Kürze.
Handeln ist eine kurze Tollheit.
Das Kostbarste des Menschen ist eine kurze Epilepsie.
Das Genie hängt an einem Augenblick.
Liebe entsteht auf einen Blick; und ein Blick genügt, ewigen Hass hervorzubringen. Und wir sind nichts, wenn wir nicht imstande waren und imstande waren, einen Augenblick außer uns zu sein.
Dieser kurze Moment, da ich außer mir bin, ist ein Keim oder drangt wie ein Keim hervor. Die übrige Zeit lässt ihn sich entwickeln oder zugrunde gehen.
Eine zum Erstaunen mächtige Spannkraft drängt sich in den Samen und in einzelnen Minuten zusammen. Es gibt Teilchen der Zeit, die sich voneinander wie ein Pulverkorn von einem Sandkorn unterscheiden. Nach außen sehen sie fast gleich aus, doch ihre Bahnen sind nicht zu vergleichen.
Pag. 19
Macht und Geld haben den Zauber des Unbegrenzten; es ist nichts Genaues eigentlich, nicht eine bestimmte Fähigkeit des “Handelns, die “man ausdrücklich zu besitzen wünscht. Niemand begehrt leidenschaftlich nach einer vernünftigen Macht; auch nicht nach der Ausübung der Staatsgewalt als eines klar umgrenzten, regelmassigen Berufs; noch nach Geld als dem Gegenwert genau bestimmter Dinge. Hingegen ist es das Unbestimmte der Macht, dem mein Wunschgilt – weil ich nie weiß, was ich vielleicht einmal begehren konnte. Ich gehe nicht dem Bemessenen nach und will nur das kaufen, was nicht im Handel ist.
Drum sieht die Welt in einem sehr mächtigen oder sehr reichen Menschen immer den Spider, der Gluck hat. Man halt einen außerordentlichen Glücksfall für den Ursprung solcher Vermögen. Keine Anstrengung, keine einzelne Leistung scheint jemals zu solcher Große fuhren zu können, der etwas gleichsam Transzendentes anhaftet.
So ist es denn also den Trieb zum Missbrauch der Macht, der so leidenschaftlich an die Macht denken lässt. Macht ohne Missbrauch verliert an Reiz.
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Schande umgibt den, der die allernotwendigsten Arbeiten verrichtet. Der Vornehmste findet am meisten Hilfe.
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Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.
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Ich kannte einen merkwürdigen Menschen, der alles glaubte, was er in der einen Zeitung las, und nichts, was in den andern stand. – Es war ein Original; seither im Gefängnis.
Pag. 21-22
Keine Neigung ist naiver als diejenige, die alle dreißig Jahre zur Entdeckung der »Natur« führt.
Es gibt keine Natur. Oder genauer: was man als gegeben annimmt, ist allemal, früher oder später, hergestellt worden. Der Gedanke, dass man Dinge wieder in ihrer Ursprünglichkeit erfasst, ist von erregender Kraft. Man stellt sich vor, es gebe ein solches Ursprüngliches. Doch das Meer, die Baume, die Sonnen – und gar das Menschenauge -, all das ist Kunstgriff.
Die Veredelung und das Bedürfnis nach Edlem bei den Klassikern liegt nicht fern vom Hang zum Natürlichen. Beide Neigungen (ungleich an Scharfsicht und Wahrhaftigkeit) setzen voraus, dass die Ursprünge hinlänglich vergessen sind.
Ein Spieß ist edler – und mehr Natur als ein Gewehr.
Ein Paar Stiefel sind vornehmer als ein Paar Stiefeletten. Dass der Mensch vergisst; dass er nicht mehr weiß; dass er untätig ist; dass ihm alte Bedingungen des Menschseins entfallen sind – führt zum »Edeln« und zur »Natur«, und . . zum sogenannten »Humanen«.
Pag 23-24
In jeder Gesellschaftsordnung tritt einer auf, der als Verwalter der vagen Dinge eingesetzt ist. Er destilliert sic, gliedert sie, versieht sie mit Verordnungen, Methoden, Einweihungsriten, mit Gepränge, Symbolen, Versmaßen, »geistlichen « Übungen – bis sie die Gestalt ursprünglicher Gesetze annehmen. – Es ist der Priester, der Magier, der Dichter, der Geheime Zeremonienmeister; auch der Demagoge und der Held. Aus Dampfen errichten sie Gebäude, die nicht fest, doch ewig stehen. Jeder Angriff vertreibt sie, keiner zerstört sie.
