Adorno selectie Minima Moralia

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Vor allem eins, mein Kind. – Die Unmoral der Lüge besteht nicht in der Verletzung der sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat am letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihre Zwangsmitglieder dazu verhält, mit der Sprache herauszurücken, um sie dann desto zuverlässiger ereilen zu können. Es kommt der universalen Unwahrheit nicht zu, auf der partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteil verkehrt. Trotzdem haftet der Lüge etwas Widerwärtiges an, dessen Bewußtsein einem zwar von der alten Peitsche eingeprügelt ward, aber zugleich etwas über die Kerkermeister besagt. Der Fehler liegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer lügt, schämt sich, denn an jeder Lüge muß er das Unwürdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zum Lügen zwingt, wenn er leben will, und ihm dabei auch noch »Üb immer Treu’ und Redlichkeit« vorsingt. Solche Scham entzieht den Lügen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht, und damit wird die Lüge recht eigentlich erst zur Unmoral am anderen. Sie schätzt ihn als dumm ein und dient der Nichtachtung zum Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, daß einem nichts an ihm liegt, daß man seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er über einen denkt. Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Vor allem eins, mein Kind. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1677

(vgl. GS 4, S. 31 ff.)]


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Le bourgeois revenant. – Absurd hat in den faschistischen Regimes der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die obsolete Wirtschaftsform sich stabilisiert und das Grauen vervielfacht, dessen sie bedarf, um sich aufrecht zu erhalten, nun ihre Sinnlosigkeit offen zutage liegt. Davon aber ist auch das Privatleben gezeichnet. Mit der Verfügungsgewalt haben sich zugleich die stickige Ordnung des Privaten, der Partikularismus der Interessen, die längst überholte Form der Familie, das Eigentumsrecht und seine Reflexion im Charakter nochmals festgesetzt. Aber mit schlechtem Gewissen, dem kaum verhohlenen Bewußtsein der Unwahrheit. Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre. Die Bürger haben ihre Naivetät verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden. Die bewahrende Hand, die immer noch ihr Gärtchen hegt und pflegt, als ob es nicht längst zum »lot« geworden wäre, aber den unbekannten Eindringling ängstlich fernhält, ist bereits die, welche dem politischen Flüchtling das Asyl verweigert. Als objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhang subjektiv vollends unmenschlich. So kommt die Klasse zu sich selbst und macht den zerstörenden Willen des Weltlaufs sich zu eigen. Die Bürger leben fort wie Unheil drohende Gespenster.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Le bourgeois revenant. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1687

(vgl. GS 4, S. 37 ff.)]


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Le nouvel avare. – Es gibt zweierlei Arten von Geiz. Eine ist die archaische, die Leidenschaft, die sich und anderen nichts gönnt, deren physiognomischen Zug Molière verewigt, Freud als analen Charakter erklärt hat. Sie vollendet sich im miser, dem Bettler, der insgeheim über Millionen verfügt, gleichsam der puritanischen Maske des unerkannten Kalifen aus dem Märchen. Er ist dem Sammler, dem Manischen, schließlich dem großen Liebenden verwandt wie Gobseck der Esther. Man trifft ihn gerade noch als Kuriosität in den Lokalspalten der Tagesblätter. Zeitgemäß ist der Geizige, dem nichts für sich und alles für die andern zu teuer ist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzes Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu geben, als man zurückbekommt, aber doch stets genug, daß man etwas zurückbekomme. Jeder Freundlichkeit, die sie gewähren, ist die Überlegung: »ist das auch nötig?«, »muß man das tun?« anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, für empfangene Aufmerksamkeiten sich zu »revanchieren«, um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei denen man auf seine Kosten kommt, keine Lücke entstehen zu lassen. Weil bei ihnen alles rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und Scrooge, nicht zu überführen und nicht zu bekehren. Ihre Liebenswürdigkeit ist ein Maß ihrer Unerbittlichkeit. Wenn es gilt, setzen sie unwiderleglich sich ins Recht und das Recht ins Unrecht, während der Wahnsinn der schäbigen Geizhälse das Versöhnliche hatte, daß der Tendenz nach das Gold in der Kassette den Dieb schon herbeizog, ja, daß erst in Opfer und Verlust ihre Leidenschaft sich stillte wie das erotische Besitzenwollen in der Selbstpreisgabe. Die neuen Geizigen aber betreiben die Askese nicht mehr als Ausschweifung sondern mit Vorsicht. Sie sind versichert.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Le nouvel avare. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1689

(vgl. GS 4, S. 37 ff.)]


