Schmied, Wieland, Schilling, Jürgen, Gegenwart Ewigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Stuttgart 1990, (Edition Cantz),
Friedrich Meschede, Vom Orten der Distanz,
Ernst Meister
Wir leben
von den Entfernungen.
Der Tod
kommt uns vor wie der höchste
Stern.
Ein Geschäftiges der Natur
setzt Maße in uns.
Formen gegenstandsloser Skulptur sind auf der Grundlage von rationalen Strukturen und geometrisch-ordnenden Gesetzmäßigkeiten gestaltet, die wesenhaft als statisch und als abstrakt zu begreifen sind. Dennoch vermögen Skulpturen, die in dieser Tradition stehen, “bewegende” Gedanken über Sinnzusammenhange auszulosen. Die Suche nach einer möglichen Definition von “Transzendenz” hat die nachfolgenden Werke hier zusammengeführt.
Die Betrachtung untersucht Skulpturen einiger Bildhauer, die in den sechziger Jahren eine nicht-figurative Darstellungstradition auf dem Formenkanon geometrischer Figuren weiterentwickelt haben. Solche Intentionen wollen die Erkenntnis zum bildnerischen Ausdruck bringen, dass diese Skulpturen, im Gegensatz zu herkömmlichen Vorstellungen, Distanz als Komponente der Wahrnehmung und Deutung bedingen, eine Distanz zur skulpturalen Form, die sogar die Abwesenheit des Haptischen zum Inhalt zu erheben sucht, obwohl volumetrische Formen geschaffen sind. Es geht dabei prinzipiell nicht um Konzept- Kunst, sondern um das Begreifen des Räumlichen als Kategorie nicht-erzählerischer Skulptur.
Die Körperbildnerin
Im allgemeinen wird der Plastik und Skulptur von alters her eine Bedeutung als verweisendes Zeichen mythologischer, religiöser und kultischer Art zugesprochen. Carola Giedion-Welcker beginnt 1955 ihre grundlegende Publikation Plastik des XX. Jahrhunderts mit den Worten: “Plastik, sichtbar und abtastbar, geht von der Gestaltung realer Körper aus. In allen Ländern und Zeiten mit grossen religiösen und plastischen Energien war sie Trägerin des Kultes, der Erinnerung, das Unterpfand des Unsterblichkeitsgedankens, Trägerin und Teil der gesamten Kultursubstanz. Bis in die Frühzeit hinein waren plastische Zeichen – nicht Abbilder – Vermittler zu den Göttern, den Gestirnen, den Jahreszeiten, zum Leben und zum Tode. In die gesamten Lebensprozesse aller miteinbezogen, innerhalb der größeren Ordnung von Natur, Religion, Kirche, Staat, war ihre Funktion eine überpersönliche, geistige.“1
Den historisch gewachsenen Anspruch und eine von weltübergreifender Ordnung getragene Erwartung an die Kunst dreidimensionaler Gestaltung kann man kaum umfassender formulieren. Diese “Apotheose” der Skulptur stellt Carola Giedion-Welcker ihrer Darstellung der Entwicklungslinien der Skulptur in unserem Jahrhundert programmatisch voran. Entsprechend resignativ mutet in diesem Kontext wenige Zeilen weiter der Satz an: “Ihr geistiger Gehalt ist aus unserer Zeit geflossen, ihr Gesicht von dieser Zeit geprägt worden “
Aus vergleichbarer Überzeugung schließt Werner Hofmann 1958 seine Darstellung der Plastik des 20. Jahrhunderts, wenn er zusammenfassend schreibt: “Die Vielfalt der plastischen Ausdrucksbezirke reicht in alle Bewusstseinsebenen des heutigen Menschen: in das anonyme Verschmelzen mit den gebärenden und bewahrenden Kräften des Kosmos, in die Ortlosigkeit der Existenz und in die geistdurchhellten Offenbarungen von Maß und Gesetz. Alle diese Erlebniskreise bekennen sich zur Weiträumigkeit eines Symbolbegriffs, der dem Menschenbild unseres Jahrhunderts gemäß ist. “2 Hofmann belegt seine Quintessenz mit einem Zitat des Anthropologen Johann Jacob Bachofen, das die an die Gattung der Plastik gestellten Ansprüche unterstreicht: “Das ist ja die hohe Würde und ahnungsreiche Fülle des Symbols, dass es die verschiedenen Stufen der Auffassung zulässt und selbst anregt und von den Wahrheiten des physischen Lebens zu denen einer höheren geistigen Ordnung weiterführt.”
Die zitierten Credi aus den immer noch gültigen Publikationen zur Kunst der Plastik in unserem Jahrhundert werfen die Frage auf, ob Skulpturen jemals unter der Prämisse einer aufgeklärten, bewusstseinsorientierten Wahrnehmung diesen Anforderungen nach “höherer geistiger Ordnung” entsprochen haben. Es muss heute gefragt werden, ob die Qualitätsmaßstäbe einer Skulptur vor diesen immateriellen Kategorien zunächst nicht vielmehr an den innerweltlich-physikalischen Kriterien von
Material und Maß, Volumen und Form zu erkennen sein mögen. Ein vorab implizierter Symbolgehalt setzt Deutungsebenen voraus und überfordert im Zeitalter fragwürdig gewordener Werte und Inhalte die Funktion von Skulptur. Seit den grundlegenden Entwicklungen der Skulptur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben in der Zeit nach 1960 künstlerische Innovationen skulpturale Eigenschaften zum Ausdruck gebracht, die auf ureigene Kategorien von Skulptur aufmerksam machen, mit denen weitaus abstraktere Kategorien des Raumes sichtbar und körperlich erfahrbar zu machen sind.
Wenn Werner Hofmann noch von der “Ortlosigkeit der Existenz” sprechen konnte, dann druckt Kurt Badt 1963 mit dem Begriff der “Orthaftigkeit”3 vorausweisend die Möglichkeiten der Skulptur aus, bescheiden und still, aber entschieden, jene Ortsbestimmung der Existenz als Wahrnehmungserlebnis an gestalteten Orten zu verkörpern.
