Edmond Jabès: over waarheid en taal en schrijven

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IN DER DOPPELTEN ABHÄNGIGKEIT VOM GESAGTEN
Edmond Jabès

. . . als wäre jegliche vom Buch verfrachtete Wahrheit- dieser Schattenbereich,
wo das Licht sich erschöpft – nichts andres als der
Zugang zum Tod, dessen Glück und Unglück, in einem, die Schrift
wäre; ein Tod, uns zugeeignet kraft einer jeden Vokabel, eines
jeden Buchstabens; durch Laute und Schweigen; wo der Sinn nur
noch das ist, was dem Abenteuer einen Sinn gibt. Als bräuchte dieses
Abenteuer im übrigen selbst, um einen Sinn zu gewinnen, den
tiefen Sinn der Wörter, ihre vielfältige Sinnfülle, die doch blass die
Lichtfülle ihres Strahlens ist.

So wird das Buch, getragen von seinen Vokabeln, kraft ihres intimen .s
Lebens leben und wird sterben an ihrem geteilten Tod.

So sind wir vorab geleitet, dann verlassen von jedem Sekundenbruchteil
unsres Lebens. So dass wir zum Schluss nur diese Verlassenheit
bezeugen können.

DER EINSATZ

Auf den Einsatz setzen, und nicht auf die Wahl, die ihn bedingt.

Eher für das sichere Risiko sich entscheiden als für den fraglichen Gewinn.

Den Einsatz retten vor der Wahl: Wirklichkeit des Schreibens.

Die Wette für die Wette – wie das Begehren für das Begehren, die
Liebe für die Liebe, das Abenteuer für das Abenteuer.
Da ja der Gegenstand nicht mehr der Einsatz, vielmehr der Vorwand ist.

Wo nichts zum Abschluss kommen kann, ist der Abschluss Beweis für die
vorbedachte Unabschliessbarkeit und, zugleich, für das Nichts.

Im Anfang war das Nichts, das keinen Anfang hat.

NAHE FERNE

<Ein Wort, mit all seinem Grün,
geht in sich, verpflanzt sich, folg ihm.>
PAUL CELAN (SCHNEEPART)

Und wenn die Entfernung ihre Stufen hätte; die Nähe ihre Grenzen?

Es gibt in Sachen Literatur zwei Arten von Entdeckungen zu machen: das
fertige Werk in seiner ganzen Unfertigkeit- vorgetrieben, kraft seiner
Unfertigkeit, bis in sein unausweichliches Extrem, sowie das Werk,
das seine immer wieder aufgeschobne Fertigstellung nur halbwegs
erreicht hat: beide haben sie mein Interesse; das eine wegen des
von ihm zurückgelegten Wegs, das andre wegen des von ihm
zurückzulegenden Wegs.

So manche Zitate von Autoren, mit denen ich Umgang hatte, so manche
von Tag zu Tag verfasste Notizen ruhen in meinen Schachteln.

Es gibt ein paar wenige Schriftsteller, Denker, Träumer, Dichter, die
mir die Augen geöffnet haben, und es gibt, im Nachgang zu ihnen,
jene, die es mir ermöglichten, die Augen offenzuhalten. Es gibt solche,
die ich unentwegt begierig lese, und andre, die ich nur bei
Gelegenheit vornehme. Junge Wortkünstler, denen ich mich
angenähert habe in den letzten Jahren, oder ältere Autoren, von
denen ich allmählich abgerückt bin.

Das geteilte Wort ist immer neu.

<Unser Blut als Belag für diesen Spiegel: schreiben.>
JACQUES DUPIN (DEHORS)
<Linien und Linien, weiss, die Weite nahm die Augen ein.>
EMMANUEL HOCQUARD
(ALBUM D’IMAGES DE LA VILLA HARRIS)
<Die Stimme hinter dieser Maske müsste man nachahmen … Und das Gesicht
eines andern müsste man bändigen.>
GÉRARD MACÉ (LEÇON DE CHINOIS)
<So ist nun der Augenblick für mein
Selbstbildnis gekommen.>
JACQURS RAUBAUD

“Es gibt nichts Geschriebenes
das die Zeit nicht verunklärt”

JEAN LAUDE (LE DICT DE CASSANDRE)
Blick des Buchs: Blick unsrer geschlossnen Augen.