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Zur Dialektik des Takts. – Goethe, der deutlich der drohenden Unmöglichkeit aller menschlichen Beziehungen in der heraufkommenden Industriegesellschaft sich bewußt war, hat in den Novellen der Wanderjahre versucht, den Takt als die rettende Auskunft zwischen den entfremdeten Menschen darzustellen. Diese Auskunft schien ihm eins mit der Entsagung, mit Verzicht auf ungeschmälerte Nähe, Leidenschaft und ungebrochenes Glück. Das Humane bestand ihm in einer Selbsteinschränkung, die beschwörend den unausweichlichen Gang der Geschichte zur eigenen Sache machte, die Inhumanität des Fortschritts, die Verkümmerung des Subjekts. Aber was seitdem geschah, läßt die Goethesche Entsagung selber als Erfüllung erscheinen. Takt und Humanität – bei ihm das Gleiche – sind mittlerweile eben den Weg gegangen, vor dem sie nach seinem Glauben bewahren sollten. Hat doch Takt seine genaue historische Stunde. Es ist die, in welcher das bürgerliche Individuum des absolutistischen Zwangs ledig ward. Frei und einsam steht es für sich selber ein, während die vom Absolutismus entwickelten Formen hierarchischer Achtung und Rücksicht, ihres ökonomischen Grundes und ihrer bedrohlichen Gewalt entäußert, gerade noch gegenwärtig genug sind, um das Zusammenleben innerhalb bevorzugter Gruppen erträglich zu machen. Solcher gleichsam paradoxe Einstand von Absolutismus und Liberalität läßt wie im Wilhelm Meister noch an Beethovens Stellung zu den überlieferten Schemata der Komposition, ja bis in die Logik hinein, an Kants subjektiver Rekonstruktion der objektiv verpflichtenden Ideen sich wahrnehmen. Beethovens regelmäßige Reprisen nach den dynamischen Durchführungen, Kants Deduktion der scholastischen Kategorien aus der Einheit des Bewußtseins sind in einem eminenten Sinne »taktvoll«. Voraussetzung des Takts ist die in sich gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention. Diese ist nun unrettbar verfallen und lebt fort nur noch in der Parodie der Formen, einer willkürlich ausgedachten oder erinnerten Etikette für Ignoranten, wie ungebetene Ratgeber in Zeitungen sie predigen, während das Einverständnis, das jene Konventionen zu ihrer humanen Stunde tragen mochte, an die blinde Konformität der Autobesitzer und Radiohörer übergegangen ist. Das Absterben des zeremoniellen Moments scheint zunächst dem Takt zugute zu kommen. Er ist von allem Heteronomen, schlecht Auswendigen emanzipiert, und taktvolles Verhalten wäre kein anderes als eines, das sich allein nach der spezifischen Beschaffenheit eines jeglichen menschlichen Verhältnisses richtet. Solcher emanzipierte Takt jedoch gerät in Schwierigkeiten wie der Nominalismus allerorten. Takt meinte nicht einfach die Unterordnung unter die zeremoniale Konvention: die gerade haben alle neueren Humanisten unablässig unter Ironie gestellt. Die Leistung des Takts war vielmehr so paradox wie sein geschichtlicher Standort. Sie verlangte die eigentlich unmögliche Versöhnung zwischen dem unbestätigten Anspruch der Konvention und dem ungebärdigen des Individuums. Anders als an jener Konvention ließ Takt gar nicht sich messen. Sie repräsentierte, wie sehr auch verdünnt, das Allgemeine, das die Substanz des individuellen Anspruchs selber ausmacht. Takt ist eine Differenzbestimmung. Er besteht in wissenden Abweichungen. Indem er jedoch als emanzipierter dem Individuum als absolutem gegenübertritt, ohne ein Allgemeines, wovon er differieren könnte, verfehlt er das Individuum und tut endlich Unrecht ihm an. Die Frage nach dem Befinden, nicht länger von Erziehung geboten und erwartet, wird zum Ausforschen oder zur Verletzung; das Schweigen über empfindliche Gegenstände zur leeren Gleichgültigkeit, sobald keine Regel mehr angibt, worüber zu reden sei und worüber nicht. Die Individuen beginnen denn auch, nicht ohne Grund, auf Takt feindselig zu reagieren: eine gewisse Art der Höflichkeit etwa läßt sie nicht sowohl als Menschen angesprochen sich fühlen, als daß sie in ihnen die Ahnung des unmenschlichen Zustands erweckt, in welchem sie sich befinden, und der Höfliche läuft Gefahr, für den Unhöflichen zu gelten, weil er von der Höflichkeit wie von einem überholten Vorrecht noch Gebrauch macht. Schließlich wird der emanzipierte, rein individuelle Takt zur bloßen Lüge. Was von ihm im Individuum heute eigentlich getroffen wird, ist, was er angelegentlich verschweigt, die tatsächliche und mehr noch die potentielle Macht, die jeder verkörpert. Unter der Forderung, dem Individuum als solchem, ohne alle Präambeln, absolut angemessen gegenüber zu treten, liegt die eifernde Kontrolle darüber, daß jedes Wort stillschweigend sich selber Rechenschaft davon gibt, was der Angeredete in der sich verhärtenden Hierarchie, die alle einbegreift, darstellt, und welches seine Chancen sind. Der Nominalismus des Takts verhilft dem Allgemeinsten, der nackten Verfügungsgewalt, zum Triumph noch in den intimsten Konstellationen. Die Abschreibung der Konventionen als überholten, nutzlosen und äußerlichen Zierats bestätigt nur das Alleräußerlichste, ein Leben unmittelbarer Beherrschung. Daß dennoch der Fortfall selbst dieses Zerrbilds von Takt in der Kameraderie der Anrempelei, als Hohn auf Freiheit, die Existenz noch unerträglicher macht, ist bloß ein weiteres Anzeichen dafür, wie unmöglich das Zusammenleben der Menschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen geworden ist.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Zur Dialektik des Takts. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1691

(vgl. GS 4, S. 38 ff.)]


