
GESPANNTE WELTVERHÄLTNISSE
Heidegger hat die Sorge zum Wesen des Daseins erklärt und darin den Schlüssel zur Zeitlichkeit als dem Horizont gefunden, in dem Dasein Sein versteht. Die Sorge erlaubt dem Dasein nicht, in seiner Gegenwart aufzugehen; sie kommt aus einem angespannten Verhältnis zur Zeit, das Heidegger ekstatisch nennt. Auch Intentionalität heißt Anspannung, und auch in ihr liegt ein gespanntes Verhältnis zur Zeit, indem sie gerade die Eigenschaft des Bewusstseins bezeichnet, die es seine Sachen niemals ganz und gleich haben lässt.
Bewusstsein heißt, dass gewartet werden muss und gezögert werden kann. In der Zeitlichkeit der Sorge betrachtet sich das Dasein von außen, vom Standpunkt der gerade nicht gegenwärtigen Zeitposition. Darin vollzieht es nur die Äquivalenz zu seiner Selbstäusserlichkeit im Raum, in der es sich als Erscheinung, als Sichtbarkeit durch den Leib, aus der Position möglicher anderer selbst gegeben ist und seine Wirklichkeit >vollstreckt<.
Was geschieht, wenn das durch Sorge oder Intentionalität gespannte Verhältnis des Daseins zur Zeit >entspannt< wird, als Extension zusammenbricht, wie die Selbstäusserlichkeit im Raum zusammenbrechen kann durch die absolute Identifikation des Selbst mit sich als Leib im Schmerz oder in der Lust, pathologisch im Autismus?
Der Zusammenbruch des gespannten Verhältnisses zur Zeit gibt sich zu erkennen im Phänomen der Langeweile. Das auf sich selbst zurückgeworfene oder zurückgezogene Selbst weiß mit sich nichts anzufangen. Insofern es den ungespannten Genuss sucht, will es in seiner Gegenwärtigkeit aufgehen. So verliert es den Zeitbezug, der es sich selbst entreißt. Paradox, wie es klingt: Die Sorge entlastet davon, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Man muss für einen Augenblick vergessen, dass sie akute Selbsterhaltung im Aspekt der Zeitthematik ist. Dann wäre Langeweile der Zustand, in dem überhaupt nichts akut ist. Offenbar gibt es kein Drittes zur Alternative, von der Not der Selbsterhaltung bedrängt zu sein oder in Freiheit von ihr die Zeitspannung zu verlieren. Hat die Selbstbewahrung des Daseins Erfolg, findet dieses das Zentrum seiner Besorgnis leer: nicht nur, dass es mit sich nichts anzufangen weiß, es findet dort nichts, wo es in seiner ekstatischen Besorgtheit das angenommen hatte, worum es dabei ging.
Das Paradox besteht darin, dass das Dasein Sorge ist und diese nur um den Preis abwerfen kann, nichts mehr zu sein, um das es sich sorgen konnte. Das Dasein wild sich zur Last in dem Augenblick, wo es in den Zustand übergeht, sich unfühlbar werden zu können. Genau dort schlagt das gespannte Zeitverhältnis in die Spannungslosigkeit der Langeweile um. Nach Schopenhauer: Das Leben der großen und vornehmen Welt ist wirklich nichts anderes als ein anhaltender, verzweifelter Kampf gegen die Langeweile. Die Namen wechseln, und am vorwurfsvollsten – gegen wen auch immer; im Zweifel gegen die, die das Dasein zu verantworten haben – klingt die Anklage der Sinnlosigkeit. Das sind austauschbare Beschriftungen.
Diese relativistisch klingenden Sätze sollen darauf hinweisen, dass der Begriff der >Sorge< keine dogmatische Interpretation verträgt. Zwar wollte Heidegger das Begaffen durch Theorie nur als defizienten Modus der Sorge zulassen. Aber das ist ein Vorurteil seiner Daseinsanalyse und widerspricht ihrer Beziehung zur Fundamentalontologie im Horizont der Zeitlichkeit. Denn da lässt sich der Zugang van der Sorge zur Zeitstruktur des Daseins umkehren. Was der ekstatischen Gespanntheit dieses Verhältnisses genügt, ist dann und dadurch >Sorge< oder deren Äquivalent – also auch die Intentionalität des theoretischen Bewusstseins. Im schlichtesten Fall des phänomenologischen Paradigmas halt es den Anblick der ihm zugewandten Seite eines Dinges gleichsam nicht aus – bis die entgegengesetzte Seite, die >Ruckseite<, ihm zugewandt sein wird. Dieses gespannte Verhältnis von Vorderseite und Rückseite ist keineswegs der harmlose Fall dessen, was eben auch anders sein kann. Es ist vielmehr die in der Einstellung auf >das Ding< beschlossene Anspannung auf etwas, was nur in der Zeit >erfüllt< werden kann. Mag dies auch jeweils die geringere oder geringste >Sorge< sein, so ist es doch jedenfalls eine.
Der kritische Punkt der theoretischen Einstellung liegt in der Differenz von Ding und Welt, van Innenhorizont und Außenhorizont in ihren Grenzwerten. Der äußerste Grad der Angespanntheit eines Bewusstseins als Intentionalität ist das paradoxe Verhältnis zur Welt als >Objekt<. Die Welt ist dadurch definiert, kein Gegenstand zu sein. Sonst konnte nicht für jeden Gegenstand gesagt werden, dass er -wesensmäßig Außenhorizonte und die Welt als letzten Horizont seiner Horizonte hat. Darin liegt, über die Differenz van Vorderseite und Rückseite des physischen Körpers weit hinausgehend, die Anspannung in jedem Gegenstandsbezug als Zeitverhältnis: Potentiell kann auf jeden Gegenstand jederzeit zurückgeblickt werden. Das ist nicht die Trivialität, als die es sich anhört. Es bedeutet, dass >Welt< immer einen größeren Spielraum für das kinästhetische Subjekt bereithält, als für >die Dinge< zu deren >Unterbringung< (Lokalisation) nötig wäre.
