Paul Valéry Windstriche 3

Die Verwendung des Todes in der Literatur stellt eine Bequemlichkeit dar. Sie beweist einen Mangel an Tiefe. Aber die meisten verlegen das Unendliche in das Nichts.

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Eine reizende, rührende, »tief menschliche« Idee (wie die Esel sagen) entspringt manchmal dem Bedürfnis, zwei Strophen, zwei Partien miteinander zu verknüpfen. Es galt, eine Brücke zu schlagen oder Faden zu spinnen, die den Fortgang des Gedichts sichern. Und weil zum Menschen selbst oder zum Menschenleben gehört, dass jederzeit eine Fortsetzung möglich bleibt, erhalt dieses formale Bedürfnis eine Antwort – für den Autor, der nicht darauf gefast war, eine zufällige und glückliche Antwort -, und eine lebendige (wenn einmal an der rechten Stelle eingesetzt) für den Leser.

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Die große Anziehungskraft der klassischen Kunst liegt vielleicht in der Folge der Verwandlungen, welche für die Darstellung unter den auferlegten Bedingungen sine qua non nötig sind.
Probleme der Versifikation. Dies zwingt, was man zu sagen hat, von sehr hoher Warte aus zu betrachten.

Pag 39

Das Urteil eines Gläubigen über einen Ungläubigen und umgekehrt zählt nicht. Ein empfänglicher Musikhörer und einer, der sie nur als Lärm vernimmt, können is morgen früh diskutieren.

Die Debatte über das Religiose findet nicht mehr zwischen Religionen statt, sondern zwischen denen, die glauben, dass glauben etwas bedeutet, und den anderen.
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Auf die Spitze getrieben oder mit letzter Gründlichkeit verfolgt, führt jede Meinung, These, Empfindung unweigerlich zur Zerstörung des Menschen.
Würden die Verbrecher den Widerstand leisten, der ihrem Wagnis entspricht . . . Wären die ersten Christen mit letzter Kraft Christen gewesen, so gäbe es keine Christen mehr; – und wäre ihnen jedermann gefolgt, so bliebe niemand mehr auf Erden.

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Die beiden spiegelbildlichen Lehren, die eine, die vom ewigen Leben handelt, und die andere, die uns ein für allemal zugrunde gehen lässt, führen zum selben Ergebnis: beide sprechen den menschlichen Erfindungen und Schöpfungen jegliche Bedeutung ab. Die eine vergleicht die endlichen Werke mit dem Unendlichen und macht sie dadurch zunichte. Die andere lässt uns auf null zustreben und mit uns alles übrige. Wären allesamt echte Christen oder allesamt echte Heiden, so wären alle tot, tot, ohne irgend etwas geleistet zu haben.

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Man spricht am liebsten von dem, was man nicht weiß. Denn daran denkt man, darauf richtet sich die Tätigkeit des Geistes, sie kann sich nur darauf richten.

Pag. 44-45

Herz der Nacht.
Unterbrochene Nacht, fast zu schön, mit zuviel Schwärze vermischt und zu scharfen Lichtern; Wunder an Besitznahme und Abwesenheit, Nacht ganz aus herrlichen Abständen;
kein Augenblick, der nicht alles oder nichts wäre.
Im Innersten der Nacht, im Herzen der Nacht.
Das Erwachen des Geistes klar entgegengesetzt der Substanz der Nacht:
Bemerkenswert allein, abgehoben, ausgeruht.
Von der Nacht geschieden, ihre Kräfte klar scheidend!
Dann erleuchten ihn die Finsternisse.
Das Schweigen spricht zu ihm ganz nah.
Der Körper dann, gewichtslos in der Stille,
Der sich bis zu den Finger- und Fußspitzen fühlt;
Und die Sprache ganz gegenwärtig,
Das Gedächtnis ganz gegenwärtig,
Alle Bewegungen und Operationen des Geistes
Spürbar und sichtbar;
Die Idole wohlgeordnet
Auf allen Stufen, in jeder Ordnung und Klasse oder Kategorie
Die Erkenntnis selbst erleben, und keine Gegenstände…

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Das Gehör.
Merk auf dieses feine, unaufhörliche Geräusch; es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.