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Eigentumsvorbehalt. – Die Signatur des Zeitalters ist es, daß kein Mensch, ohne alle Ausnahme, sein Leben in einem einigermaßen durchsichtigen Sinn, wie er früher in der Abschätzung der Marktverhältnisse gegeben war, mehr selbst bestimmen kann. Im Prinzip sind alle, noch die Mächtigsten Objekte. Sogar der Beruf des Generals bietet keinen zureichenden Schutz mehr. Keine Abmachungen sind in der faschistischen Ära bindend genug, um die Hauptquartiere vor Fliegerangriffen zu schützen, und Kommandanten, die es mit der traditionellen Vorsicht halten, werden von Hitler gehängt und von Chiang Kai-Shek geköpft. Daraus folgt unmittelbar, daß jeder, der versucht durchzukommen – und das Weiterleben selbst hat etwas Widersinniges wie die Träume, in denen man den Weltuntergang mitmacht und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht –, zugleich so leben sollte, daß er in jedem Augenblick fähig ist, sein Leben auszulöschen. Das ist als triste Wahrheit aus Zarathustras überschwenglicher Lehre vom freien Tode hervorgetreten. Freiheit hat sich in die reine Negativität zusammengezogen, und was zur Zeit des Jugendstils in Schönheit sterben hieß, hat sich reduziert auf den Wunsch, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod. – Das objektive Ende der Humanität ist nur ein anderer Ausdruck fürs Gleiche. Es besagt, daß der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Eigentumsvorbehalt. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1695

(vgl. GS 4, S. 41 ff.)]


  21

Umtausch nicht gestattet. – Die Menschen verlernen das Schenken. Der Verletzung des Tauschprinzips haftet etwas Widersinniges und Unglaubwürdiges an; da und dort mustern selbst Kinder mißtrauisch den Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Bürsten oder Seife zu verkaufen. Dafür übt man charity, verwaltete Wohltätigkeit, die sichtbare Wundstellen der Gesellschaft planmäßig zuklebt. In ihrem organisierten Betrieb hat die menschliche Regung schon keinen Raum mehr, ja die Spende ist mit Demütigung durch Einteilen, gerechtes Abwägen, kurz durch die Behandlung des Beschenkten als Objekt notwendig verbunden. Noch das private Schenken ist auf eine soziale Funktion heruntergekommen, die man mit widerwilliger Vernunft, unter sorgfältiger Innehaltung des ausgesetzten Budgets, skeptischer Abschätzung des anderen und mit möglichst geringer Anstrengung ausführt. Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergeßlichkeit. Eben dazu ist kaum einer mehr fähig. Günstigenfalls schenken sie, was sie sich selber wünschten, nur ein paar Nuancen schlechter. Der Verfall des Schenkens spiegelt sich in der peinlichen Erfindung der Geschenkartikel, die bereits darauf angelegt sind, daß man nicht weiß, was man schenken soll, weil man es eigentlich gar nicht will. Diese Waren sind beziehungslos wie ihre Käufer. Sie waren Ladenhüter schon am ersten Tag. Ähnlich der Vorbehalt des Umtauschs, der dem Beschenkten bedeutet: hier hast du deinen Kram, fang damit an, was du willst, wenn dir’s nicht paßt, ist es mir einerlei, nimm dir etwas anderes dafür. Dabei stellt gegenüber der Verlegenheit der üblichen Geschenke ihre reine Fungibilität auch noch das Menschlichere dar, weil sie dem Beschenkten wenigstens erlaubt, sich selber etwas zu schenken, worin freilich zugleich der absolute Widerspruch zum Schenken gelegen ist.

    Gegenüber der größeren Fülle von Gütern, die selbst dem Armen erreichbar sind, könnte der Verfall des Schenkens gleichgültig, die Betrachtung darüber sentimental scheinen. Selbst wenn es jedoch im Überfluß überflüssig wäre – und das ist Lüge, privat so gut wie gesellschaftlich, denn es gibt keinen heute, für den Phantasie nicht genau das finden könnte, was ihn durch und durch beglückt –, so blieben des Schenkens jene bedürftig, die nicht mehr schenken. Ihnen verkümmern jene unersetzlichen Fähigkeiten, die nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit, sondern nur in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen können. Kälte ergreift alles, was sie tun, das freundliche Wort, das ungesprochen, die Rücksicht, die ungeübt bleibt. Solche Kälte schlägt endlich zurück auf jene, von denen sie ausgeht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Umtausch nicht gestattet. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1707

(vgl. GS 4, S. 46 ff.)]