<Halte dich an dein Buch.>
FRANZ KAFKA (TAGEBUCH)

DER PUNKT

<Ich ende. Die leichte Luft meiner
Endlichkeit schwellt bei jedem
Atemzug meine Lungen.
Meine Beziehung zum Unendlichen
durchläuft jede dieser Etappen,
jede dieser Fälligkeiten. Ich
lebe von meiner angebornen Fähigkeit,
ohne Unterlass zu sterben>,
sagte er.

Die Hebräer verglichen die Gegenwart mit einem Punkt; sahen in
ihm das Ende der Vergangenheit und den Beginn der Zukunft.

Als den allerkleinsten Kreis- ein neues Zentrum- habe ich, im Buch
der Fragen, den Punkt definiert. Punkt zum Vor- und zum Endspiel;
doch zu welchem Ende? Zweifellos zu dem, das hinter ihm gelassen
wurde von jeglichem Beginn; ein Haufen angekohlter Steine von
einem abgebrannten Bau.

Die Schrift kennt nicht die Gegenwart. Das erste Wort bricht mit der
Vergangenheit, um jungfräulich der fordernden Zukunft entgegenzutreten.

Mit frischer Tinte getränkt.

Jegliches Werden gründet in einem Unbekannten, das, sobald
bekannt, erneut zum uranfänglichen Mysterium wird.

Die Zukunft wäre bloss die Unkenntnis einer noch zu entdeckenden
Vergangenheit. Diese Unkenntnis ist das wahre Wissen, das in der
Nacht, zwischen den Sternen, seine Königswege bahnt.
Bleibt nur, diese Nacht zu erreichen.

Der Widerspruch, den die Befragung nährt, mündet nicht in das
Nichts, sondern in ein Unsagbares, das wir in Worte zu fassen hätten.

<Es gibt einen Wortsinn, der zu einem andern Sinn hinführt, der wiederum
zu einem dritten Sinn führt, der uns einsichtig macht, dass
wir noch auf der Schwelle zum Wort sind.

Alle Wortbedeutungen in einem einzigen Sinn zu erschöpfen, das
ist die Aufgabe des Schriftstellers>, sagte er.

Im Ganzen ist auch der Zerfall des Ganzen, so wie im Sein auch der
schicksalhafte Schwund des Seins ist. Welche Zukunft gibt’s dafür?
Ja, was ist es, das letztlich fortdauert?

(<Die Praxis der Unbeständigkeit ist gebunden
an die Praxis des Fragens: sie wird ausgeübt
im Heraustreten aus sich; im Verzicht
auf jegliche referentielle und denotative Endbestimmung,
die dem Imaginären zugehört;
in der Demut ihrer eignen, auf sie beschränkten
Notwendigkeit; in der Erfindung eines
Tods, der letztendlich das tragische Spiel
des Lebens ist.>
ADOLFO FERNANDEZ ZOÏLA)

(Das Wort ist nicht der Beginn, es ist das
Letzte. Es ist der vorherige Endpunkt, der
Aufgang zur fatalen Gefahr die zu laufen
der Mensch bereit sein ‘Wird.

Beginn und Ende des Geschriebnen sind nur
störende Wortbesessenheit, sind des Worts
falsche Mobilität)

Vielleicht habe ich in meinen Büchern auch nur versucht, das bedrängende
<Ich> loszuwerden zugunsten des beinah anonymen <Wir>.

Schreiben hiesse demnach bloss, allmählich dieser Anonymität sich anzunähern.

Der Andre sein und diesem zu erlauben, er selbst zu sein: dunkle Bahn der
Anonymität.

<Immer wird es, um dem Henker Widerstand zu leisten, ein zerknülltes
Blatt Papier geben, über dem ein feuchtes Wort, gleich einer späten Träne,
vergossen ward.