Ort und Raum sind als nicht näher definiertes Begriffspaar und als Kategorien von Skulptur heute eng an die Auffassung von Plastik gebunden. Dies war nicht immer so. Bis zu der Abhandlung von Max Jammer (Das Problem des Raumes, Entwicklung Der Raumtheorien, Darmstadt 1960) sprach die Kunstwissenschaft allein der Gattung der Architektur die Aufgabe und das Vermögen zu, Ort und Raum künstlerisch zu gestalten. Deshalb muss an dieser Stelle kurz auf die Begrifflichkeit und geschichtliche Verlagerung des Raumbegriffes eingegangen werden. Die Darlegung von Max Jammer verdeutlicht, dass der Vorstellung vom Raum innerhalb einer geistesgeschichtlichen Entwicklung zunächst immer eine philosophisch-theologische Funktion als Attribut der Darstellung des Geistigen und Heiligen zukam, beispielsweise in Gestalt gemalter Architekturmotive. Aufgrund der Fortschritte in den naturwissenschaftlichen Disziplinen wandelte sich die attributive Funktion zu einem philosophisch-physikalischen Problem der Vorstellung vom Raum, von der Zeit als Dimension und vom Kosmos. Die Kunstwissenschaft sprach anfänglich von Raum, wenn es darum ging, Tiefe als Illusion des Räumlichen zu beschreiben. Allein mit Bezug auf Beispiele der Malerei spricht Jacob Burckhardt 1855 erstmals von “Raumdarstellung”. Mit einem anderen Kompositum erfasst August Schmarsow (Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Leipzig” 1905) Werke der Architektur 1905 als “Raumgebilde” und setzt sich damit von der illusionistischen Begrifflichkeit des Raumes bei Burckhardt ab. Mit der anschaulichen Definition der drei Kunstgattungen als “Flächenbildnerin” (Malerei), “Körperbildnerin” “(Plastik) und “Raumbildnerin” (Architektur) weist Schmarsow die Richtung für die nachfolgende Betrachtung dessen, was Plastik und Architektur jeweils zu leisten vermögen. Eine Erweiterung des Gattungsbegriffes stellt dann die Veröffentlichung von Albert Erich Brinckmann dar (Plastik und Raum als Grundformen der künstlerischen Gestaltung, München 1922), aber noch 1963 lehnte Kurt Badt es ab, der Plastik eine raumgestaltende Aufgabe zuzuweisen, bei der allein der Raum Gegenstand der Darstellung sei. Hans Mbrecht (Skulptur im 20. Jahrhundert, Raumtheorien, Köln 1977) schließlich unternimmt den Versuch, die attributive Raumauffassung, die in bezug auf die Architektur entwickelt worden war, unmittelbar auf Phänomene der Plastik zu übertragen, um somit den von Carola Gledion-Welcker und Werner Hofmann zugrundegelegten Symbolgehalt von Skulptur als kategoriale Bestimmung von Plastik erneut, aber mit veränderten Vorzeichen, zu bestätigen. Wenn es denn überhaupt möglich sein sollte, eine “höhere geistige Ordnung” darstellbar zu machen und wenn es richtig ist, dass auch tradierte Symbole, den historischen Gegebenheiten folgend, ihren qualitativen Ausdruck von Werten verändern, dann muss die Funktion des Raumes in der Skulptur präzisiert werden mit Hilfe formaler Eigenschaften, die zuerst werkimmanent und allein die Skulptur definieren. Max Imdahl hat in der nur ihm eigenen sprachlichen Erfassung und mit Blick auf eine wahrnehmungstheoretische Bedingung eine gültige Orientierung für diese Beobachtungen vorgegeben, wenn er schreibt: “Für die kategoriale Bestimmung der Plastik ist es sehr wichtig, dass sie die Dreidimensionalität selbst abgibt, die der Gegenstand, den sie darstellt, auch besitzt. Die Plastik unterscheidet sich kategorial von der Malerei dadurch, dass man sich – um z. B. mit Sartre zu reden – der Plastik nähern kann, dass die Plastik im physikalischen Raum sich befindet. “4
Die Anwesenheit der Form
Mit dieser Definition findet Max Imdahl zu einer Wesensbestimmung abstrakt-geometrischer Plastik, die am Begriff des Konkreten orientiert ist, wie ihn Theo von Doesburg durch sein Manifest art concret 1930 mit Bezug auf seine Malerei entwickelt hatte und wofür heute oftmals der Ausdruck einer selbstreferentiellen Skulptur gebraucht wird. Der besagt: Ein Werk, das beispielhaft dieser Intention zugeordnet werden kann, stellt nichts Erzählerisches außerhalb der gegebenen Formen dar. Eine dreidimensionale Inkunabel dafür, die nicht nur exemplarisch, sondern stilprägend etwas von dem erlebbar macht, wovon Max Imdahl mit seiner Skulpturauffassung spricht, stellt die Plastik Die von Tony Smith (1912-1980) aus dem Jahre 1962 dar. Bei dieser Skulptur handelt es sich um einen allseitig geschlossenen Kubus, zusammengeschweißt aus sechs quadratischen Stahlplatten mit einer Kantenlange von sechs Fuß (= 183 cm). Tony Smith hatte diese Arbeit telephonisch bei einem stahlverarbeitenden Unternehmen in Auftrag gegeben.
Diese Plastik gibt formal bereits all jene Merkmale vor, die nachfolgend zum technischen Standard der Minimal Art wurden und bis heute die Produktion von zeitgenössischer Skulptur bestimmen. Es ist sicher nicht ohne Bedeutung, dass hier ein Künstler im Alter von 50 Jahren, der sich zuvor 30 Jahre mit Architektur auseinandergesetzt hatte, zu einer Neudefinition von Skulptur auf der Basis reduzierter Grundformen gelangt, so als vereine der Kubus in sich die modularen Einheiten und Prinzipien von Architektur und Skulptur. Dennoch übertragt Tony Smith bei der Großenbestimmung des Kubus auf die gegenstandslose Skulptur ein anthropometrisches Modell, das für ein Architektursystem entwickelt worden war. Tony Smith hatte den Modular von Le Corbusier studiert und diesem System das Maß von 183 cm (= 6 Fuß) als Norm für die Plastik Die entlehnt.5 Sowohl dieses konzeptuelle Maß für Die als auch die nachfolgenden, auf die modulare Verwendung von Tetraedern and Oktaedern zurückgehenden Skulpturen belegen die Suche von Tony Smith nach einer vereinheitlichenden Ordnung, die der komplexen Vielgestaltigkeit unserer sichtbaren Wirklichkeit als Struktur zugrundeliegt. Dieses Studium der Geometrie in der Natur spiegelt den Glauben an eine kosmische Ordnung, wie mathematische und naturwissenschaftliche Thesen sie immer wieder zu belegen suchen, dass nämlich in der Gesetzmäßigkeit der Natur, in ihren Wachstumsmustern und Formungsprozessen Strukturen einer Ordnung eruiert werden können. Insofern mag diese Genealogie von Vorstellungen und Theorien einen zeichenhaft symbolischen Charakter der Skulptur unterstreichen. Die tatsächliche Anwesenheit ihrer Form im Raum lenkt die Betrachterhaltung jedoch zu anderen Kriterien, die für die Wahrnehmung und das Erfassen der Plastik Die richtungweisend sind.