  41

Drinnen und draußen. – Aus Pietät, Schlamperei und Berechnung läßt man die Philosophie in immer engerem akademischen Rahmen weiterwursteln und ist selbst dort stets mehr bestrebt, durch die organisierte Tautologie sie zu ersetzen. Wer dem beamteten Tiefsinn sich anvertraut, verfällt wie vor hundert Jahren dem Zwang, in jedem Augenblick ebenso naiv zu sein wie die Kollegen, von denen die Karriere abhängt. Aber dem außerakademischen Denken, das solchem Zwang und dem Widerspruch zwischen hochtrabenden Stoffen und spießbürgerlicher Behandlung sich entziehen möchte, droht kaum geringere Gefahr: durch den ökonomischen Druck des Marktes, vor dem in Europa wenigstens die Professoren geschützt waren. Der Philosoph als Schriftsteller, der seinen Lebensunterhalt erwerben will, muß gleichsam in jedem Augenblick etwas Piekfeines, Erlesenes bieten, durchs Monopol der Seltenheit gegen das des Amtes sich behaupten. Der widerliche Begriff des geistigen Leckerbissens, den Pedanten sich ausgedacht haben, kommt am Ende an ihren Widersachern noch zu seinem beschämenden Recht. Wenn der gute alte Schmock stöhnt unter der Forderung des Zeitungschefs, er solle lauter Brillantes schreiben, so meldet er in aller Unbefangenheit das Gesetz an, das verschwiegen hinter den Werken über den kosmogonischen Eros und den Kosmos Atheos, den Gestaltwandel der Götter und das Geheimnis des Johannesevangeliums waltet. Der Lebensstil des verspäteten Bohémiens, der dem nichtakademischen Philosophen aufgezwungen wird, bringt ihn ohnehin in fatale Affinität zu Kunstgewerbe, Seelenkitsch und sektiererischer Halbbildung. Das München vorm ersten Weltkrieg war eine Brutstätte jener Geistigkeit, deren Protest gegen den Rationalismus der Schulen über die Kulte vom Kostümfest womöglich noch rascher in den Faschismus mündete als das verzagte System des alten Rickert. So groß ist die Macht der fortschreitenden Organisation des Gedankens, daß sie jene, die sich draußen halten wollen, zur Eitelkeit des Ressentiments, zur Geschwätzigkeit der Selbstanpreisung, schließlich die Unterlegenen zur Hochstapelei treibt. Wenn die Ordinarien den Grundsatz Sum ergo cogito aufstellen und im offenen System der Platzangst, in der Geworfenheit der Volksgemeinschaft verfallen, so verirren sich ihre Gegner, wenn sie nicht gar sehr auf der Hut sind, in die Gegend der Graphologie und der rhythmischen Gymnastik. Den Zwangstypen dort entsprechen die Paranoiker hier. Der sehnsüchtige Gegensatz zur Tatsachenforschung, das rechtmäßige Bewußtsein, im Szientivismus sei das Beste vergessen, kommt als naives der Spaltung zugute, unter der es leidet. Anstatt die Fakten zu begreifen, hinter denen die andern sich verschanzen, rafft es davon zusammen, was in der Eile sich bietet, macht sich auf die Flucht und spielt mit den apokryphen Kenntnissen, mit ein paar isolierten und hypostasierten Kategorien und mit sich selber so unkritisch, daß dann auch noch der Verweis auf die unnachgiebigen Fakten recht behält. Gerade das kritische Element geht dem scheinbar unabhängigen Denken verloren. Die Insistenz auf dem unter der Schale verborgenen Weltgeheimnis, die ehrfürchtig dessen Beziehung zur Schale unausgemacht läßt, bestätigt dieser oft genug gerade durch solche Enthaltsamkeit, daß sie eben doch ihren guten Sinn habe, den man hinnehmen müsse, ohne zu fragen. Zwischen der Lust an der Leere und der Lüge von der Fülle läßt der herrschende Stand des Geistes kein Drittes mehr zu.

    Trotzdem ist der Blick aufs Entlegene, der Haß gegen Banalität, die Suche nach dem Unabgegriffenen, vom allgemeinen Begriffsschema noch nicht Erfaßten die letzte Chance für den Gedanken. In einer geistigen Hierarchie, die unablässig alle zur Verantwortung zieht, ist Unverantwortlichkeit allein fähig, die Hierarchie unmittelbar selber beim Namen zu rufen. Die Zirkulationssphäre, deren Male die intellektuellen Außenseiter tragen, eröffnet dem Geist, den sie verschachert, die letzten Refugien in dem Augenblick, in dem es sie eigentlich schon gar nicht mehr gibt. Wer ein Unikum anbietet, das niemand mehr kaufen will, vertritt, selbst gegen seinen Willen, die Freiheit vom Tausch.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Drinnen und draußen. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1762

(vgl. GS 4, S. 74 ff.)]