Ich bin die Durchsichtigkeit dieses Worts>, hatte er geschrieben.

<Pflanz einen Baum in die fruchtbare Erde deines Bluts. Auch die Seele
braucht Schatten>, sagte er.

<Die Anziehung, die das Gute auf das Gute ausübt, ist gleich der, die das
Böse auf das Böse ausübt: eine endlose Anziehung>, sagte er noch.

<Das Buch>, so hatte er notiert, <öffnet sich nicht von links nach rechts
und auch nicht von rechts nach links, sondern von oben nach unten: eine
Seite im Himmel, eine Seite im Staub.>

Das Gute ist, in den Augen des Bessern, Enttäuschung des Guten.

<Mein Bett war der platte Stein meines Wegs.
Findest du, das sei gerecht?>

<Dies ist gerecht, denn um des nachts die Ruhe zu geniessen, hat’s dir nie
an Stein gefehlt.>

Wunder gibt es nur für die Armen.

<Welche Bleibe soll man dem anbieten, der keinen Frieden gekannt hat?>
pflegte er zu sagen.

Ihm wurde geantwortet: <Solang die Nacht der Nacht sich entsinnt
und der Tag des Tags, wird es für sie kein Rasten geben.>

FREIE HAND

Wer es dem Schriftsteller überlässt, sein Schaffen für uns zu kommentieren,
verbannt ihn gewissermassen aus seinen Werken.

Auf den ersten Blick könnte dies widersinnig erscheinen, denn
wenn man ihn um die Erfüllung dieser Aufgabe bittet, dann doch
eben deshalb, damit er uns- wie die Ortsherrschaft ihre Besucherin
seine Bücher einführe.

Allerdings findet sich der Schriftsteller, vor seinem Text, in der gleichen
Lage wie der etwaige Leser; bietet sich uns der Text doch stets
so dar, wie wir ihn lesen können. Er ist noch jedesmal der Text unsrer
Lektüre, das heisst ein neuer Text.

Der Schriftsteller schreibt sich beim Lesen, der Leser liest sich im
Geschriebnen.

Beiläufig gibst du deinen Namen ab.

Gross ist der Spielraum zwischen freier Hand und weissem Blatt.
Freilich wird man mich nicht in diesem Spielraum finden können,
sondern in dem noch weissern Raum, der das gesprenkelte vom
durchsichtigen Blatt trennt; die geschriebne Seite von der zu schreibenden
Seite: mithin in diesem unendlichen Raum, wo der Blick
dem Blick und die Hand der Feder zurückerstattet ist; wo alles, was
man schreibt, beim Schreiben selbst verwischt wird; während
unmerklich im Buch, das man nie vollenden wird, das Buch entsteht.

Da ist meine Wüste .

(Der Unterschied zwischen der
Lektüre des Autors und der des
Lesers liegt vielleicht im Wagnis
einer ersten blinden Lektüre, aus
der das Buch entstehn wird, für
das allein der Autor Verantwortung
trägt, und der Chance einer
jeden andern Lektüre, welche
ausgehend vom Text, den der Leser
sich angeeignet hat, eben
diesem Text eine unvermutete
Dimension geben wird.

Eine Lektüre alm vor dem Buch,
die des Autors, und eine Lektüre
nach dem Buch, die des Lesers.

Am Grund des Ozeans fasziniert
den Schriftsteller ein unentzifferter
Text; was für den Wagemut
seiner Tauchgänge spricht! Und
wenn die Wörter, die er mitbringt,
schwarz sind, so zweifellos
deshalb, weil die Tinte, sind
sie einmal, wie achtsame Kraken,
aufgetankt mit Gift, ihre
verblüffende Waffe ist.

Die Lektüre ist Tochter des
Lichts.)