MORGEN

Erwachen.
Wie mild das Licht, wie schon das lebendige Blau beim Erwachen!
Das Wort »rein« öffnet meine Lippen. Dies ist der Name, den ich dir gebe.
Hier, eins mit dem Tag, der noch nie war, sind die vollkommenen Gedanken, die niemals sein werden. Im Keim, der für immer Keim bleibt, der höchste umfassende Grad von Dasein und Tat.
Das Ganze ist Keim – das Ganze, noch nicht in seinen Teilen empfunden-, das Ganze, das beim Erwachen sich golden entwirft, noch durch keine bestimmtere Regung verstört. Ich entstehe von überall her, weit weg von diesem Selbst, in jedem Punkt, wo das Licht funkelt, an diesem Rand, in dieser Falte, auf diesem Faden eines Fadens, in dieser klaren Wasserlache. Noch bist du, mühelos, nur eine köstliche Wirkung des Lichts und des Lärms, ein Wunder aus Feuer, Seide, Schiefer und Dampf, Ineinander zusammenfließender einfacher Laute, Vergoldung und Murmeln, o Morgen!

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Warum kann ich den Augenblick nicht hinauszögern, da ich zu mir komme, nicht säumen im umfassenden Zustand? Warum sollte ich diesen Morgen gerade mich wählen? Was zwingt mich, meine Freuden und meine Leiden wieder an mich zu nehmen? Und wenn ich nun meinen Namen, meine Wahrheiten, meine Gewohnheiten, meine Ketten wieder fahrenließe gleich Traumen der Nacht – wie einer, der verschwinden und ein neuer Mensch werden will, am Ufer des Meers sorgfältig seine Kleider und Papiere zurücklässt? Werde ich nicht jetzt von den Träumen belehrt, vom Erwachen ermahnt? Und der Sommermorgen, ist er nicht der Augenblick, nicht der gebieterische Rat, ein anderer zu werden? Der Schlaf hat das Spiel durcheinandergebracht, die Karten gemischt; und die Träume haben alles vermengt, alles van neuem in Frage gestellt .. .
Das Erwachen kennt eine Zeit der Geburt, der Geburt aller Dinge, bevor irgendeines entsteht. Da ist eine Nacktheit, ehe man sich wieder ankleidet.