  42

Gedankenfreiheit. – Die Verdrängung der Philosophie durch die Wissenschaft hat, wie man weiß, zu einer Trennung der beiden Elemente geführt, deren Einheit Hegel zufolge das Leben von Philosophie ausmacht, Reflexion und Spekulation. Den Reflexionsbestimmungen wird ernüchtert das Land der Wahrheit überlassen und die Spekulation darin mißmutig bloß zwecks Formulierung von Hypothesen geduldet, die außerhalb der Arbeitszeit ausgedacht und so schnell wie möglich eingelöst werden müssen. Wer aber darum glaubte, daß der spekulative Bereich in seiner außerwissenschaftlichen Gestalt unangefochten erhalten, gleichsam vom Betrieb der universalen Statistik in Ruhe gelassen würde, irrte gründlich. Vorweg bekommt die Lostrennung von der Reflexion der Spekulation selber schlecht genug. Diese wird entweder zum gelehrsamen Nachbeten überlieferter philosophischer Entwürfe degradiert oder entartet, in ihrer Distanz von den blind gemachten Fakten, zum Geschwätz unverbindlich privater Weltanschauung. Damit jedoch nicht zufrieden, gliedert der Wissenschaftsbetrieb selber die Spekulation sich ein. Unter den öffentlichen Funktionen der Psychoanalyse ist das nicht die letzte. Ihr Medium ist die freie Assoziation. Der Weg ins Unbewußte der Patienten wird gebahnt, indem man ihnen die Verantwortung der Reflexion ausredet, und die analytische Theoriebildung selber folgt der gleichen Spur, sei’s, daß sie von Verlauf und Stockung jener Assoziationen ihre Befunde sich vorzeichnen läßt, sei’s, daß die Analytiker, und gerade die begabtesten wie Groddeck, der eigenen Assoziation sich anvertrauen. Entspannt wird auf dem Diwan vorgeführt, was einmal die äußerste Anspannung des Gedankens von Schelling und Hegel auf dem Katheder vollbrachte: die Dechiffrierung des Phänomens. Aber solches Nachlassen der Spannung affiziert die Qualität der Gedanken: der Unterschied ist kaum geringer als der zwischen der Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der Schwiegermutter. Die gleiche Bewegung des Geistes, die einmal dessen »Material« zum Begriff erheben sollte, wird selber herabgesetzt zum bloßen Material für begriffliche Ordnung. Was einem einfällt, ist gerade gut genug dazu, daß Geschulte entscheiden, ob der Produzierende ein Zwangscharakter, ein oraler Typ, ein Hysteriker sei. Vermöge der Lockerung der Verantwortlichkeit, die in der Loslösung von der Reflexion, der Kontrolle des Verstandes liegt, wird Spekulation selber als Objekt der Wissenschaft überlassen, deren Subjektivität mit ihr erloschen ist. Indem der Gedanke vom Verwaltungsschema der Analyse an seine unbewußten Ursprünge sich erinnern läßt, vergißt er, Gedanke zu sein. Aus dem wahren Urteil wird er zum neutralen Stoff. Anstatt daß er, um seiner selbst mächtig zu werden, die Arbeit des Begriffs leistete, vertraut er sich ohnmächtig der Bearbeitung durch den Doktor an, der ohnehin alles schon weiß. So wird Spekulation endgültig gebrochen und selber zur Tatsache, die sich einer der Branchen des Klassifizierens als Belegstück des Immergleichen einfügt.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Gedankenfreiheit. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1766

(vgl. GS 4, S. 76 ff.)]


  43

Bangemachen gilt nicht. – Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs erste ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, daß einem entgegengehalten wird, eine Aussage sei »zu subjektiv«. Wird das geltend gemacht und gar mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller vernünftigen Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken – also das Objektive. Wie windig der formale Einwand subjektiver Relativität ist, stellt sich auf dessen eigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischen Urteile. Wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel größere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa des »Stils«, deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht. Das ist doppelt wahr in der Ära des Positivismus und der Kulturindustrie, deren Objektivität von den veranstaltenden Subjekten kalkuliert ist. Ihr gegenüber hat Vernunft vollends, und fensterlos, in die Idiosynkrasien sich geflüchtet, denen die Willkür der Gewalthaber Willkür vorwirft, weil sie die Ohnmacht der Subjekte wollen, aus Angst vor der Objektivität, die allein bei diesen Subjekten aufgehoben ist.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Bangemachen gilt nicht. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1769

(vgl. GS 4, S. 77 ff.)]