Mit jedem Schritt vernichtet das Buch ein wenig mehr das Modell,
dem es sich anzunähern meint

0 Einsamkeit des Zeichens.

VON DER BERECHTIGUNG DES WOHLBEHAGENS:
SEIN NÄCHTLICHER ANTEIL

<Falls Gott eine Erfindung ist- erhabene
Erfindung-, wer gibt dann dem
Wort Authentizität?>
GEORGES AUCLAIR (CONVERGENCES?)
Was wäre an meinen Büchern vorzuziehn, wenn nicht das, was sich
der Bevorzugung entzieht?
<Morgen des Missbehagens; schwarze Hölle des Wohlbehagens.
Ich ruhe des nachts auf Myriaden von Feuerzungen.
Sterne. Sterne … >, schrieb er.

Das Denken wächst im Missbehagen seines Schattens.
Oh, könnte man, so wie es, wogen! Die Dunkelheit trägt uns.

Es gibt Bäume, von den Jahreszeiten unbeachtet, deren Früchte
uns geweiht sind. Bäume versteinerter Wälder mit grossen Blättern,
die aussehn wie seltsame Grabsteine. Leg dich unter sie.
Hier stirbt man stufenweise.

Wie Tränen durch die Unendlichkeit oder Wassertropfen durch die
Zeit ist das <DU> vom Ich> getrennt; jedoch mit ihm vereinigt auf ein
gleiches Schicksal hin.

Was zum Fliessen bestellt ist, gibt dem Fliessen recht. Ist seine
Berechtigung.

Man kann einzig die Einheit erfassen. Der Zerfall ist innerlich.
Der Augenblick öffnet das Buch. Die Ewigkeit überrascht es. Schatten
und Licht sind deren Trümpfe.
Du schreibst auf zwei unterschiedlichen Ebenen, in zwei unversöhnlichen Zeiten.

Stets pünktlich ist der Tod entweder zur unverrückbaren Zeit der
Vergangenheit oder zur gesteckten Stunde der Zukunft.

Der Marmor ist unser gebrochner Mast.
Das All ist ein fixer Punkt. Gott ist dieser Punkt.

Alles bewegt sich, weil es sich niemals bewegt hat. Schreiben, schreiben.
Allein das Schreiben ist Bewegung.

Solang die Intoleranz auch nur eines einzigen Menschen Zustimmung
hat, wird sie weiterhin ihre fettesten Jahre erleben.

<Was geht uns euer nachträglicher Unmut oder euer gelegentliches
Weinen an?
Trocknet eure Tränen. Kehrt schleunigst zu euren Alltagsbeschäftigungen
zurück.
Ihr werdet euren Verantwortlichkeiten uns gegenüber dann nur
entkommen, wenn ihr euch hinter den Vorwänden verschanzt, die
euch rechtfertigen. Reingewaschen von jeglichem Verdacht. Mit
einer Schwemme von Wasser.>
<Schmutziges Wasser. Schmutziges Wasser>, schrien die Gemarterten.

Mensch, was du auch sagst oder tust, du bist Komplize. Die Zukunft
wird sich für oder gegen dich aussprechen.

Man gibt vor, über eine Ungerechtigkeit sich aufzuregen, tatsächlich
regt man sich bloss über das auf, was unverhofft, für einen
Augenblick nur, das Wohlbefinden störte, dem man gerade hingegeben
war.

<Den Opfern das Sterben beizubringen im Respekt vor ihren Herrschaften,
dies ist das oberste Anliegen des Henkers>, hatte er
notiert.

Auch der Unmut hat seine tolerierten- seine tolerierbaren- Abstufungen.
Hatten wir es nicht zur Genüge unterstrichen?

Allein sich selbst gegenüber ist man wirklich aufmerksam, seinem
eignen nächsten Abglanz gegenüber.
Der Andre ist der Eindringling, der die Gegebenheiten verfälscht.
Er gibt vor, den Andern zu lieben; er liebt, durch dessen Vermittlung,
allein sich selbst.

Die, welche sich gegen die Intoleranz auflehnen, sind oft die Intolerantesten.

<Welchen Anteil an Verantwortung habe ich gegenüber andern?
den, welchen ein Baum gegenüber dem Wald haben könnte.
Wir sind gepflanzt>, sagte er.