BAUM
Der Baum singt wie der Vogel.
Plötzlich ein Windstoß. – Heftiger Wind.
Das kommt, beruhigt sich, kommt wellengleich wieder.
Der Wind bringt dem großen Baum eine Fülle von Gedanken, er überrascht ihn, verwirrt ihn, greift ihn von allen Seiten an, erschüttert ihn. Bekleidet ihn mit der Rückseite seiner abertausend zahlreichen Blätter. Vermählt sich mit ihm, verwandelt ihn in ein Rauschen, das anschwillt und abflaut und ihn zu einem verlorenen Bächlein macht. Das führt zum reinen Traum vom Bach.
Der Baum träumt ein Bach zu sein;
Im Winde träumt der Baum ein frischer Quell zu sein
Und wird, mehr und mehr, zum Gedicht, zum reinen Vers.
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WIEDERERLANGUNG I
Vom goldenen Dunst des Horizonts hebt sich das Meer allmählich ab; und van den geröteten Bergen, vom sanften, verlassenen Himmel, vom Gewirr der Blätter, von den Mauern, den Dächern und Dämpfen, von der Welt endlich, die sich neu erwärmt und die ein Blick umfasst – Bucht, Fluren, Morgenrot, bezaubernden Feuern -, wendet mein Auge sich ungern ab und wird wieder zum Sklaven meines Tischs. Eine ganze andere Welt, eine ganz andere Welt ist da, die Welt der Zeichen auf dem Tisch! – Möge die Arbeit mit uns sein! Welche seltsame Verengung des Gesichtskreises, Parenthese im Raum Monolog im Weltall ist diese Seite, bedrängt von Schriftzeichen, mit Streichungen und Zusätzen übersät! Ich sehe Linien zwischen anderen Linien, und endlos einander folgende Versuche sind gleichsam auf dem Papier entworfen. Hier kettet sich der Geist an sich selbst. Die Gaben, die Fehler, die Verbesserungen, die Rückfälle: erscheint nicht auf diesem Blatt, das den Flammen bestimmt ist, der ganze innere Mensch? Er hat sich versucht, sich berauscht, sich befreit, sich erschreckt, sich verstummelt, er fasst sich wieder, er liebt sich und wird sich zum Gott.
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WIEDERERLANGUNG II
Geist. Reine Erwartung, ungewisse Ewigkeit, Bedrohung all dessen, was ich wünsche. Schwert, das einer Wolke entfahren kann, wie spüre ich sein Nahen! Ein unbekannter Gedanke ruht noch in den fallen und borgen meiner Stirn. Noch bin ich allem Denken entrückt; van allen Wörtern, von allen Formen, die in mir sind, gleich entfernt. Mein unbewegtes Auge spiegelt einen leblosen Gegenstand; mein Ohr hört nicht, was es hört. O meine Gegenwart ohne Gesicht, welcher Blick ist der deine, ohne Dinge, ohne Menschen, welche Macht, unbestimmbar wie die Gewalt in der Luft vor dem Gewitter! Ich weiß nicht, was sich bereitet. Ich bin Liebe und Durst und ohne Namen. Denn es ist kein Mensch im Menschen und kein Ich im Ich. Aber ein Geschehen ohne Sein, eine Wirkung ohne Ursache, ein Akzidens, das meine Substanz ist, naht. Das Ereignis ohne Dauer und Form greift jede Dauer und Form an. Es macht das Unsichtbare sichtbar, das Sichtbare unsichtbar. Es verzehrt, wer es anzieht, es erleuchtet, wen es zerbricht … Da bin ich, bin bereit. Triff mich. Da bin ich, den heimlichen Blick auf den blinden Punkt meiner Erwartung gerichtet . . . Dort bricht manchmal ein großes Ereignis hervor, das mich erschafft.

MEERE
INSCHRIFT AUF DAS MEER
Einzig Unberührtes, Ältestes auf dem Erdball,
Was es berührt, zerfällt;
Was es verlässt, ist neu;
Das sich zurücknimmt zwischen zwei Zeiten der Hingabe,
Das sich hingibt und zurückzieht meeressalzen.
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Wellen.
Der Wind riffelt die große Welle mit kleinen schrägen Wellen. Die Haut der großen Grundwelle wird regelmäßig gefurcht durch die oberflächliche Wirkung der Brise, die die Wasserfläche leicht erregt; und die mächtige rollende Form, die von weit her kommt, vervielfältigt sich, wird eine facettenreiche Masse, eine solide Kristalline Gestalt in ständiger Verwandlung, von wo das Geräusch siedender Materie ausgeht, durch zahllose tiefinnere Schreie, Zerreißen und Zerknittern, Fälteln und Durchwirbeln der Wasser unter sich.
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Wiederholte Beobachtung.
Menge bedeutet dem Geist nichts, den Sinnen alles. Dem Geist nichts; der Geometer beachtet sie nicht und lässt sie in den Formen die er hervorbringt, aufgehen.
Aber die Sinne: das Ohr, das Auge, aber die empfindende Seele sind aufgeregt, außer sich, zermalmt van dieser ewigen Wiederholung.
Der Geist verabscheut die unzählbare Wiederkehr, und nun grüßen ihn die Wellen, die immer wieder zugrunde gehen, den ganzen Tag…

