Psalmen – Sprache der Psalmen
3. DAS WORT GOTTES p. 278
der Episode letzte Weisheit, daß sie nicht Episode bleiben dürfe. Das Schattenreich der Kunst, das den Idealismus über die Leblosigkeit seiner eigenen Welt hatte hinwegtäuschen müssen, – es verlangt selber nach Leben. Pygmalion selbst kann seinem Werk kein Leben einbilden, so sehr er sich müht; erst wenn er den Meißel des Bildners weglegt und, ein armer Mensch, auf seine Kniee sinkt, erst dann neigt sich die Göttin ihm hernieder.
Wie die Schöpfung uns in diesem Teil nicht mehr Vor-welt war, sondern Inhalt der Offenbarung, so war uns auch die Erlösung noch nicht Über-welt, sondern wir nahmen sie gleichfalls nur als Offenbarungsinhalt. So wie die Schöpfung als Inhalt der Offenbarung uns aus einer Welt zu einem Geschehen, einem Schon-geschehen- sein wurde, so die Erlösung ebenfalls aus einer Überwelt zu einem Geschehen, einem Noch-geschehen-werden. Die Offenbarung sammelt so alles in ihre Gegenwärtigkeit hinein, sie weiß nicht bloß von sich selbst, nein: es ist „alles in ihr“. Sie selber ist sich unmittelbar gegenwärtiger lyrischer Monolog zwischen Zweien. Die Schöpfung wird in ihrem Mund Erzählung. Und die Erlösung? Nicht etwa Weissagung. Die Weissagung ist das Band, das diese ganze Mit- und Umwelt des Wunders, als die wir die Offenbarung ansprachen und zu der auch Schöpfung und Erlösung als wunderbare Inhalte der Offenbarung gehörten, in ihrer lebendigen Tatsächlichkeit mit der Vor und Unterwelt der stumpfen, stückwerklichen Tatsächlichkeit verknüpft. Auch die Erlösung ist, insofern sie ein notwendiger Inhalt der Offenbarung ist, mit der Vor-welt der Schöpfung verbunden, als Deutung der in dieser Vor-welt verborgenen Zeichen; hebt doch die Erlösung nur in den Anblick alles Lebendigen, was in der eigentlichen Offenbarung als unsichtbares Erlebnis in der eigenen Seele vor-gegangen war.
DIE SPRACHE DER PSALMEN p. 278
Nicht die Prophezeiung also ist die besondere Form, in der die Erlösung Inhalt der Offenbarung sein kann, sondern es muß eine Form sein, die der Erlösung ganz eigen ist, die also das Nochnichtgeschehen-sein und Doch-noch-einst-geschehen-werden ausdrückt. Das ist aber die Form des gemeinsamen Gesangs der Gemeinde.
Die Gemeinde ist nicht, noch nicht, Alle; ihr Wir ist noch beschränkt, es ist noch verbunden mit einem gleichzeitigen Ihr; aber sie beansprucht, Alle zu sein – dennoch. Dies Dennoch ist das Wort der Psalmen. Es macht die Psalmen zum gemeindegesangbuch, obwohl die meisten in der Ichform sprechen. Denn das Ich der Psalmen ist, obwohl ganz wirkliches einzelnes Ich und in allen Nöten eines einsamen Herzens verstrickt, in alle Engen einer armen Seele gefesselt, dennoch, ja dennoch ein Glied, nein mehr als Glied, der Gemeinde: „Israel hat dennoch Gott zum Trost“ ist der Leitspruch des Psalms, der für den individuellsten gilt. Das Ich kann nur deswegen ganz Ich sein, ganz in die Tiefen seiner Einsamen – so nennt der Psalmist seine Seele – hinabsteigen, weil es sich erkühnt, als Ich, das es ist, aus dem Mund der Gemeinde zu sprechen. Seine Feinde Gottes Feinde, seine Not unsre Not, seine Rettung unser Heil. Diese Steigerung der eigenen Seele zur Seele Aller gibt erst der eigenen Seele die Kühnheit, ihre eigene Not auszusprechen – weil es eben mehr ist als bloß die eigne. In der Offenbarung wird die Seele stille; sie gibt ihre Eigenheit preis, auf daß sie ihr vergeben werde; der von Gottes Liebe Erwählte verliert seinen eignen Willen, Freundschaft, Haus und Heimat, indem er Gottes Befehl vernimmt, das Joch der Sendung auf seine Schultern auflädt und hinausgeht in ein Land, das Er ihm zeigen wird. Indem er aber damit aus dem Zauberkreis der Offenbarung in das Reich der Erlösung eintritt und sein unter der Offenbarung aufgegebenes Ich zum Wir Alle erweitert, erst da kehrt ihm all sein Eignes wieder, aber nun nicht mehr als sein Eignes, nicht mehr als seine Heimat, Freundschaft und Verwandtschaft, sondern als das Eigne der neuen Gemeinschaft, die Gott ihm zeigt und deren Nöte seine Nöte, deren Wille sein Wille, deren Wir sein Ich, deren – Nochnicht sein Dennoch wird.