Jemand anders ist mein Gesicht, und ich vernichte ihn.

Partei zu ergreifen, das ist bereits eine Form von Intoleranz; wie
aber entzieht man sich ihr?

Er sagte, er nehme mich an, so wie ich bin, und er verweigerte den
Austausch: er fürchtete, für einen andern gehalten zu werden.

Man sucht mit Worten das zu verknüpfen, was die Kraft der Leichtigkeit
für sich hat und immer wieder an die Oberfläche steigt.
Freilich kommt es vor, dass diese blaue Wassermasse mit Blutflecken
übersät ist.

Sich zu entschuldigen ist für die Entschuldigung untragbar, wenn
dieser Akt nicht durch ein Übermass an Toleranz gerechtfertigt ist.
Die Güte wird nicht nach ihren Schwächen bemessen.

Den Andern voll anzunehmen ist ebenso schwierig wie sich selber
anzunehmen. ln dieser Schwierigkeit liegt die ganze Last unsrer Einsamkeit.

Die Brüderlichkeit besteht nicht in der dem Andern dargereichten
Hand; sie ist die Hand, die selbst den halben Weg zur Freundeshand
auf sich genommen hat: eine glückliche oder auch eine unglückliche
Liebesgeschichte.

Bleib. Selbst wenn du nicht sicher bist, ob ich da bin. Du wirst mich
finden.

Gottes Triumph. Jegliche Abwesenheit ist Anwesenheit fürs Nichts,
ist ein Aufwachen für die Leere.

Das Denken- wie die Freiheit, die Liebe, der Hass- verwirft jegliches
Band, um selbst das seine zu knüpfen.

An das gebunden sein, was wir mit eignen Händen binden, und
nicht an das, was uns zu binden bestrebt ist: Festigkeit der Verbindung.

<Such nicht die Sonne hinter den morgendlichen Nebeln, die sie verbergen,
du würdest riskieren, durch ihre Dichtigkeit hindurch Mass
zu nehmen an deiner Ohnmacht- in ihrer täglichen Grausamkeit>,
pflegte er zu sagen.
Und er fügte hinzu: <Das Graue ist grausamer als das Schwarze,
denn es lässt die Hoffnung zu.>

Was hat man, von sich selbst, weiterzugeben? – Ohne Zweifel
nichts; jedoch ist dieses Nichts alles, was wir besitzen.

Die Hoffnung ist ein Aufstieben von welken Blättern; das Rascheln
ihres Goldschimmers im Wind.


DIE MAUER

<Abwesend überall dort, wo ein
Abwesender gefeiert wird.>
RENE CHAR

<Beidseits der Mauer hätten wir
uns umsonst bemüht, ihrer unerträglichen
Einsamkeit ein gemeinsames
Wort abzugewinnen>,
sagte er; wobei er vergass,
dass wir es der Einsamkeit
gemeinsam zurückerstatten.
<All diese Mauern, die hier sagen,
jetzt.>
<Keine Entlastungsmauer. Keine
Mauer, die nicht von Ablehnung
kündete.>
<Fliessende Mauergrenze, bestritten
oder verstärkt, gehasst,
erhofft, als hiesse dort zu sein
vorab zu zögern zwischen Erstickung
und Verdampfung im
Raum.>
MARCEL COHEN (MURS)

<Deine Tinte lernte die Gewalt
der Mauer.>
PAUL AUSTER (UNEARTH)
<Ich schreibe auf die Mauern die
Worte, die sie uneinnehmbar
machen.>
JACQUES DUPilN (L’EMBRASURE)

<Keine Mauer; kein Schweigen
mehr. Wir haben alles auf ein
jenseitiges Schweigen gesetzt.>
MARCEL COHEN (MURS)
Einer jeden Träne ihre Mauern. Die Höhe der Mauer ist Mass toten
Schmerzes.

Das Blut der Mauer ist der Kalk; Vollblutkruste.

Die Rede des Steins an den Stein ist Rede von Zement oder- von Staub.

Der Stein ist beredter als der Weg.