Pag. 52- 56

WIE AM UFER DES MEERS . . .
Wie am Ufer des Meers
An der trennenden Front,
An der Grenze des Pendelschlags
Die Zeit gewahrt und entzieht,
Anstößt, ausbreitet,
Auswirft und verschluckt,
Ausliefert, beklagt,
Anrührt, fällt, küsst und stöhnt
Und wieder zur Masse,
Wieder zur Mutter kehrt,
Und immer neu sich besinnt!
An der gepeitschten Front des Meers
Verliere ich mich im Tal zwischen zwei Wellen
Diese Zeit, ach, begrenzt
Und unendlich . . .
Was umschließt diese Zeit?
Was verengt, was brüstet sich?
Was bemisst und verweigert und entzieht mir diese Zeit?
O Welle, wuchtige,
Zu überfluten machtlos!
Der Verlauf deines Gangs: immer neu dich gewinnen,
Noch einmal hinabrollen, nicht zu zerschellen
Den unversehrten Leib des Wassers!
Das Meer bleiben, niemals verlieren
Die Macht der Bewegung!
Hinabrollen,
Knirschend, wider Willen,
Sich begrenzen, sich sammeln,
Sich vereinen mit unveränderlicher Zahl,
Also kehrt die Idee in den Körper,
Also sinkt der Gedanke zurück
Van dem Punkt, wohin wagend sein Grund
Ihn heimlich erhoben hat,
Er kann nicht anders, er muss zuweilen
Zurück zur reinen, einfachen Gegenwart,
Zu allen Dingen außer ihm selber,
Obwohl er’s nicht selber ist,
Nie lange Zeit er selbst,
Nie Zeit genug,
Mit den Dingen allen zu Ende zu kommen,
Und nicht, eine neue Zeit zu beginnen …
Nur immer ein anderes Mal,
Das nächste und wieder das folgende Mal,
Unendliche Male!
Unübersehbare Male!

Unendlich vernimm und horche
Auf das Leid der Erwartung, den Ruck der Zeit,
Das ständige Wiegen der Zahlen,
Die Einheit, die Größe,
Vergeblich und heftig die Schattenstimme,
Die wuchtige Stimme des Meers,
Sie wiederholt nur immer:
Mein Gewinn und Verlust, mein Verlust und Gewinn.
Oh! Wirf eine Zeit aus der Zeit!’

Mehr als einsam am Ufer des Meers
Wie die Welle geb’ ich mich hin
Eintöniger Verwandlung
Van Wasser in Wasser
Von mir in mich.

Pag. 59-60

Das Werk verändert den Autor.
Bei jeder Bewegung, die es aus ihm herausholt, erfährt er eine Veränderung. Ist es vollendet, wirkt es nochmals auf ihn. Er wird dann etwa derjenige, der fähig war, es zu erzeugen. Hinterher wird er irgendwie zum Erbauer des verwirklichten Ganzen – das ein Mythos ist.
Ebenso bringt es ein Kind schließlich fertig, seinem Vater die Idee und gleichsam die Form und Gestalt der Vaterschaft zu geben.

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Der Gegenstand der Literatur ist so unbestimmt wie der des Lebens.

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Ach, sagt der große Künstler, dieses Werk, das ich geschaffen habe. dieses für bewundernswert erachtete Werk, das die Gemüter erregt, von dem man spricht, das man in den Himmel hebt, dessen Schönheiten man untersucht, ich bin der einzige, der es nicht genießt!
Ich habe den Plan dazu entworfen, ich habe es in allen Teilen durchdacht und ausgeführt. Aber der unmittelbare Eindruck des Ganzen, der Schock, die Entdeckung, und am Ende die Geburt des Ganzen, die vielfaltige Stimmung … all das ist mir verwehrt, all das ist für die, die dieses Werk nicht kannten, die nicht mit ihm gelebt haben, die nichts wissen van den Stockungen, van den Tastbewegungen, vom Überdruss, der einen heimsucht, van den Zufallen .. . sondern die das Gebilde sehen als einen herrlichen Entwurf, der mit einem Schlage Wirklichkeit wurde. Auf einem Berg habe ich Stein um Stein eine Masse aufgehäuft, die ich dann, zu einem einzigen Block geformt, auf sie hinunterfallen lasse. Es auf dem Gipfel aufzutürmen hat mich fünf Jahre, zehn Jahre gekostet, und sie trifft der Schock auf einmal, in einem Augenblick.