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Das Geschäft der Intellektuellen ist es, mittels Zeichen, Namen, Symbolen alles aufzurühren, ohne das Gegengewicht realer Handlungen. Das macht ihre Reden verblüffend, ihre Politik gefährlich, ihr Vergnügen oberflächlich. Es sind soziale Reizmittel, mit den Vorteilen und Gefahren aller Reizmittel.
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Der Redner und der Sophist: Salz der Erde. Götzendiener sind alle übrigen, die Wörter für Dinge, Satze für Handlungen halten.
Aber die ersteren nehmen ihre ganze Gruppe wahr, in ihnen ist das Reich des Möglichen.
Daraus folgt, dass der Mann der klaren, großen, kühnen Tat nicht sehr verschieden ist von diesen meisterlichen und freien Gestalten. Sie sind innerlich miteinander verbrüdert.
(Napoleon, Cäsar, Friedrich – Literaten, ungemein begabt, um Menschen und Dinge zu manipulieren – durch Worte.)
Pag. 25
Ich sehe den »modernen Menschen« mit einer Idee von sich und der Welt einhergehen, die nicht länger eine bestimmte Idee ist. – Er kann nicht mehr ohne eine Vielzahl von Ideen auskommen; ohne diese Vielfalt widerstreitender Sichtweisen konnte er schwerlich leben; es ist ihm unmöglich geworden, ein Mensch mit einem einzigen Gesichtspunkt zu sein und tatsächlich einer einzigen Sprache, einer einzigen Nation, einer einzigen Konfession, einer einzigen Physik anzugehören.
Dies sowohl infolge seiner Lebensweise als aufgrund der gegenseitigen Durchdringung der verschiedenen Losungen.
Außerdem büßen die Ideen, selbst die grundlegenden, den Wesenscharakter allmählich ein und nehmen den Charakter von Werkzeugen an.
Pag. 25-26
Die Unmenschliche.
Die Wissenschaft hat das gute Gewissen des Gemeinsinns und des gesunden Menschenverstandes zerstört. Beide behaupten ihr Ansehen nur noch im Bereich des Unbestimmten. Sie hat das Denken dazu gebracht, immer mit Überraschungen zu rechnen, auf allen Gebieten, wo Sprache und Gespräch nicht alles bedeuten. Sie entwertet unsere naiven Bilder und selbst unsere Vorstellungskraft, die von unseren körperlichen Erfahrungen und Gewohnheiten herrührt. Sie lässt uns glauben, dass unendlich viel Unvorstellbares sich abspielt, wovon das Vorstellbare einen winzigen, völlig untergeordneten Bruchteil ausmacht; und sie entzieht dem Menschen sogar seinen Begriff van Wissen: Wesenheiten, Prinzipien, Kategorien, Deduktionen – diese Trugbilder der Ordnung und absoluten Zentralisation einer Erkenntnis, die ihre Reichweite im Voraus zu errechnen strebt und behauptet. Sie führt zur Formulierung van Aussagen, die dem Gemeinsinn unerträglich sind, weil sie sich in den Formen der herkömmlichen Sprache, denen jener aufs engste verhaftet ist, absonderlich ausnehmen.
Dies alles ist höchst unangenehm für den gesunden Menschenverstand, der ja ein statistisches Gefühl ist, eine Erwartung oder Wahrscheinlichkeit, die auf verworrenen Erfahrungen beruht; auf den Vorstellungen, die verwendbar sind; auf der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich etwas vorzustellen; auf einer Logik, die nur folgert und die Voraussetzungen für gesichert halt. Die Evidenz ist nur das Erschauen eines naiven Bildes. Was ist evidenter, als dass es keine Antipoden gibt? Doch welches Bild ist nicht naiv?