Dem, was nicht das Buch wäre, sondern der Stein des Buchs; dem,
was nicht der Stein wäre, sondern die Durchsichtigkeit des Buchs;
dem, was nicht die Durchsichtigkeit, sondern das Jenseits des Horizonts
des Buchs wäre, lässt allein das Schweigen sich vernehmen.
Dieses Schweigen zu schreiben, wo die Wunde niemals zu bluten
aufgehört hat und niemals je versiegen wird, hat Marcel Cohen
unternommen um den Preis einer Morgenröte, um den Gewinn
einer gestirnten Nacht.
Geblendet Blind. Überwältigt.

Blick nicht vor, nicht hinter dich, sondern in dich. Da ist der Ausgangspunkt.

Nur für einen Schmerz aufs Mal gibt’s einen Platz: ein Buch.

Der Stein ist schwer von der ganzen in ihm ruhenden Geduld des
Tods.

ln welchen unbekannten, stürmischen Extremen des Geists und des
Lebens zeichnet sich das sonnenhafte Lächeln des ewig Vogelfreien
ab?
Regenbogen. Regenbogen.

So viele Tränen, die das Licht einfärbt, die die Nacht nachzählt!

<Einen Nagel in die Mauer schlagen bedeutet immer nur ein Loch
stopfen>, sagte er.

Die Macht des Denkens wird über unsern Abgründen ausgeübt. Lass
dich nicht täuschen durch deren Ähnlichkeit. Du würdest den deinen
nicht wiedererkennen.

Die Frage ist die starke Phase des Dialogs; die Antwort – seine
schwache Phase.
Aus dieser Schwäche erwächst die Frage.

(<Ich widersetze mich, in der
Vorahnung jedoch, dass die
Nachgiebigkeit der Hoffnung
selbst innewohnt; dass die hellere
Welt, die für immer mein
sein könnte, nach der Grenzüberschreitung
jeden Tag mehr
bedroht ist.>
MARCEL COHEN [MURS]

Erst das Leck, dann der Riss,
nirgends die Verankerung. In
keinem Augenblick der beruhigende
Verzicht.)

Kann man den Himmel vom Himmel trennen?
So ist es mit dem Sand:
mit dem Sandkorn, das im Himmel ist,
mit dem Himmel, der im Sandkorn ist.
Das Unendliche ist Bündnis.

<Allein die Augen vermögen noch einen Schrei auszustossen.>
RENÉ CHAR
<Asche, was standhält.>
DIDIER CAHEN

< … du sollst nicht
aufsehn zum Himmel, du Iiessest
ihn denn, wie er dich, im Stich, neben-lichtig.>
PAUL CELAN (SCHNEEPART)

<Wir können nur im Dazwischen leben, genau auf der Trennlinie des
Schattens und des Lichts. Doch wir werden unwiderstehlich nach
vorn geworfen. Unsre ganze Persönlichkeit verhilft diesem Trieb
zum Schwinde.>

<Die Wahrheit braucht zwei Gesichter: eines für unser Fortgehn, das
andre für unsre Heimkehr.>
RENE CHAR

<Der Brunnen der Wahrheit ist eine ganze Ästhetik.>
MAX JACOB (BRIEF AN E.J.)

<Die Idee ist nie lauter genug. Der Forscher bringt soviel Klarheit
hinein, dass schliesslich die Worte die Sache ausblenden.>
GEORGES AUCLAIR (LE MÊME ET L’ AUTRE)
ERINNERUNG AN PAUL CELAN

An jenem Tag. Dem letzten. Paul Celan bei mir. Sitzend an dem
Platz, den nun meine Augen lang festhalten.

Worte, aus der Nähe gewechselt. Seine Stimme? Sanft, die meiste
Zeit. Und gleichwohl ist es, heute, nicht sie, die ich vernehme, sondern
das Schweigen. Nicht ihn sehe ich, sondern die Leere, dies vielleicht
deshalb, weil wir beide an jenem Tag, ohne es zu wissen,
grausam in uns selbst zugang waren.
Textauswahl und Übersetzung aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold

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