Paul Valéry – Windstriche 1


Die Vorstellungskraft des Wunsches erfasst immer nur einen Ausschnitt, ein vorteilhaftes Bruchstuck der Wirklichkeit. Pag. 10


Selbstmorde.
Selbstmörder tun sich entweder Gewalt an, oder sie geben sich selber nach und scheinen einer verhängnisvollen Kehre ihres Schicksals zu folgen. Die einen stehen unter dem Zwang der Begebenheiten; die andern bezwingt ihre eigene Natur; und alle äußere Gunst, die ihnen das Schicksal erweist, wird sie nicht davor zurückhalten, den kürzesten Weg zu wählen.
Noch eine dritte Art des Selbstmordes lasst sich aber denken. Es gibt Menschen, die ihr Leben so kühl betrachten und van ihrer Freiheit eine so unbedingte, so eifersüchtig gehütete Vorstellung haben, dass sie nicht gewillt sind, die Umstände ihres Todes dem Zufall der Geschehnisse oder der Wechselgeschicke ihres Organismus zu überlassen. Alter, Verfall, Überraschung widern sie an. In der Antike findet man einige Beispiele und das Lob solch unmenschlicher Standhaftigkeit.
Wogegen der von den Umstanden erzwungene Selbstmord, den ich zuerst erwähnt habe, van seinem Urheber zu einem bestimmten Zweck erdacht wird. Er erklärt sich aus der Unmöglichkeit, ein bestimmtes Übel genau auszumerzen. Der Teil kann nur über die Vernichtung des Ganzen getroffen werden. Man hebt das Ganze und die Zukunft auf, um das Einzelne und die Gegenwart zu zerstören. Man löscht das Bewusstsein überhaupt aus, weil man es nicht versteht, nur den einen Gedanken auszulöschen; das ganze Empfindungsvermögen, weil man mit einem bestimmten, unbesiegbar anhaltenden Schmerz nicht fertig wird.
Herodes lässt alle Neugeborenen erwürgen, weil er den einzigen nicht zu erkennen vermag, auf dessen Tod es ihm ankommt. Ein Mensch, verärgert durch eine Ratte, die sein Haus unsicher macht und sich nicht fangen lasst, brennt das ganze Gebäude nieder, weil er es nicht van diesem einen Tier zu reinigen weiß. Die Erbitterung über eine unerreichbare Stelle unseres Wesens reißt so das Ganze zur Selbstvernichtung hin. Der Verzweifelte wird dazu geführt oder gezwungen, ohne Unterscheidung zu handeln.
Diese Art des Selbstmords ist eine grobe Lösung. Es ist nicht die einzige. Die Geschichte der Menschheit ist voll grober Losungen. Alle unsere Ansichten, die Mehrzahl unserer Urteile, die meisten unserer Handlungen sind bloßer Notbehelf.
Zur zweiten Art van Selbstmord werden Menschen getrieben, die der dusteren und grenzenlosen Trauer, der Besessenheit, dem Taumel der Nachahmung, der Benommenheit van einem unheilvollen und seltsam gehätschelten Bild widerstandslos verfallen.
Die so Gearteten sind gleichsam empfänglich geworden für die Vorstellung oder den Begriff der Selbstzerstörung. Sie gleichen Rauschgift betäubten, denn in ihrer Verfolgung des Todes stellt man dieselbe Hartnäckigkeit fest, dieselbe Beklommenheit, List und Verstellung, wie bei Rauschgiftsüchtigen, die sich ihre Droge verschaffen wollen. Einige suchen nicht wirklich den Tod, sie wollen eine Art von Trieb befriedigen. Manchmal ist es die Todesart selbst, die sie fasziniert. Wer sich am Galgen sieht, der wird sich nie in den Fluss werfen. Der Tod durch Ertrinken inspiriert ihn nicht. Ein Schreiner verfertigte einmal eine sehr klug entworfene Guillotine um der Wollust willen, welche die reinliche Trennung des Kopfes vom Körper gibt. Dieser Selbstmord hat etwas Ästhetisches an sich und die Sorge um die gewissenhafte Ausführung der letzten Handlung.
All diese zweimal Sterblichen scheinen im Schatten ihrer Seele einen nachtwandlerischen Mörder, einen unversöhnlichen Träumer, einen Doppelgänger zu bergen – Vollstrecker einer unbeugsamen Weisung. Sie haben oft ein leeres, geheimnisvolles Lächeln: das Zeichen ihres immer gleichen Geheimnisses. Es bezeugt (wenn man dies überhaupt schreiben kann) die Anwesenheit ihrer Abwesenheit. Vielleicht gilt ihnen ihr Leben als vergeblicher oder mühseliger Traum, der ihnen immer mehr zur Last wird und aus dem sie immer lieber erwachen mochten. Alles scheint ihnen trauriger und nichtiger als das Nichtsein.
Ich will diese Betrachtungen mit der Untersuchung eines nur erdachten Falles beschließen. Man könnte sich einen Selbstmord aus Zerstreutheit vorstellen, der kaum von einem Unfall zu unterscheiden wäre.