So ist es in dem Buch der Psalmen die Gruppe der reinen Wir-Psalmen, in denen der tiefste Sinn des Psalms ganz licht und offenkundig wird, jene Gruppe vom hundertelften bis zum hundertachtzehnten, das große Lobsingen, dessen Kehrreim wir schon als den Stammsatz der Erlösung kennen lernten. Das Wort Psalm selbst heißt ja in der heiligen Sprache nichts andres als „Lobgesang“, ein Wort von der gleichen Wurzel wie jenes „Lobsingen“. Und in dieser Gruppe ist es wieder das mittelste Stück, der hundertundfünfzehnte.
GRAMMATISCHE ANALYSE DES 115. PSALMS p.280
Er beginnt und schließt als einziger unter allen Psalmen überhaupt mit einem gewaltigen betonten Wir. Und von diesen beiden Wir steht das erste im Dativ, im Dativ schlechtweg, nämlich unmittelbar abhängig von dem Wort „Geben“. Es wird um das Kommen des Reichs gebetet; denn die Wir setzen sich und die Ehre, die sichtbare Herrlichkeit, die sie für sich erbeten, gleich mit der Ehre des göttlichen Namens; sie tun es in der einzig zulässigen Form: indem sie die Gleichsetzung zugleich ausdrücklich verneinen: Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre! So wird das Wir in einem Atemzug in die Vollendung der unmittelbaren Nähe zu dem göttlichen Namen gerückt und von diesem Ende wieder in das Nochnicht der Gegenwart – „nicht uns, sondern“ – zurückgezogen. Diese Nähe aber, dieses bei Gott Sein des Wir ist ganz objektiv gemeint, ganz sichtbar: nicht bloß „um seiner Liebe willen“ soll Gott das Gebet erfüllen; in der vertrauten Zweisamkeit seiner Liebe stiftete ja schon die Offenbarung solche Nähe; sondern „um seiner Wahrheit willen“; die Wahrheit ist offenkundig, sichtbar vor den Augen alles Lebendigen; es ist eine Forderung an die göttliche Wahrheit, daß den Wir dereinst Ehre gegeben wird.
Aber weil sie ihnen in der Zeit noch nicht selber gegeben werden darf, weil also die Wir noch nicht Wir alle sind, so scheiden sie aus sich aus die Ihr. Und weil der Psalm das bei Gott sein der Wir vorwegnimmt, so sieht er die Ihr unwillkürlich mit Gottes Auge an und sie werden zu Sie. Es ist dies der einzige Zusammenhang, in welchem die Psalmen den bei den Propheten vielfach wiederkehrenden Spott gegen die Götzenbilder übernehmen, in denen das Leben der göttlichen Liebe zur taub-blinden Tat- und Sprachlosigkeit erstarre; aber die Kampfstimmung, welche die Gegenüberstellung der toten Götzen einer „gleich also“ toten Welt und des lebendigen Schöpfers Himmels und der Erde anfangs noch beherrscht, erlischt mitsamt dem Spott in dem mächtigen Triumph des Vertrauens. Hoffendes Vertrauen ist das Grundwort, worin die Vorwegnahme der Zukunft in die Ewigkeit des Augenblicks geschieht.