Das am menschlichen Maß orientierte Format dieses Volumens verhindert ein simultanes Erfassen der Form; je nach Betrachterstandort vermag die Plastik sogar ihre volumetrische Körperlichkeit vorzuenthalten. Steht man frontal zum Werk und betrachtet es aus unmittelbarer Nähe, so sieht man lediglich eine Flache, aus einiger Entfernung zwei Flachen, die eine Ecke bilden. Erst der zunehmende Abstand schafft die Möglichkeit, sich die dritte Dimension zu erschließen. Es bleibt dann immer noch die Erkenntnis, dass wir zwar um die sechs Flachen dieser Kubusform wissen, dass wir jedoch niemals die Position einnehmen können, aus der alle sechs Flachen gleichzeitig zu sehen sind. Dieses Zwiegespräch des betrachtenden Auges mit dem wahrnehmenden Intellekt erwirkt eine motorische Energie, die uns bewegt, das Werk aus unterschiedlichen Entfernungen zu überprüfen. Die erzwungene Vielansichtigkeit ist plötzlich konstitutiver Bestandteil des Werkes, nicht im Sinne einer Forderung der Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts,6 sondern im Verständnis einer auf den Betrachter zielenden Stimulation zur eigenen Bewegung im Raum. Die rationale, objektive Einfachheit der gestalteten Form widersetzt sich dem übergeordneten Wunsch, das Eine und Einfache in seiner Ganzheit gleichzeitig zu erleben oder ohne Zeit zu erfahren. Der Kubus äußert sich mit seiner Gegenwart als ein in sich geschlossenes Ordnungssystem, das (unterstutzt durch die orthogonale Struktur der Form) eine Statik vermittelt, die diese Plastik als in sich ruhendes Volumen wirksam werden lässt. Die Plastik stellt gewissermaßen einen Pol dar, von dessen Kraftzentrum aus die Bewegungen des Rezipienten im Raum geleitet werden, weil der ruhelose, aber dennoch nach Ausgleich der Sinne strebende Wahrnehmungsprozess den Betrachter zwingt, sich den ihm angemessenen Standort im gemeinsamen Raum als sein Distanzverhältnis zur Skulptur zu ergründen. Damit scheint die Plastik Die einen Gedanken zu verkörpern, den um 1960 der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty zum Ausdruck brachte: “Die Welt ist das, -was ich wahrnehme, aber ihre absolute Nähe wird, sowie man sie prüft und ausdrückt, auf unerklärliche Weise auch zur unwiderruflichen Distanz.“7 Mit der Plastik Die wird die bewusst zu einem driedimensionalen Bildwerk gestaltete Distanz Bestandteil von Skulptur. Der von Max Imdahl im Zitat oben eingefügte Hinweis, “dass man sich – um z. B. mit Sartre zu sprechen – der Plastik nähern kann”, wandelt sich zu einer Schlüsselerkenntnis, denn Jean Paul Sartre sah mit Blick auf die späten Plastiken von Alberto Giacometti (Diego) in der “absoluten Distanz” dessen einschneidende Abkehr von der traditionellen Plastik. “Eben darin beruht die absolute Distanz, dass sich bei Annäherung an die Plastik nichts verdeutlicht,”8 interpretiert Max Imdahl. Insofern geht es bei Tony Smith auch um eine kalkulierte Ferne, aus der Die betrachtet sein will. Damit wird räumliche Distanz, Entfernung von Orten und der Abstand zwischen einer Skulptur und dem Betrachter seit den sechziger Jahren zum konstitutiven Element von Skulptur. Die Anwesenheit von Form an sich ist lediglich ein vorgegebener Tell eines dialektischen Verhältnisses, auf das sich der Wahrnehmende einzulassen hat, wenn er zu einer Erkenntnis über die Form gelangen will. Wenn man hier noch von einem Symbolgehalt sprechen will, dann existiert er nicht als Zeichen an sich, wie es bei traditionellen Bildwerken gedacht ist, sondern immer nur im visuellen Dialog mit den plastischen Objekten. Die Nähe der Erkenntnis definiert sich durch die Ferne der Betrachtung. Und gerade deshalb bedarf es einer geometrischen Grundform, weil sie allein aufgrund ihrer objektivierbaren Struktur das Kalkül mit Maß und Gestalt ermöglicht.
Perspektivische Wahrheit – das Ferne
Bei der Plastik Die kann noch von einer geometrischen Figur gesprochen werden, deren Ruhemoment im Ausgleich der vertikalen und horizontalen Achsen begründet ist. Der Anteil einer “Figuration” ist allein in der aufrechten Form zu begreifen, die als Volumen präsent ist. Vielleicht nicht ohne Kenntnis der Arbeit von Tony Smith, aber mit ebenso radikaler Überzeugung kommt Carl Andre (geb. 1935) zu einer Sichtbarmachung von Distanz als Bestandteil von Skulptur mit der Reduktion von plastischem Volumen auf die horizontale Ebene. Bei frühen Skulpturen addiert er Ziegelsteine zu einer Abfolge von stereotypen Einheiten. Reihung von identischen Formen als Prinzip von Skulptur ist bei Carl Andre die Erstreckung von Formen im Raum entlang der Bodenflache. Eine Strecke -wird zum Gegenstand der Skulptur und diese zum Erfahrungsraum des Betrachters, der ganz unmittelbar aufgefordert ist, selbst durch bewusstes Abschreiten diese Skulptur zu ermessen. Gehen im Raum wird zur Erfahrung von Raum. Als Beispiel mochte ich eine Arbeit aus dem Jahre 1977 anfuhren, die diese Idee von Strecke and Distanz anschaulich macht. Die Gesamtlange der Skulptur 99 Steel line ist trotz der metrischen Einheiten von keiner Stelle aus exakt zu erfassen. Obwohl es sich um genormte, gleich große Platten handelt, die zu einer flächigen Linie im Raum zusammengefugt worden sind, zeigt die Skulptur als Resultat optischer Gesetzmäßigkeiten immer die perspektivische Verjüngung ihrer Form auf einen Punkt zu.