Diese Verspannung des Subjekts mit der Intentionalität seiner Gegenstände und deren Horizonten ist durchaus zu beschreiben mit dem von Heidegger eingeführten Radikal des In-der-Welt-seins, durch das sich das mundane Ego Husserls wiedererkennt. Doch gilt dies auch für das transzendentale Ego, das sich durch seine absolute Selbstgewissheit mit der absoluten Subjektivität identifiziert? Diese kann nicht in der Welt sein, weil die Welt durch sie ist. Da aber auch sie das der Subjektivität wesensmäßige innere Zeitbewusstsein haben muss, ist sie unvorstellbar ohne die Anspannung zu diesem Zeitverhältnis und ohne die Leitstruktur der Intentionalität als dessen Spannungsfaktor. Die absolute Subjektivität muss ein Weltverhältnis haben, das ihrem Zeitverhältnis die weiteste Anspannung verschafft und die punktuelle Schrumpfung zur Langeweile als Selbstbelastung durch die Zeit schlechthin ausschließt.
Es mag gesagt werden, dass es so schlicht nicht gesagt werden darf. Aber wenn die immanente Zeitlichkeit konstitutiv für Subjektivität überhaupt ist – und in diesem letzten Punkt sind sich der Begründer der Phänomenologie und ihr markantester Verformer einig -, dann müssen wir die Begriffe für das, was sich aus diesem Sachverhalt ergibt, unserer eigenen Zeitbedingtheit und noch ihrer Pathologie entnehmen dürfen.
Epikur hatte gemeint, die Götter seien frei von Sorge, weil sie von den Welten nicht Notiz nehmen. Ein schöner Gedanke über Gluckseligkeit, aber ein falscher. Er ging ganz davon aus, dass der Anblick jeder beliebigen der unendlich vielen Welten, wie sie einmal waren, den Göttern nur hätte Kummer und Sorge bereiten können. Zumal sie nicht die verantwortlichen Urheber dieser Welten waren, aber ihnen unterstellt werden musste, dass, was sie einmal zu sehen bekämen, auch denen ins Herz schneiden würde, die es nicht zu verantworten hatten.
Doch muss eben hier, aus der Rationalität der Selbsterhaltung heraus, zwischen Weltanblick und Weltverwicklung geschieden werden. Sollen die Götter frei van Sorge gedacht werden, dürfen sie doch dadurch nicht unter die Bedrückung der Langeweile geraten. Epikur hatte dem Rechnung getragen. Er ließ die Götter in endlose griechische Gespräche verwickelt sein – ein Gedanke, der zumindest verrät, dass ihm die Problematik ihres Zeitverhältnisses, trotz der schon von Aristoteles für einen Gott obligat gemachten Weltabwendung gegenwärtig war oder zumindest in sein Denken hereinspielte.
Aber worüber sollten diese Götter ihre endlosen Gespräche führen, wenn nicht über Welten? Sind diese doch der Inbegriff dessen, worüber überhaupt gesprochen werden kann. Husserl wird dagegen ganz recht haben: Es ist unmöglich, von dem Absoluten als Subjektivität zu sprechen, ohne ihm das adäquate Objekt – die Einheit der Anspannung seiner Intentionalität – zu geben. Da aber diese Korrelation von Subjekt und Objekt wesensmäßig ist, kann sie nicht als Schöpfung begriffen werden. Das ist aus der trinitarischen Spekulation über die Zeugung des Sohnes durch den Vater, des Intellekts durch die Memoria, immer wieder zu lernen. Der Zusammenhang zwischen dem, was des theologischen Gottes ewiger >Eigenbedarf< zu sein scheint, und dem, was als >Welt< auf die biblische Schöpfung bezogen werden muss, ist schon in der alttestamentarischen Logosspekulation gestiftet worden, die in den Prolog des Johannes-Evangeliums eingegangen ist: Das ewige >Wort<, durch das die Welt geworden war, sollte mehr sein als die ursprüngliche Metapher eines Stadtgründerbefehls imperatorischer Art, die ihrerseits schon mehr sein sollte als die Vorstellung eines demiurgischen Aktes. Genau genommen, ging es um eine Begründung der Weltsorge des Gottes: Er sollte sich tiefer auf die Welt eingelassen and ihr verpflichtet haben, als es jene alten Herstellungs- and Befehlsmetaphern auszusagen vermochten. Es sollte eine >wirkliche< Sorge sein, nur durfte sie den nicht drücken, der sie zu haben hatte.
Husserl, der zu weit entfernt von allen Theologien seinen Weg gegangen war und kaum auf ein >säkularisiertes< Mittler-Schema zurückgeführt werden könnte, hat doch die Weltnotwendigkeit für die absolute Subjektivität nicht unmittelbar systematisch zustande gebracht. Seine transzendentale Intersubjektivität – als Bedingung der Möglichkeit einer objektiven >Welt< für das transzendentale Subjekt – ist so etwas wie eine genuine Logos-Spekulation aus dem Geiste der Phänomenologie. Und insofern kein Subjekt ein Objekt anders als in intentionaler >Leistung< haben kann, ist dieser Urverbund eben auch nicht >sorgefrei<.
Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt am Main 1987, (Suhrkamp), Pag. 217-221