Mit dem Einwand des gesunden Menschenverstandes weicht der Mensch vor dem Unmenschlichen zurück, denn im gesunden Menschenverstand liegt nichts als der Mensch, seine Vorfahren, die Maßstabe des Menschen und die menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen. Doch die Forschung und selbst die Machte rücken vom Menschen ab. Die Menschheit wird sich daraus retten, so gut sie kann. Die Unmenschlichkeit hat vielleicht eine große Zukunft…
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Niemand kann mehr ernsthaft vom Universum reden. Dieses Wort sucht seine Bedeutung. Auch der Name Natur wird seltener. Das Denken überlässt ihn der Sprache. All diese Wörter sind für uns, mehr und mehr, nur noch Wörter. Denn der Abstand zwischen dem Wörterbuch der Umgangssprache und dem Verzeichnis der klaren, zur Fixierung und Kombinierung präziser Erkenntnisse sorgfältig zubereiteten Begriffe beginnt fühlbar zu werden.
Schon liegt Dämmerung über dem Vagen, tagt das Reich des Unmenschlichen, das hervorgehen wird aus der Klarheit, Strenge und Reinheit in den menschlichen Dingen.
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Die Sprache ist unbedacht – vergesslich. Die sukzessiven Bedeutungen eines Wortes wissen nichts voneinander. Sie stammen van Assoziationen ohne Erinnerung ab, und die dritte weiß nichts von der ersten.
Pag. 26-27
Es gibt die Wissenschaft von den einfachen Dingen und die Kunst der komplizierten Dinge. Wissenschaft, wenn die veränderlichen Größen aufgezählt werden können und ihre Zahl geringfügig ist, wenn ihre Kombinationen klar und deutlich
unterschieden sind.
Man strebt dem Zustand der Wissenschaftlichkeit zu, man wünscht ihn herbei. Der Künstler erzielt gute Ertrage für sich. Der Vorteil der Wissenschaft beruht in der Kunst, Wissenschaft zu erzeugen
Pag. 27-28
Alle Kritik, aller Tadel lauft auf den Satz hinaus: Deshalb spielt eine Grausamkeit mit, das heißt eine Unempfindlichkeit, eine wesentliche Ungleichheit – wie zwischen einem fallenden Stein und dem von ihm erschlagenen Tier.
Man kann unmöglich verstehen und zugleich strafen. Wenn der Richter sich nicht in den Schuldigen versetzt, wird er selbst gerichtet durch die Abgründe des Schuldigen, die die gleichen sind wie die seinen. Dringt er aber ein in das Innerste der Schuld – wo ist dann der Schuldige, wo der Richter?
Pag. 28
Wie wenig man sich kennt, ermisst man, wenn man sich wieder liest.
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Viele Schriftsteller betrachten ihre Kunst nicht als etwas, das man beherrschen muss – sine qua non -, sondern als Hasardspiel, in dem man sein Glück versuchen darf. Sie verlassen sich ganz auf das Gluck und geben sich den Wert, den es ihnen zu verleihen geneigt ist. (Sie’. werden sogar noch ein wenig hinzugeben.)
So gibt es zwei Klippen, zwei Arten irrezugehen und zu scheitern: die allzu genaue Anpassung an das Publikum; die zu enge Treue zum eigenen System.
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Entwurf zu einem Vorwort.
Seht da, unsere Mythen, unsere Irrtümer, die wir mit solcher Mühe gegen die frühern aufgerichtet haben! . . .
Pag. 30
Dichter ist, wer durch die eigentümliche Schwierigkeit seiner Kunst auf Einfälle kommt – und der ist es nicht, bei dem sie ihretwegen ausbleiben.
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Dichter. – während er seine Verse macht, weiß er eine Zeitlang nicht, ob er ganz nah am Ziel ist oder noch nichts getan hat. Beides trifft zu; und dieser Zustand dauert oft fast so lang wie die ganze Arbeit.
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Mancher Dichter gleicht einem, der mühsam und wie besessen auf der ganzen Erde nach Felsen sucht, die zufälligerweise eine menschenähnliche Form haben.
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Die Pythia vermochte kein Gedicht zu diktieren. Wohl aber einen Vers – das heißt eine Einheit – und dann wieder einen. Diese Göttin der Kontinuität ist selber außerstande fortzufahren.
Und die Lücken füllt die Diskontinuität.