Bei den Skulpturen von Carl Andre ist Perspektive eine reale Komponente. Es wurde oben erwähnt, dass Raum anfänglich als illusionistische Tiefe in gemalten Bildern verstanden wurde. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts war die Perspektive das eigentliche Hilfsmittel zur Konstruktion einer Raumillusion. Erst mit der polyperspektivischen Darstellungsweise des Kubismus findet die Malerei zu der ihr gemäßen Flächenhaftigkeit von Formen. Auf die Wahrnehmungserkenntnisse dieser Malerei antwortet Carl Andre in reziproker Weise, indem er durch die Einführung der Horizontalachse Perspektive als reale plastische Konstruktion auf der Bodenfläche zum Bestandteil seiner Skulptur macht. ” Vormalige Raumillusion ist jetzt abgegrenzter Raum, das Hilfsmittel der Malerei nunmehr materialisierter Faktor der Plastik.
Wir erkennen darin den “Übergang des Erscheinenden zum Realen”, wie Merleau-Ponty es genannt hat, “das Nahe, das Ferne und der Horizont bilden in ihrem deskriptiv nicht erfassbaren Kontrast ein System, und ihre Beziehung untereinander innerhalb des Gesamtfeldes ist es, die ihre perspektivische Wahrheit ausmacht. ” Der Begriff von der “perspektivischen Wahrheit” erfasst vielleicht das Gemeinsame der Skulpturen von Carl Andre und Tony Smith, das es erlaubt, sie in diesen Vergleich zu setzen. Beide bildhauerischen Konzepte gestalten auf ihre ureigenste Weise Distanz.
Abwesenheit von Form – die Ferne
Ein weiterer amerikanischer Bildhauer suchte dieses Thema am Ende der sechziger Jahre weiterzufuhren bis zur Abwesenheit von Raum, so dass die haptisch präsente Form seiner Skulptur ausschließlich als Verweischarakter auf Orte zu begreifen ist, welche sich in nicht mehr bemessbarer Entfernung vom Ausstellungsort befinden. Robert Smithson (1938-1973) prägte für sein Konzept der Skulptur den Begriff der “Nonsite-Sculpture”. Er verließ 1967 die herkömmlichen Ausstellungsstatten, an denen seine Freunde Donald Judd, Dan Graham, Carl Andre und Sol LeWitt gerade das selbstreferentielle System von Rauminstallationen und “spezifischen Objekten” Judd) entwickelt hatten. Fernab von New York suchte Smithson verlassene Regionen der amerikanischen Landschaft auf, um dort vorgefundenes, gesammeltes Gesteinsmaterial in containerartigen Behältnissen in Galerien zu präsentieren und dort den Fundort des Werkstoffes mit einer beigefügten Landkarte lokalisierbar zu machen, so dass der Betrachter dieser sogenannten “Nonsite-Sculpture” den Werkstoff wie eine Erinnerungsmetapher an den Ort wahrnimmt. Die aufgesuchte Stelle selbst aber wird unsichtbar gemacht, sie erscheint in Gestalt einer topographischen Karte, die ihrerseits Abstraktion und Prozess des rekonstruierenden Gedankens steigert. Oftmals wurde für Smithson allein das Photo als Medium Abbild des vorenthaltenen Ortes, an dem er seine “Earthwork”-Projekte ausgeführt hatte. In überlieferten Projektzeichnungen kommt deshalb die eigentliche Intention Smithsons von Entfernung und Abwesenheit einer skulpturalen Arbeit überzeugend zum Ausdruck, wie beispielsweise in Island of Salt Crystals in Red Water, Salt Lake, Utah. Dort im großen Salzsee in Utah hatte Smithson sein berühmtes Werk Spiral Jetty realisiert, eine spiralförmig angehäufte Mole, die heute als Inbegriff der Land Art bekannt ist. Obwohl diese Form als ein klar strukturiertes Spiralmotiv gestaltet ist, aus Schotter, den Smithson lastwagenweise anfahren ließ, existiert sie dennoch in unserer Vorstellung immer nur als Abbild dieser Skulptur, das zudem aus der enthobenen, irrealen Luftperspektive wiedergegeben ist. Der Ort, dessen Distanz nur mit großer Muhe überbrückbar ist, fordert den Aufwand mehrtägiger Reisen. Und allein diese Mühen lassen den wohlvertrauten Kontext einer herkömmlichen Kunstbetrachtung vergessen. Mit der Entscheidung für diesen Ort beginnt die Pilgerfahrt zur Kunst mit der Hoffnung auf ein Erlebnis, das über das wahrnehmende Sehen hinaus alle Sinne zur Erkenntnis aktiviert. 10
Orte der Orientierung
Als Robert Smithson 1973 während der Arbeit an Amarillo Ramp tödlich verunglückt war, vollendeten Nancy Holt und Richard Serra diese Skulptur. Zur selben Zeit widmete Richard Serra (geb. 1939) eines seiner ersten großräumigen Werke im Park des Kröller-Muller Museums in Otterlo seinem Freund: Spin out, for Robert Smithson. In einem muldenförmigen, natürlichen Tal ragen drei Stahlplatten vertikal aus den umgebenden Hangflachen heraus. Ihre Richtungsachsen suggerieren einen zentralen, gemeinsamen Schnittpunkt. Mit derselben Kraft, mit der die Plastik Die wie ein Pol den Betrachter in Entfernung bringt, zwingt Spin out ihn dazu, den Schnittpunkt der weitergedachten Richtungsbahnen zu erkunden. Diese Suche nach dem geeigneten Standort inmitten der Installation, an dem die Achsen sich im Auge des Betrachters zu treffen scheinen, steigert sich in dem Maße, in dem man erkennen muss, dass es den ruhenden Pol eines Zentrums nicht gibt. Die Blickachsen werden zu Bewegungsablaufen im offenen Raum zwischen den Flatten.