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Seit ich ihn gesehen. – Der weibliche Charakter und das Ideal der Weiblichkeit, nach dem er modelliert ist, sind Produkte der männlichen Gesellschaft. Das Bild der unentstellten Natur entspringt erst in der Entstellung als ihr Gegensatz. Dort, wo sie human zu sein vorgibt, züchtet die männliche Gesellschaft in den Frauen souverän ihr eigenes Korrektiv und zeigt sich durch die Beschränkung als unerbittlicher Meister. Der weibliche Charakter ist ein Abdruck des Positivs der Herrschaft. Damit aber so schlecht wie diese. Was überhaupt im bürgerlichen Verblendungszusammenhang Natur heißt, ist bloß das Wundmal gesellschaftlicher Verstümmelung. Wenn das psychoanalytische Theorem zutrifft, daß die Frauen ihre physische Beschaffenheit als Folge von Kastration empfinden, so ahnen sie in ihrer Neurose die Wahrheit. Die sich als Wunde fühlt, wenn sie blutet, weiß mehr von sich als die, welche sich als Blume vorkommt, weil das ihrem Mann in den Kram paßt. Nicht darin erst steckt die Lüge, daß Natur dort behauptet wird, wo sie geduldet und eingebaut ist, sondern was in der Zivilisation für Natur einsteht, ist seiner Substanz nach aller Natur am fernsten, das reine sich selber zum Objekt Werden. Jene Art Weiblichkeit, die auf den Instinkt sich beruft, ist stets genau das, wozu eine jegliche Frau mit aller Gewalt – mit männlicher Gewalt – sich zwingen muß: die Weibchen sind die Männchen. Man muß nur einmal als Eifersüchtiger wahrgenommen haben, wie solche weiblichen Frauen über ihre Weiblichkeit verfügen, sie nach Bedarf einsetzen, ihre Augen blitzen machen, ihr Temperament bedienen, um zu wissen, was es mit dem gehüteten, vom Intellekt unversehrten Unbewußten auf sich hat. Seine Unversehrtheit und Reinheit gerade ist die Leistung des Ichs, der Zensur, des Intellekts, und eben darum schickt sie sich so konfliktlos ins Realitätsprinzip der rationalen Ordnung. Ohne alle Ausnahme konformieren die weiblichen Naturen. Daß Nietzsches Insistenz davor Halt machte und das Bild weiblicher Natur ungeprüft und unerfahren von der christlichen Zivilisation übernahm, der er sonst so gründlich mißtraute, hat die Anstrengung seines Gedankens schließlich doch der bürgerlichen Gesellschaft unterworfen. Er verfiel dem Schwindel, »das Weib« zu sagen, wenn er von Frauen spricht. Daher allein der perfide Rat, die Peitsche nicht zu vergessen: das Weib selber ist bereits der Effekt der Peitsche. Befreiung der Natur wäre es, ihre Selbstsetzung abzuschaffen. Die Glorifizierung des weiblichen Charakters schließt die Demütigung aller ein, die ihn tragen.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Seit ich ihn gesehen. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1821

(vgl. GS 4, S. 107 ff.)]


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Ein Wort für die Moral. – Der Amoralismus, mit dem Nietzsche dem alten Unwahren zuleibe rückte, verfällt selber dem Verdikt der Geschichte. Mit der Auflösung der Religion und ihrer handgreiflichen philosophischen Säkularisierungen hatten die beschränkenden Verbote ihr bestätigtes Wesen, ihre Substantialität verloren. Zunächst jedoch war die materielle Produktion noch so unentwickelt, daß mit einigem Grunde sich verkünden ließ, es sei nicht genug für alle da. Wer nicht die politische Ökonomie als solche kritisierte, mußte am beschränkenden Prinzip festhalten, das dann als unrationalisierte Aneignung auf Kosten des Schwächeren ausgesprochen wurde. Die objektiven Voraussetzungen dafür haben sich verwandelt. Nicht erst dem sozialen Nonkonformisten, noch dem beschränkten Bürger muß die Beschränkung als überflüssig erscheinen im Angesicht der unmittelbaren Möglichkeit von Überfluß. Der implizite Sinn der Herrenmoral, wer leben wolle, müsse zupacken, ist mittlerweile zu einer armseligeren Lüge geworden als die Pastorenweisheit im neunzehnten Jahrhundert. Wenn in Deutschland die Spießbürger als blonde Bestien sich bewährt haben, so rührt das keineswegs von nationalen Eigentümlichkeiten her, sondern davon, daß die blonde Bestialität selber, der gesellschaftliche Raub, vor der offenbaren Fülle zur Haltung des Hinterwäldlers, des verblendeten Philisters, eben des »Zu kurz Gekommenen« geworden ist, gegen den die Herrenmoral erfunden war. Stünde Cesare Borgia heute auf, so gliche er David Friedrich Strauß und hieße Adolf Hitler. Amoralität predigen ward zur Sache derselben Darwinisten, die Nietzsche verachtete, und die den barbarischen Kampf ums Dasein krampfhaft als Maxime proklamieren, gerade weil es seiner nicht mehr bedürfte. Die Tugend der Vornehmheit wäre längst nicht mehr, vor den andern das Bessere sich zu nehmen, sondern des Nehmens überdrüssig zu werden und die schenkende Tugend real zu üben, die bei Nietzsche einzig als vergeistigte vorkommt. Die asketischen Ideale schließen heute ein größeres Maß an Widerstand gegen den Wahnsinn der Profitökonomie ein als vor sechzig Jahren das sich Ausleben gegen die liberale Repression. Der Amoralist dürfte endlich sich gestatten, so gütig, zart, unegoistisch und aufgeschlossen zu sein wie Nietzsche damals schon. Zur Bürgschaft seiner unveränderten Resistenz bleibt er damit stets noch so einsam wie in den Tagen, als er der normalen Welt die Maske des Bösen entgegenkehrte, um die Norm das Fürchten vor ihrer eigenen Verkehrtheit zu lehren.