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Mögen uns die Götter vor prophetischem Delirium bewahren!
In solcher Verzückung sehe ich vor allem die schlechte Leistung einer Maschine – die unvollkommene Maschine.
Eine gute Maschine ist geräuschlos. Die vom Zentrum entfernten Teile versetzen die Achse nie in Schwingung. – Sprecht, ohne zu schreien.
Also keinerlei Verzückung – denn sie befördert schlecht.
Pag. 32
Die Verwendung des Todes in der Literatur stellt eine Bequemlichkeit dar. Sie beweist einen Mangel an Tiefe. Aber die meisten verlegen das Unendliche in das Nichts.
Pag. 39
Inspiration.
Angenommen die Inspiration wäre das, wofür man sie hält – was absurd wäre, weil es besagen wurde, dass unter dem Diktat einer Gottheit ein ganzes Gedicht entstehen könnte -, so folgte mit ziemlicher Genauigkeit daraus, dass der Inspirierte, ebensogut wie in der eigenen, in einer fremden Sprache schreiben konnte, die er gar nicht zu kennen brauchte.
(So sprachen einst die Besessenen, die dabei gänzlich unwissend sein konnten, in ihren Anfällen hebräisch oder griechisch. Und ebendies munkelt man auch von den Dichtern …)
Der Inspirierte brauchte ebensowenig Kenntnis zu haben von seiner Zeit oder vom Stand des Geschmacks in seiner Zeit oder van den Werken seiner Vorgänger und Rivalen – es sei denn, man verstünde unter Inspiration eine so bewegliche, geordnete, scharfsinnige, unterrichtete und berechnende Kraft, dass man sie ebensogut Intelligenz oder Kenntnis nennen könnte.
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Wer »Werk« sagt, sagt: »Opfer«.
Das grosse Problem ist zu entscheiden, was zu opfern ist:
man muss wissen, wer, was gefressen wird.
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Was mich – gegebenenfalls – interessiert, ist nicht das Werk, ist nicht der Autor – ist das, was ein Werk zu einem solchen macht.
Jedes Werk ist das Werk von ganz anderen Dingen als einem »Autor«.
Pag. 32-33
Was man an Können in seiner Kunst erwirbt, verliert man an »Persönlichkeit« – zunächst . . . Jeder Zuwachs von außen wird mit einer Einbüße am (ursprünglichen) Selbst bezahlt.
Der Mittelmäßige findet den Weg zu seiner eigenen Natur nicht mehr; einige aber kehren zurück, bewaffnet mit Werkzeugen, die zu Organen geworden sind, und stärker denn je, ganz sie selber zu sein.
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Ich bewunderte dieses Werk. Ich fühlte mich dazu nicht imstande, gedemütigt … Und dabei fühlte ich, dass ein gewisses Maß von Dummheit nötig war, um es zu schreiben – um es auszudenken.
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Originalität. – Es gibt Leute – ich habe solche gekannt -, die ihre »Originalität« bewahren wollen. Dadurch werden sie zu Nachahmern. Sie gehorchen denen, die ihnen den Glauben an den Wert der »Originalität« beigebracht haben.
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Ein Schnabelvoll.
. . . Dieses ist eines jener Bücher, aus denen die Dummen holen, was der Autor geistreichen Leuten verdankt.
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Worin ein Mensch nicht nachgeahmt werden kann, darin kann er sich selber nicht nachahmen. Wo ich unnachahmlich bin, bin ich es für mich.
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Die Nachahmung, die man von einem Werk herstellt, entlastet es van dem, was nachahmbar ist.
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Sich selber nachahmen.
Es ist für den Künstler wichtig, dass er sich selber nachzuahmen versteht. Nur so kann er ein Werk aufbauen – das heißt ein Unternehmen wagen, das sich notwendig gegen die Beweglichkeit und Unbeständigkeit des Geistes, des Lebens, der Stimmung richtet.
Der Künstler nimmt seinen glücklichsten Zustand zum Vorbild. Das Beste, was er nach seinem Urteil gemacht hat, dient ihm als Maßstab.
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Es ist nicht immer gut, man selber zu sein.
Pag. 34-35
Valery, Paul, Windsriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Franszösischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)