Die Kunst und die Langeweile.
Ein leerer Ort und leere Zeit sind unerträglich.
Die Ausschmückung dieser Leere entsteht aus der Langeweile – wie das Bild des Essbaren van der Leere des Magens herrührt – Wie die Handlung aus der Untätigkeit kommt und das Pferd stampft und die Erinnerung entsteht im Intervall zwischen den Handlungen, und der Traum.
Die Müdigkeit der Sinne ist schöpferisch. – Die Leere ist schöpferisch. Die Finsternis … Die Stille … Der Zwischenfall … Alles ist schöpferisch, außer dem, der das Werk signiert und auf sich nimmt.
Das Kunstwerk, kostbares Exkrement, wie es so viele Exkremente und Abfälle sind: Weihrauch, Myrrhe, grauer Amber…

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Zur Kenntnisnahme.
Wir sind alle dazu bestimmt, langweilig zu werden.

Pag. 63-64

Dramatis personae.
Der Autor, der Leser, die Sprache, der Gegenstand des Werks, die Zeichnung, das Ideal, das Unvorhergesehene. Die Gesamtheit der »großen Philosophen« oder der verschiedenen Schriftsteller, die mir als wichtig in Erinnerung blieben, erscheint mir manchmal wie ein Register van Klangfarben.
Keinen von ihnen kann ich mir einzeln vorstellen; und dabei hat sich doch jeder verzehrt, damit keiner neben ihm bestehe. – Sie haben sich aus Momenten ihres Lebens aufgebaut, die jede andere Art zu denken, zu sehen oder zu schreiben ausgeschlossen hätten.

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Der Gedanke bewohnt die Prosa; aber fördert, überwacht, lenkt die Dichtung.

Pag. 67

Alles, was van uns gesagt wird, ist falsch; aber nicht falscher, als was wir darüber denken. Jedoch auf eine andere Weise falsch.

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Die meisten Verdrießlichkeit, die wir kennen, sind unsere ureigenen Schöpfungen.

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Der Augenblick, da sich das Kind der Macht seiner Tränen bewusst wird, fallt zusammen mit jenem andern, da es sie als Druckmittel verwendet und durch sie zu herrschen sucht.

*
Schmeicheleien ist man in dem Maß zugänglich, wie man
sich selber schmeichelt.

*
Mit der Zeit bewerten wir unsere Freunde nach der Feinheit
ihres Taktgefühls.

Ich gab dir mit der Handflache einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, aber gerade dort verbarg sich eine Wunde, unter dem Stoff.

Pag. 69


Noch der unbedeutendste Gegenstand kann Vorwand und Anlass sein zu überaus mühsamen Gedankengängen.
Der Gegenstand, dem größte Bedeutung zugeschrieben wird, erlaubt oft nur die »oberflächlichsten« Erörterungen. Der Tod zum Beispiel kann nur in der Illusion bedacht werden, wenn man ihn nämlich dem Leben gegenüberstellt, aus dessen Bedingungen er sich ergibt. Wenn ich deshalb lese oder daran denke, dass ein Schriftsteller sich beim Tod aufhält und sich darein vertieft, habe ich bald den Eindruck, dass wir nicht dasselbe meinen …


Pag. 73

Es gibt Menschen, die wahrheitsliebend sind, weil sie keinen Grund haben, zu lügen.
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Man ist mit sich selbst nie zufrieden genug, um sich ganz zu eröffnen.
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Ihr Redner und Pamphletisten, ihr Heftigen und Rasenden, sagt spurt ihr nie, dass jeder Schreiende im Begriff ist, nur noch so zu tun, als schrie er?
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Die Haltung gewohnheitsmäßigen Empörung ist das Zeichen einer großen Armut des Geistes. Die »Politik« zwingt ihre Anhänger dazu. Man sieht ihren Geist von Tag zu Tag armer werden, van einem gerechten Zornanfall zum anderen. Jede Partei hat ihr Empörungsprogramm, ihre überlieferten Reflexe.
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Jede Partei prophezeit. Die ganze Politik würde sich ändern, fanden alle nur schon die Tatsache, dass man verspricht und voraussagt, unerträglich und unanständig.

Pag. 74

Die Freude, die uns das Verstehen schwieriger Gedanken bereitet, macht uns geneigt, ihren Schlußfolgerungen Glauben zu schenken.
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Die richtigen Gedanken sind immer unerwartet. Jeder unerwartete Gedanke ist einige Augenblicke lang richtig.
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Wer das Relative nicht beachtet, dem geschieht wie einem, der seine Gäste zählt und vergisst, sich selbst mitzuzählen; der sich nicht für einen Menschen hält, da ein Mensch etwas ist, das er sieht, und sich selbst sieht er nicht.
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Das Recht ist das Intermezzo der Kräfte.