Ein Mann handhabt eine Pistole und weiß, dass sie geladen ist. Er hat weder Lust noch die Absicht, sich zu toten. Aber er ergreift die Waffe mit Vergnügen, seine Handflache umfasst den Kolben, sein Zeigefinger umschließt den Abzugbügel mit einer Art von Wollust. Er stellt sich die Handlung vor. Allmählich wird er zum Sklaven der Waffe. Sie bringt ihren Besitzer in Versuchung. Beiläufig richtet er die Mündung gegen sich. Er nähert sie seiner Schläfe, dann seinen Zähnen. Nun ist er beinah in Gefahr, weil der Gedanke an das Funktionieren, der Zwang einer vom Körper entworfenen und vom Geist vollzogenen Handlung ihn übermannt. Der Kreislauf des Impulses strebt sich zu schließen. Das Nervensystem erzeugt sich selber eine geladene Pistole, und der Finger will sich plötzlich krümmen.
Eine kostbare Vase am Rand eines Tisches; ein Mann, der auf einer Brüstung steht, befinden sich in vollkommenem Gleichgewicht. Und doch sahen wir sie lieber etwas weiter van der Senkrechten des leeren Raumes entfernt. Wir haben die quälende Empfindung, wie wenig es braucht, um das Schicksal des Menschen oder des Dinges zu beschleunigen. Dies Wenige – wird es dem fehlen, dessen Hand bewaffnet ist? Falls er sich vergisst, der Schuss ihm entfahrt, der Gedanke an die Handlung siegt und sich verwirklicht, bevor er die Bremsvorrichtung ausgelost und die Selbstbeherrschung wiedererlangt hat – dürfen wir dann, was daraus folgt, einen Selbstmord aus Unachtsamkeit nennen? Das Opfer hat es geschehen lassen, und sein Tod ist ihm wie ein unüberlegtes Wort entfahren. Unmerklich hat es sich in eine gefährliches Zone seines Willensbereichs vorgewagt. Seine Willfährigkeit gegen irgendwelche Tast- und Machtgefühle hat es in ein Gebiet geführt, wo die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sehr groß ist. Es hat sich einem Lapsus, einem geringfügigen Vorfall des Gewissens oder der Übertragung anheimgegeben. Es tötet sich, weil es allzu leicht war, sich zu töten.
Ich habe ziemlich lange bei diesem erdachten Model einer halb zufälligen, halb vorbestimmten Handlung verweilt, um die Unwägbarkeit der Unterschiede und Gegensatze anzudeuten, die zwischen den Wahrnehmungen, den Bestrebungen, den Bewegungen und deren Folgen – zwischen Tun und Geschehen lassen, Handeln und Erdulden – zwischen Wollen und Können zu bestehen scheinen. (Im eben ausgeführten Beispiel geht das Können aus dem Wollen hervor.)
Die ganze Spitzfindigkeit eines Kasuisten oder eines Schülers van Cantor wäre erforderlich, damit sich vom Gewebe der Zeit aussondern ließe, was der Wirkung der einzelnen Machte unseres Schicksals zuzuschreiben ist. Unter dem Mikroskop erscheint der Faden, den die Parzen abspulen und durchschneiden, als ein Seil, dessen vielfarbige Fasern, einander ablösend, bald verschwinden, bald wieder hervortreten, während die Windung sie zieht und mit sich reißt.
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Der Tod ist eine Überraschung, die das Unvorstellbare dem Vorstellbaren bereitet.


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Welches Maß an Vorwänden, an Fehlschlüssen, an Ausreden – an Fruchtbarkeit, an Findigkeit -, um weiterzuleben! Um die einschneidenden Grunde zur Vernichtung, die von all überall her auftauchen, niederzuhalten – die dem Individuum jeden Augenblick das Gefühl – der Nutzlosigkeit oder des Versäumten oder Oberholten vermitteln. Man rettet sich in das Unbekannte. Man verbirgt sich in ihm vor dem Bekannten. Das Unbekannte ist die Hoffnung der Hoffnung. Im Unbestimmten hatte das Denken ein Ende. Die Hoffnung ist jener innerste Akt, der Unwissenheit schafft die Mauer zur Wolke wandelt – und kein Skeptiker, kein Zweifler zerstört Urteil und Vernunft, Evidenz und Wahrscheinlichkeit, wie dieser rasende Damon Hoffnung Immer allein, meist schweigsam zuhöchst auf dem höchsten und äußersten Turm, halt die Hoffnung Ausschau, hinweg über Körper und Geist.


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Die Hoffnung blickt in den Spiegel und sieht sich mit Siegesflügeln.
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Jede Moral prophezeit.

Valery, Paul, Windsriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Franszösischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)