Die extreme Wirkung der vertikalen Stahlformen zwischen Flächenhaftigkeit der Flatten und Linienhaftigkeit ihrer Kanten erwirkt die beunruhigende Erkenntnis, dass es keinen zufriedenstellenden Standort gibt, der als Ideal das Gedachte der Vorstellung erfüllt. Die suchenden Bewegungen im leeren Raum zwischen den Stahlplatten werden unverhofft zur Metapher der eigenen Standortbestimmung: die “Ortlosigkeit der Existenz”, von der Werner Hofmann einmal sprach, ist hier gerade ihre eigentliche Ortsbestimmung.
“Drei Dimensionen sind wirklicher Raum, das befreit vom Problem des Illusionismus”, konstatiert Donald Judd 1966 in seinem Aufsatz Specific Objects. Nachdem Architektur nicht mehr allein attributiv gültig ist für ein transzendierendes Raumerlebnis, kann heute möglicherweise Skulptur Orte schaffen, die dieses Raumerlebnis erwirken. Es ist jedoch nicht nach der Definition des Transzendenten in der Plastik zu fragen, da Bildhauer zunächst nicht mehr den Anspruch erheben, dies zu illustrieren. Im Verständnis um die Radikalität einer auf geometrischen Formen basierenden Gestaltungsmethode ist nach der Bedeutung der Distanz zu fragen, die rationale Formen vergegenwartigen. Es ist Merkmal und Eigenschaft der gegenstandslosen Kunst, dass sie absichtsvoll Orientierung vorenthält. Zugleich ist dies ihre eigentliche Botschaft. Das Orten der Distanz leistet die Bestimmung des eigenen Ortes im Verhältnis zum Gestalteten. Der Ort, an dem sich dies ereignet, ist erlebbarer Raum einer objektiveren Daseinsform, die uns Grenzen bewusst hält. Denn allein aus dem geschauten Wissen von Grenzen definiert sich etwas von dem, was mit Transzendenz gemeint sein konnte, ein Überschreiten derselben, oder, wie Sol LeWitt es 1966 formuliert hat: “Konzeptuelle Künstler sind eher Mystiker als Rationalisten. Sie gelangen sprunghaft zu Lösungen, die der Logik verschlossen sind.”11

Anmerkungen
1 Carola Giedion-Welcker, Plastik des XX. Jahrhunderts, Volumen- und Raumgestaltung, Stuttgart 1955, S. IX.
2 Werner Hofmann, Plastik des 20.Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1958, S. 162.
3 Kurt Badt, Raumphantasien und Raumillusionen, Wesen der Plastik, Köln 1963.
4 Max Imdahl, in: z. B. Skulptur, Kat. Städt. Galerie im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main 1978, S. 5.
5 Vgl. Tony Smith, Skulpturen und Zeichnungen – Sculpture and Drawings, Kat. Westfälisches Landesmuseum Münster 1988.
6 Vgl. Lars Olof Larsson, Von allen Seiten gleich schon, Studien zum Begriff der Vielansichtigkeit in der europäischen Plastik von der Renaissance bis zum Klassizismus. (Acta Universitatis Stockholmiensis, 26) Stockholm, Uppsala 1974.
7 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 23f.
8 Max Imdahl und Norbert Kunisch, Plastik – Antike und moderne Kunst der Sammlung Dierichs in der Ruhr-Universität Bochum, Kassel/Bonn 1979, S. 120.
9 Vgl. hierzu auch Lorenz Dittmann, Perspektivität und Polyperspektivität der Skulpturen Anthony Caros, in: Distanz und Nähe, Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart, Hrsg. Petra Jaeger und Rudolf Lüthe, Würzburg 1983, S. 271 ff.
10 Ein vergleichbarer Ort ist in Europa aufzusuchen. In einer Kiesgrube nahe Emmen in den Niederlanden befindet sich immer noch die einzige Earthwork-SkuIptur von Robert Smithson, ein entlegener Ort, an dem Distanz in doppelter Weise erfahrbar wird, einmal als Anreise zu dem Ort und zum anderen als Anordnung der zweiteiligen Arbeit Spiral Hill und Broken Circle am Ort selbst.
11 Sol LeWitt, Satze über konzeptuelle Kunst, in: Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1945, Hrsg. Gerd de Vries, Köln 1974, S. 187f.
Schmied, Wieland, Schilling, Jürgen, Gegenwart Ewigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Stuttgart 1990, (Edition Cantz), Pag. 97-103

Jeannot Simmen, Pure Form – Spur der Transzendenz
Realität ist heute Fiktion besonderer Art, unser Zugriff ist ein von Medien geprägter, wahrgenommen wird simulierte Wirklichkeit. “Ihr werdet die Früchte nicht mehr am Geschmack erkennen”, Bert Brechts Devise aus anderem Kontext ist heute zynisches Konsumparadies, Realität wird verschleierte Schau auf dem TV-Bildschirm, der Monitor fordert neuartige Verhaltensarten, Wahrnehmung formaler Zeichen. Moderne Kommunikations- und Datenverarbeituagssysteme revolutionieren unsere Denkstrukturen umfassend, vergleichbar den Bewegungs- und Arbeitsmaschinen, die das industrielle Zeitalter und Prämoderne bestimmten.
Prozess umfassender Abstraktion, ein Immateriellwerden, das die künstlerische Wahrnehmung und Sensibilität herausfordert und bildende Kunst einmal mehr von Mimesis befreit, von außerkünstlerischen Implikationen entschlackt. Tendenz aktuell: Kunst wird pur, professionelle Form mit eigenen Anordnungs-Relationen. – Erinnert wird an jene pointiert-moderne Kunst der zwanziger Jahre, die in engem Konnex stand mit Architektur; Bauwerk und Kunstwerk, Architekt und bildender Künstler streben zur Union im Griff nach einem ästhetisch Unbedingten.
Kunst, die Realität transzendiert, ist nicht zufällig im Finale der postmodernen Zeit akut, wo Architektur durch Anknüpfung an avoncierteste Positionen mit Kickdown durchstartet; wo in bildender Kunst das Interesse sich auf Anordnung einfacher Strukturen konzentriert. Plastiker wie Sol LeWitt, Carl Andre, Ulrich Rückriem arbeiten mit Grundkörpern, nehmen diese als Modul-Einheit wie das Bit auf dem Megachip. Im Einfachen wird ein Unbedingtes, ein Realität Veränderndes gesucht, in simpler Einheit liegt Umfassendes; die Werke ohne Zeichen künstlerisch-individuierter Handschrift – verweisen sie auf eine neue Transzendenz?