Gegen das betrogene Vertrauen der Ihr erhebt sich in drei Stufen das Vertrauen der Wir auf den Gott, der auf jeder der drei „Hülfe und Schild“ ist: Israel traut, die Gemeinde der Wir, wie sie als Gottes erstgeborener Sohn unterm Herzen seiner Liebe ruhte; es traut Aarons Haus, die Gemeinde, wie sie sich priesterlich verfaßt für den Weg durch Welt und Zeit der Ihr; und es trauen – der feststehende Name für die Proselyten: – die den Ewigen fürchten, die einstige messianische Gemeinde der Menschheit, der Wir Alle. Aus dem Triumph des Vertrauens, das die künftige Erfüllung vorwegnimmt, steigt nun in genau entsprechendem Aufbau das Gebet, das sie erbetet, wieder Israel, Aarons Haus, die Ehrfürchtigen Alle – „Klein und Groß“.
Und nun singt der Chor das Wir dieser Erfüllung: das Wachstum des Segens Schritt für Schritt, „je mehr und mehr“, von einem zum nächsten, von einem Geschlecht zum nächsten: er mehre, füge zu, euch, euch und euren Kindern. Denn wohl gegründet ist dies lebendige Wachstum des Segens von uran im Geheimnis der Schöpfung: gesegnet seid ihr dem Herrn, der Himmel und Erde geschaffen. Aber frei gegen dieses stille, selbsttätige Wachstum der Schöpfung bleibt das Liebeswerk des Menschen auf der Erde; er wirke es, als ob es keinen Schöpfer gäbe, keine Schöpfung ihm entgegenwachse: Die Himmel sind des Ewigen Himmel, aber die Erde gab er den Menschenkindern. Den Menschenkindern – nicht der Gemeinde Israels; in der Geliebtheit und im Vertrauen weiß sie sich allein, in der Tat der Liebe weiß sie sich nur als Menschenkinder schlechtweg, kennt sie nur den Irgendjemand, den andern schlechtweg, den – Nächsten.
Und so kommt die weltfreie Liebestat über die lebendig wachsende Schöpfungswelt. Aber dies Leben ist ja von der Schöpfung her dem Tod als seinem Vollender verfallen. Und wie denn? Nimmermehr stimmt doch das gestorbene Leben noch ein in den Lobgesang der Erlösung! Das gestorbene nimmermehr. Aber und nun in diesem Aber steigert sich der Chor zum ungeheuren Unisono des allstimmigen, alle künftige Ewigkeit ins gegenwärtige Nun des Augenblicks kohortativ hineinreißenden Wir: Nicht die Toten, wahrhaftig nicht – „aber Wir, wir loben Gott von nun an bis in Ewigkeit“. Dies siegende Aber – „Aber Wir sind ewig“ hat unser großer Meister als seiner Weisheit letzten Schluß ausgerufen, als er das letzte Mal vor Vielen über das Verhältnis seines Wir zu seiner Welt sprach. Die Wir sind ewig; vor diesem Triumphgeschrei der Ewigkeit stürzt der Tod ins Nichts. Das Leben wird unsterblich im ewigen Lobgesang der Erlösung.
DIE VEREWIGUNG DES WUNDERS p. 282
Dies ist die Ewigkeit im Augenblick. Ja im Augen-Blick. Dies ist das Schauen des Lichts, davon es heißt: in deinem Lichte schaun wir Licht. Das sei, so lehren die Alten, im Begriff der Erlösung Schöpfung und Offenbarung tiefsinnig verknüpfend, das Licht, das Gott ausschied in der Schöpfung, wo es heißt: Gott schied; damals habe er es ausgeschieden und aufgespart für seine Frommen zum Genuß in der künftigen Welt. Denn also allein wagen die Alten die ewige Seligkeit des künftigen Reichs zu beschreiben, die eine andre ist als der allzeit erneuerte Friede, den die einsame Seele in der göttlichen Liebe fand: es sitzen die Frommen, Kronen auf den Häuptern, und schaun in den Lichtglanz der offenbarwordenen Gottheit.
Rosenzweig, F., Der Stern der Erlösung (den Haag 1976) (Martinus Nijhof)