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Berufungsinstanz. – Nietzsche hat im Antichrist das stärkste Argument nicht bloß gegen die Theologie, sondern auch gegen die Metaphysik ausgesprochen: daß Hoffnung mit Wahrheit verwechselt werde; daß die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder überhaupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge. Er widerlegt den christlichen »Beweis der Kraft«, daß der Glaube wahr sei, weil er selig mache. Denn »wäre Seligkeit – technischer geredet, Lust – jemals ein Beweis der Wahrheit? So wenig, daß es beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten Argwohn gegen ›Wahrheit‹ abgibt, wenn Lustempfindungen über die Frage ›was ist wahr?‹ mitreden. Der Beweis der ›Lust‹ ist ein Beweis für ›Lust‹ – nichts mehr; woher um alles in der Welt stünde es fest, daß gerade wahre Urteile mehr Vergnügen machten als falsche und, gemäß einer prästabilierten Harmonie, angenehme Gefühle mit Notwendigkeit hinter sich dreinzögen?« (Der Antichrist, Aph. 50) Aber Nietzsche selber hat den amor fati gelehrt, »du sollst dein Schicksal lieben«. Das, heißt es im Epilog der Götzendämmerung, sei seine innerste Natur. Und es wäre wohl die Frage zu stellen, ob irgend mehr Grund ist, das zu lieben, was einem widerfährt, das Daseiende zu bejahen, weil es ist, als für wahr zu halten, was man sich erhofft. Führt nicht von der Existenz der stubborn facts zu deren Installierung als höchstem Wert der gleiche Fehlschluß, den er dem Übergang von der Hoffnung zur Wahrheit vorwirft? Wenn er die »Seligkeit aus einer fixen Idee« ins Irrenhaus verweist, so könnte man den Ursprung des amor fati im Gefängnis aufsuchen. Auf die Liebe zu Steinmauern und vergitterten Fenstern verfällt jener, der nichts anderes zum Lieben mehr sieht und hat. Beide Male waltet die gleiche Schmach der Anpassung, die, um nur überhaupt im Grauen der Welt aushalten zu können, dem Wunsch Wirklichkeit zuschreibt und dem Widersinn des Zwangs Sinn. Nicht weniger als im credo quia absurdum kriecht Entsagung im amor fati, der Verherrlichung des Allerabsurdesten, vor der Herrschaft zu Kreuz. Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward. Hier viel eher als im Gegenteil liegt das Verbrechen der Theologie, gegen das Nietzsche den Prozeß anstrengte, ohne je zur letzten Instanz zu gelangen. An einer der mächtigsten Stellen seiner Kritik hat er das Christentum der Mythologie geziehen: »Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum!« (Der Antichrist, Aph. 41) Nichts anderes aber ist die Liebe zum Schicksal als die absolute Sanktionierung der Unendlichkeit solchen Opfers. Der Mythos trennt Nietzsches Kritik an den Mythen von der Wahrheit.