Jürgen Habermas hat 1989 in der Zeitschrift Merkur über die Revolution von 1789 und das bundesdeutsche Gründungsjahr 1949 räsoniert. Die heutige “Rationalisierung der Lebenswelt’ führe zur “schrittweise verbesserten Institutionalisierung von Verfahren vernünftiger kollektiver Willensbildung”. Auf der Ebene der Kultur gelte aber nicht Kompensation oder Maßenegalität, vielmehr wird am Schluss von Habermas’ Überlegungen ein offener, nicht auf Reales beschränkter, auf Theologie und Kunst zielender Forderungskatalog ausgebreitet:
“Eine andere Art von Transzendenz ist in dem Unabgegoltenen bewahrt, das die kritische Aneignung identitätsbildender religiöser Überlieferung erschließt and wiederum eine andere in der Negativität der modernen Kunst.”1
Was veränderte sich in Wirklichkeit: wenn weder Geschichte noch Produktivkräfte, weder Ideologie noch Klassenantagonismen in Teleologie umschlagen. Ideen für Zukünftiges werden? Liegen in der gedoppelten Transzendenz (Religion und Kunst) Möglichkeiten für ein Neues, das aus dem “Unabgegoltenen’ (einem biblischen Heilsversprechen?) Perspektivität bezieht? Wieweit kann 200 Jahre nach der – die religiösen Kultformen profanierenden und alte Transzendenz vernichtenden – Französischen Revolution neu und anders verhandelt werden?
Transzendenz – Spuren im Abgrund des Neuen
Noch vor 1789 prägte der Philosoph der Umbruchzeit, der “Alleszermalmer” aus Königsberg, Immanuel Kant die Begriffe transzendental und transzendent um. In seiner 1781 und 1787 erschienenen Kritik der reinen Vernunft setzt Kant am Beginn seiner transzendentalen Logik eine wichtige Anmerkung (“die ihren Einfluss auf alle nachfolgende Betrachtungen erstreckt, und die man wohl vor Augen haben muss”) und bestimmt: “dass nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, dass und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse” (B 80). Kant verweist mit einem Beispiel auf seine Intention: “Daher ist weder der Raum, noch irgend eine geometrische Bestimmung desselben a priori eine transzendentale Vorstellung, sondern nur die Erkenntnis, dass diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs sind, und die Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf Gegenstande der Erfahrung beziehen können, kann transzendental heißen” (B 80f.). Kants Gratwanderung ist eine Profanierung religiöser Denkformen, diese werden umfassend verändert.
Konkretisieren lässt sich sein theoretisch-praktischer Ansatz mit dem, was Kant “kopernikanische Wende” nannte. Sie ist radikal neue Position, nicht lediglich ein ‘Tapetenwechsel beim Nachbarn’. Neue Erfahrung wird durch veränderte Blickrichtung möglich; der bisherige Ansatz wird in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erläutert: “Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenstanden richten. ” Kant schlagt einen Wechsel vor, konzentriert auf ein Gebiet, das vormals vom Glauben gepachtet war: “Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstande müssen sich nach unserem Erkenntnis richten… Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt.. . wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ” (B XVI). Der mutige Denker nimmt Kopernikus’ Wende auf, verändert aber listvoll das Ergebnis.
Der Mensch wird, anders als in der Astronomie, durch das neue Denken souverän. „In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. ” Kants Umdrehung ist voll Raffinesse: “Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen” (B XVII) – ein folgenreicher Ansatz, der das Bild der Natur umfassend veränderte. Das Verfahren ist vergleichbar dem von Isaac Newton; der von Kant verehrte Physiker setzte mit seinen Gravitationsstrahlen ein neues Modell, das (gegenüber den mechanistischen der französischen Materialisten) formal in religiöser Tradition stand: die Gravitation ist unsichtbar, wie der unoffenbarte deus absconditus; die physikalischen Gesetze sind einfach und umfassend gültig, wie der christliche Gott monotheistisch und allmächtig – was Newton Schelte von seiten der französischen Enzyklopädisten eintrug.
Kant benutzt ebenso die Formalien, jedoch für ein aufklarendes Denken: “ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen” (B XVII f. ). Kants veränderte Methode besagt, was aktuelle Wissenschaft als selffulfilling-prophecy kennt: “dass wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen” (B XVIII). Entscheidend für die neuen Begriffe und Grundsätze, die jenseits der begrenzten Erfahrung im “bloß Gedachten” liegen, die “Elemente der spekulativen Vernunft” sind, ist das von Einschränkungen freie Denk-Experiment.
Transzendent, was unserer Erfahrung sich entzieht, ist terra incognita, auf der philosophischen Landkarte, die Kant mutig und ohne Scheuklappen begeht – obwohl er nie über seine Stadt Königsberg hinausreiste, ein prämoderner Hacker war. Das Unbedingte ist Denkmöglichkeit, ein Metaphysisches, nicht mehr der kirchlichen Absolutheit botmäßig, nicht im Dogmatischen verengt, sondern bestimmt von methodischen Grundsätzen: “welche diese Grenzen überfliegen sollen, transzendente Grundsätze” sein, die – so formuliert mutig der Denker – “uns zumuten, alle jene Grenzpfähle niederzureißen und sich einen ganz neuen Boden, der überall keine Demarkation erkennt, anzumaßen” (B 352). Ideen werden transzendent, sobald wir das Unbedingte “in demjenigen setzen, was ganz außerhalb der Sinnenwelt, mithin außer aller möglichen Erfahrung ist” (B 593). Die transzendenten Ideen sind nicht praktizistisch, denn sie ‘machen sich selbst Gegenstände, deren Stoff nicht aus Erfahrung genommen, deren objektive Realität auch nicht auf der Vollendung der empirischen Reihe, sondern auf reinen Begriffen a priori beruht” (B 593). Transzendenz hat den Griff zum Neuen und Unbedingten, zum Nichteingeschränkten, die ‚spuren des Transzendenten’ verlaufen ins offen Unbekannte.
Kant ahnte die Gefahren, wenn das sichere Gelände aufgegeben wird: Denk-Irritationen überraschen, die aufwühlender sind als Natur-Schrecken oder ein Erhabenes: “Die unbedingte Notwendigkeit … ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern mag, macht lange den schwindelichten Eindruck nicht auf das Gemüt; denn sie misst nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht” (B 641)2, das heißt: sie erleidet dies nicht, sie ist allein empirisch, objektivierend, nicht subjektiv.
