«
Pag. 57
Der Durst ist unser Los
Pag. 64
Alle Gesichter sind das Seine; deswegen hat ER kein Gesicht.
Reb Alen
Pag.68
»Der Glaube steht am Ende des Denkens, stellte Reb Nahum fest. Man kommt instinktiv dort an, oder vom Scheitern getrieben.
(…)
Welches Argument konnte eine Kontroverse befrieden oder gar beenden, wenn jeder Begriff ein Nest ist, in das sich ein Vogel des Zweifels duckt?«
Und Reb Mathias: »Du hast deine Sicherheit im Wald meiner Zweifel gefunden. So trug auch ich eine Sicherheit, die mir entflohen ist. Ich sterbe an der Unsicherheit.«
Pag. 69
GOtt ruht im Menschen
wie der Mensch zu Füssen des Baumes
und der Schatten ist Mensch durch GOttes Willen
im Baum und Baum im Menschen.
Pag. 75
Die Erinnerung GOttes – die sich in der Anwendung Seines Gesetzes entwickelt – verwandelt den Gläubigen in einen großzügigen Feigenbaum, den man am Kauschen seiner Blätter und an seinem besonderen Duft erahnt.
Der Schatten ist Ort und Werden GOttes auf der unerbittlichen Bahn des Lichtes.

bron: Jabès, Edmond, Das Buch der Fragen. Aus dem Französischen von Henriette Beese, Frankfurt am Main 2019, (Suhrkamp)