Pag. 77

Abfälle.
a) Zwei große, geheimnisvolle Abfälle hat es gegeben.
Abfall der Engel, Abfall des Menschen: homothetische Katastrophen, wie der Mathematiker sagen würde.
Alles, was ER machte, musste also fallen;
b) Jede auf der Vorstellung eines anfänglichen Abfalls begründete Religion ist den Schmerzen der Diskontinuität ausgesetzt.
c) Eine Schöpfung aber ist ein erster Bruch. Am Ursprung der Welt, zwei Akte: ein Akt des Schöpfers, ein Akt des Geschöpfes. Der eine begründet den Glauben und der andere . . . die Freiheit.

Pag. 79

Bücher haben dieselben Feinde wie der Mensch: das Feuer, die Feuchtigkeit, Tiere, die Zeit – und den eigenen Inhalt.
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Nackte Gedanken und Empfindungen sind ebenso schwach wie nackte Menschen. – Also muss man sie bekleiden.
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Das Denken ist hermaphroditisch; es befruchtet sich und trägt sich selber aus.
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Präambel.
Es gehört zum Wesen der Dichtung, dass man ihre Existenz leugnen kann; eine Versuchung zum Hochmut liegt nahe – in diesem Punkt gleicht sie Gott selbst.
Man kann sie überhören, wie man IHN übersehen kann – ohne spürbare Folgen. Doch was alle Welt bestreiten kann und von dem wir wollen, dass es sei, wird Mitte und mächtiges Symbol für unsere eigene Daseinsberechtigung.

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Ein Gedicht muss ein Fest des Intellekts sein. Es kann nichts anderes sein.
Ein Fest: das heißt ein Spiel, aber ein hohes, geregeltes, voller Bedeutung; ein Bild dessen, was man gewöhnlich nicht ist, eines Zustandes, in dem die Anstrengung im Rhythmus erlöst ist.
Man feiert etwas, indem man es in seiner reinsten und schönsten Form vollendet darstellt.
Hier liegt das Vermögen der Sprache und das ihr entgegengesetzte Phänomen, das Verständnis, die Identität von Dingen, die sie trennt. Das Mühsame, Schwache, Alltägliche, das ihr anhaftet, wird beseitigt. Man organisiert alles, was der Sprache möglich ist.
Nach dem Fest darf nichts übrigbleiben. Asche, zerknitterte Girlanden.
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Im Dichter:
Spricht das Ohr,
Hort der Mund,
Zeugen und träumen Verstand und Wachen,
Sieht der Schlafklar,
Schauen Bild und Gesicht,
Sind Mangel und Leere die Schöpfer.

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Die meisten Menschen haben van der Dichtung eine so unklare Vorstellung, dass diese Unklarheit selbst für sie zur Definition der Dichtung wird.

Pag. 81- 82

DICHTUNG
Poesie ist der Versuch, mit den Mitteln der artikulierten Sprache das darzustellen oder wiederherzustellen, was Schreie, Tränen, Liebkosungen, Küsse, Seufzer usw. dunkel auszudrücken versuchen, und was die Dinge scheinbar ausdrücken wollen in dem, was wir für ihr Leben und ihre Absicht nehmen.
Dieser Inhalt ist nicht anders zu bestimmen. Er ist van der Art jener Energie, die sich erschöpft im Reagieren auf das, was ist …

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Der Gedanke muss in den Versen verborgen sein wie die Nährkraft in der Frucht. Eine Frucht ist Nahrung, und scheint doch nur Genuss. Man weiß nur, dass man sie genießt, und nimmt doch Substanz auf. Das Entzücken verhüllt diese heimliche Nahrung, die es begleitet.

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Der Gegenstand eines Gedichts ist ihm ebenso fremd und ebenso wichtig wie einem Menschen sein Name.

Pag. 83

Valery, Paul, Windsriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Franszösischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)