Kants Kritik insistiert. in dieser Passage, steigert sich zu atheistischer Radikalität: “Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen, dass ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen” (B 641). Passage der Auflösung dogmatischer Grundsatze eines Aufklärers, der 1794 durch königliche Kabinettorder verwarnt wurde wegen “Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums”.
“Grenzen überfliegen” und “schwebt ohne Haltung”, Kant beschreibt die beiden Grundmöglichkeiten der dritten Dimension. Das heute technisch-machbare Fliegen von Gegenstanden ‘schwerer als Luft’ und das Schweben als visionäres Auflösen von Materie sind Metapher und die Bedingung neuer Erfahrung!
Kant ist kein strammer Stürmer ins Leere der Freiheit, sondern ein besonnener Denker: “Also werden die transzendentalen Ideen allem Vermuten nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben, obgleich, wenn ihre Bedeutung verkannt und sie für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden, sie transzendent in der Anwendung und eben darum trüglich sein können. Denn nicht die Idee an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch kann, entweder in Ansehung der gesamten möglichen Erfahrung überfliegend (transzendent), oder einheimisch (immanent) sein” (B 671). Am Ende der transzendentalen Dialektik warnt Kant vor der transzendenten Erkenntnis als “wahre Ursache des Scheins”; in der Auflösung “unserer transzendenten Erkenntnis in ihre Elemente” liegt aber für das “Archiv der menschlichen Vernunft” die Möglichkeit einer “Verhütung künftiger Irrungen” (B 731 f.).
In diesen Kant-Passagen liegt der Ursprung einer für die deutsche Geistesgeschichte folgenreichen Wendung. Jean Paul ist der geniale Umsetzer, ironische Popularisator in seiner berühmten Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei.3 Diese erklärt nicht philosophisch, sondern schildert den Verlust Gottes als ein absurdes Traum-Stück, als unheimliche Dichtung mit offenen Gräbern und niemandslosen Schatten und zerstückelten Körpern. Die toten Kinder fragen Christus: “‘Jesus! haben wir keinen Vater?’. Und er antwortete mit strömenden Tränen: ‘Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater’ / Da kreischten die Misstöne auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermesslichkeit vor uns vorbei.. . ” Christus selbst schaut in Abgrund und Chaos, erhob die Augen zum Nichts und sagte: “Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall!” (S. 274). Gott ist tot, keine Paradiesvorstellung rettend, alles Leben stirbt, alles ist von mineralischer Kalte, wenn die spekulative Vernunft jenes Wesen “von Ewigkeit zu Ewigkeit” (Kant) verschwinden lässt, wenn alles haltungslos vor der spekulativen Vernunft schwebt.
Unendlichkeit öffnet sich bei Jean Paul, alles ist nur zufällig, ohne göttlichen Plan: “Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest … Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des All! Ich bin nur neben mir” (S. 274) – Angst vor der Leere, vor dem horror vacui der Newtonschen Welt, wird zur raffinierten Wendung des romantischen Doppelgängermotivs. Rettend ist beim Pastor Jean Paul allein das Erwachen, glücklicherweise war alles nur Einbildung und Alptraum, noch scheint die Sonne im Abendrot. Er beschreibt nicht ohne Ironie eine biedermeierliche Stimmung im Feierabend-Ausklang: “glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren … um mich flossen friedliche Tone aus, wie von fernen Abendglocken”, zeigt die Schwierigkeiten mit und die noch größeren ohne Glauben, denn so Jean Paul einleitend: “Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner.”
Negativität, Simulation und Proportion – aktuelle Kunst
Nicht Soziologen, keine Politikwissenschaft, keine “noch so geschickt geschneiderte Zivilreligion”, nicht jenes “Moment Unbedingtheit, das in den transzendierenden Geltungsansprüchen der Alltagskommunikation beharrlich zur Sprache kommt”, ist ausreichend – so Jürgen Habermas im Merkur– Essay. Eine “andere Art von Transzendenz ist in dem Unabgegoltenen bewahrt, das die kritische Aneignung identitätsbildender religiöser Überlieferung erschließt, und wiederum eine andere in der Negativität der modernen Kunst”. Habermas erläutert und schließt so die Passage:
“Das Triviale muss sich brechen können am schlechthin Fremden, Abgründigen, Unheimlichen, das sich der Assimilation ans Vorverstandene verweigert, obwohl sich hinter ihm kein Privileg mehr verschanzt.”
Konkretion muss ausbleiben, wäre ‘ausgepinselte Utopie’, historische Festlegung. Der Bruch am Fremdartigen und unheimlich Abgründigen erinnert einerseits an Edgar Allan Poes große Visionen des modernen Schauders, der neuentdeckten Welt des Schwindels, verweist andererseits auf den Schwulst des Historismus, wo das nach neuer Form Drangende ins ikonographische Muster zurückgewoben, Kunst dämonisch, symbolisch oder orphisch überhöht, verklart wurde.
Eine andere, Habermas näherliegende Position ist Adornos 4 Deutung des Fremden und Abgründigen als Negativität der Kunst, als “Methexis am Finsteren”. Radikale Kunst, so in seiner Ästhetischen Theorie, “heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz… Das Ideal des Schwarzen ist inhaltlich einer der tiefsten Impulse von Abstraktion. ” Baudelaire ist Statthalter dieses Unheimlichen, das in der Nachkriegszeit im absurden Theater von Beckett radikal-individuierte Formen an Einfachheit und Reduktion, Malone und Endspiel entwickelte.
Ein ‘Ideal des Schwarzen’ ist präsent in zeitgenössischer und aktueller Kunst von Ad Reinhardt, Blinky Palermo bis Günther Förg und Gerhard Merz. Doch nicht in Adornos Sinn als finsterer Klang – eher als ein heller, rationaler Impuls, Form/Farbe in einfachem Gebilde höherer Art. Unbeachtet bleibt Adornos traditionelle Trennung: “Das scheidet die Kunstwerke von den Symbolen der Religionen, welche Transzendenz der unmittelbaren Gegenwart in der Erscheinung zu haben beanspruchen. Das Nichtseiende in den Kunstwerken ist eine Konstellation von Seiendem” – so puristisch und beschädigt ist aktuelle Kunst kaum. Malewitschs monochrome Spannungsformen, sein schwarzes und rotes Quadrat, sein Weiß in Weiß gelten heute als visionäre Erscheinung, sind Ikonen der Moderne und Heutzeit. Sie werden nicht als finster, sondern licht, nicht als ursprünglich, sondern als formal-transzendent wahrgenommen; die eingelöste Moderne wird zum Prozess von rationaler Ästhetik.
Heute, wo europäische Politik demokratisierte Diplomatie, Realprozess herrschaftsfreier Kommunikation” ist, hat gewalttätige Geschichte ausgedient (kein Nachweis der Inexistenz); eine ideologisch überfrachtete Position verschwand auch im 1989. Die friedliche Veränderung liquidiert aggressive Spannungen und Geschichte als Erzählung primitiver Helden- und Gewalttaten. Das von Habermas schon vor Jahren initiierte Modell einer “kommunikativen Vernunft” entpuppt sich als die richtige Strategie zur ideologischen Scheuklappen-Demontage. Verschwinden dadurch auch die von Habermas für die Kunst beschworenen, abgründig-unheimlichen Negativitätskategorien? Vielleicht liegt im Ausbleiben eine Ursache für das Entstehen von Beschreibungs-Kategorien, die als Überlagerungen der Realität funktionieren, vielleicht ist die richtige Übersetzung von aktueller Simulation: konfliktfreies Wi(e)derspiegeln, Kunst als Happy-End.
Als Simulation lässt sich die neuere New Yorker Kunst eines Jeff Koons oder Haim Steinbach deuten: Alltag, Realität, der Glanz der Konsumgegenstände wird zum Halbgefrorenen: Staubsauger, Mixer, Accessoires fürs Büffet, der Kitsch aus den Souvenirläden werden aseptisch arrangiert, dupliziert oder in veredelndem Material abgegossen. Sie bleiben aber Gegenstände an sich, unhinterfragt sind formale Prinzipien: radikal an Jeff Koons Position ist die Künstler-Attitüde: ausgeschaltet wird die Künstlerhand. Kunst wird ein dem Atelier ferner Prozess: Werke werden direkt bei bayerischen Herrgottsschnitzern, bei südtiroler Kitsch-Keramikern bestellt. Diese erfüllen eine geschmackliche Erwartung, garantieren den sorbetartigen Frisson eines kaloriearmen Zynismus. (Dass aus subtil-differenzierender, affirmativer Strategie wichtige Kunst entsteht, das zeigen die Werke von Andy Warhol, denen eine ästhetische Dauer da zukommt, wo Realität minimal differenziert ist.)

Überlegt man sich das Schema von Realität und Wahrnehmung, von Irdischem und Idealem, wird dies als geschichtlicher Rundgang simpel so zu fassen sein, wie das erste Schema veranschaulicht. Der Begriff einer Simulation lässt sich nur bedingt auf Kunst anwenden, da Kunst allemal simulierter Prozess ist und war. Solange Kunst als abhängig, dienstbar als unmittelbare oder vermittelte Magd von Politischem, Psychischem oder Soziologischem angesehen wurde, verblieb sie Ausdruck von Alltags-Realität.

Der Kunst der Moderne ist Autonomie Garant für Souveränität und Eigen-Gesetzlichkeit (eine härtere Prüfung als der stumpfe Wetzstein des Realen), für Entwicklung und Veränderung. Das zweite Schema vermag andeutungsweise mit den drei Ebenen (A, B, C) auf ein mögliches Abhängigkeit- und Zuordnungsverhältnis verweisen, soweit qualitative Zuordnungen in einer Welt sinnvoll sind, wo alles zur bitmässig-immateriellen, quantitativen Information gerinnt. Der Übergang von der B- zur C-Ebene zeigt Position avancierter Kunst heute: durch ästhetische Relationen, durch formale “Anordnungs-Notwendigkeiten” (Gerhard Merz) werden Ideale profan und Formen absolut. Kunst wird spirituell als reines Decorum, die subtilste Aufgabe einer rücksichtslosen Kunst, die als geistige irdisch, nicht ferner Abglanz einer jenseitigen Ewigkeit m Gegenwart ist. Kunst pur und professionell setzt neuartig eine ‘Ikonographie des Abstrakten’, keine Iconographia eines Cesare Ripa kann die Relationen von Form und Farbe, von Bild und Raum, einer dritten Position, von Archipittura verzeichnen.
Kants “kopernikanische Wende” war Metapher für veränderte Sicht und Einsicht. Die aktuellen Veränderungen in Politik markieren das Ende der Nachkriegszeit und das Ende der Nachkriegszeit- Kunst. – Die Trompeten von Jericho haben m Berlins Mauerspechten ihre irdisch-profane, monotone Simplizität und Vergeblichkeit (hinter der Mauer ist eine andere Mauer). Die Veränderung nötigt zur Wende, zum Wechsel unserer Optik; alles ist offen, autonom für eine Kunst als Kunst!
Anmerkungen
1 Jürgen Habermas, Volkssouveränitat als Verfahren, in: Merkur, Heft 6/1989, S. 477.
2 Gemeint ist das “Unvollkommene Gedicht über die Ewigkeit”^ von Albrecht von Haller (‘Bern 1732) :”Ich häufe ungeheure Zahlen, / Gebirge Millionen auf, / Ich setze Zeit auf Zeit / Und Welt auf Welt zu Hauf, / Und wenn ich von der grausen Hohe /Mit Schwindel wieder nach Dir seh; / Ist alle Macht der Zahl, / Vermehrt zu tausendmal, / Noch nicht ein Tell von Dir.”- Hegel kritisierte die Häufungen als einen nur “quantitativ unendlichen Prozess” als “schlechte Unendlichkeit” (Enz. § 104, Zusatz 2).
3 Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab( 1790), in: Werke Ed. Miller/ Höllerer, Band 3, München/Wien 1975, S. 272ff. – Die Deutungen von F. Nietzsche bis Walter Rehm und Hans Sedlmayr in: J. S., Vertigo – Schweben und Stürzen, Ikonographie des Abstrakten, München 1990 (im Erscheinen).
4 Theodor Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M 1970, S. 204 und S. 65.
Schmied, Wieland, Schilling, Jürgen, Gegenwart Ewigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Stuttgart 1990, (Edition Cantz), Pag. 105-109