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Kürzere Ausführungen. – Liest man von neuem eines der betrachtenden Bücher von Anatole France, wie den Jardin d’Epicure, so kann man bei aller Dankbarkeit für die erbittliche Aufklärung eines Gefühls des Peinlichen nicht sich erwehren, das weder durch jenes Veraltete hinlänglich erklärt wird, das renegatenhafte französische Irrationalisten am eifrigsten hervorheben, noch mit der persönlichen Eitelkeit. Indem diese aber dem Neid zum Vorwand dient, weil notwendig an allem Geist ein eitles Moment erscheint, sobald er sich darstellt, wird der Grund des Peinlichen offenbar. Es haftet am Kontemplativen, dem sich Zeitlassen, der wie immer auch gebrochenen Homiletik, dem nachsichtig erhobenen Zeigefinger. Der kritische Gehalt der Gedanken wird dementiert vom Gestus des sich Verbreitens, der von staatserhaltenden Professoren her vertraut ist, und die Ironie, mit der der Schauspieler Voltaires auf seinen Titelblättern die Zugehörigkeit zur Académie Française eingesteht, schlägt auf den Witzigen zurück. In seinem Vortrag versteckt sich bei aller pointierten Humanität ein Gewaltsames: man kann es sich leisten, so zu reden, weil keiner den Meister unterbricht. Etwas von der Usurpation, die allem Dozieren und schon allem lauten Lesen innewohnt, ist in den luziden Periodenbau gedrungen, der so viel Muße für die ungemütlichsten Dinge reserviert. Untrügliches Zeichen latenter Menschenverachtung beim letzten Advokaten der Menschenwürde ist die Unerschrockenheit, mit der er Platituden ausspricht, als dürfe niemand sie zu bemerken wagen: »L’artiste doit aimer la vie et nous montrer qu’elle est belle. Sans lui, nous en douterions.« Was aber an den archaistisch stilisierten Meditationen von France hervortritt, betrifft insgeheim bereits jede Überlegung, die das Vorrecht in Anspruch nimmt, der Unmittelbarkeit der Zwecke sich zu entziehen. Die Gelassenheit als solche wird zur gleichen Lüge, der die Hast der Unmittelbarkeit ohnehin verfällt. Während der Gedanke, seinem Inhalt nach, der unaufhaltsam ansteigenden Flut des Grauens widerstrebt, vermögen die Nerven, das Tastorgan des historischen Bewußtseins, an der Form desselben Gedankens, ja daran, daß er es sich überhaupt noch gestattet, Gedanke zu sein, die Spur des Einverständnisses mit der Welt zu gewahren, der man schon in dem Augenblick etwas konzediert, in dem man so weit von ihr zurücktritt, um sie zum philosophischen Gegenstand zu machen. In der Souveränität, ohne welche überhaupt nicht gedacht werden kann, wird auf das Privileg gepocht, das es einem erlaubt. Die Aversion dagegen ist nachgerade zum schwersten Hindernis der Theorie geworden: folgt man ihr, so müßte man verstummen, und folgt man ihr nicht, so wird man plump und gemein durchs Vertrauen auf die eigene Kultur. Noch die abscheuliche Aufspaltung der Rede in berufliche Gespräche und strikt konventionelle zeugt von der Ahnung der Unmöglichkeit, Gedachtes ohne Arroganz, ohne Frevel an der Zeit des anderen zu sagen. Es ist das dringendste Anliegen einer Darstellungsweise, die im mindesten standhalten soll, daß sie solche Erfahrungen nicht aus den Augen läßt, sondern sie durch Tempo, Gedrängtheit, Dichte und doch wiederum Unverbindlichkeit selber zum Ausdruck bringt.


 63

Tod der Unsterblichkeit. – Flaubert, von dem ein Ausspruch überliefert ist, er verachte den Ruhm, an den er sein Leben setze, hat es im Bewußtsein solchen Widerspruchs noch so gut gehabt wie der behäbige Bürger, der die Madame Bovary schrieb. Gegenüber der korrupten öffentlichen Meinung, der Presse, auf die er schon wie Kraus reagierte, glaubte er auf die Nachwelt sich verlassen zu können, ein vom Bann der Dummheit befreites Bürgertum, das deren authentischen Kritiker zu Ehren brächte. Aber er hat die Dummheit unterschätzt: die Gesellschaft, die er vertritt, kann sich nicht selbst beim Namen nennen, und mit ihrer Entfaltung zur Totalität hat gleich der Intelligenz auch die Dummheit zur absoluten sich entfaltet. Das zehrt an den Kräftezentren des Intellektuellen. Selbst auf die Nachwelt darf er nicht mehr hoffen, ohne dem Konformismus, wäre es auch bloß Einverständnis mit den großen Geistern, zu verfallen. Sobald er aber solcher Hoffnung entsagt, geht in seine Arbeit ein Element des Verblendeten und Verbohrten ein, bereit schon, in zynische Kapitulation umzuschlagen. Ruhm als Resultat objektiver Prozesse in der Marktgesellschaft, der etwas Zufälliges und oftmals Angedrehtes hatte, aber auch den Abglanz von Gerechtigkeit und freier Wahl, ist liquidiert. Er ist ganz zur Funktion bezahlter Propagandastellen geworden und mißt sich an der Investition, die vom Träger des Namens oder der Interessengruppe, die hinter ihm steht, riskiert wird. Der Claqueur, der noch dem Auge Daumiers wie ein Auswuchs erschien, hat mittlerweile als offizieller Beauftragter des Kultursystems seine Irrespektabilität abgelegt. Schriftsteller, die Karriere machen wollen, reden so unbefangen von ihren Agenten wie die Vorfahren vom Verleger, der auch schon etwas in die Reklame steckte. Man nimmt das Bekanntwerden und damit gewissermaßen auch das Nachleben – denn was hätte in der durchorganisierten Gesellschaft Chance erinnert zu werden, was nicht schon bekannt wäre – in eigene Regie und kauft sich wie ehedem bei der Kirche so nun bei den Lakaien der Trusts die Anwartschaft auf Unsterblichkeit. Aber es ist kein Segen daran. Wie willkürliches Gedächtnis und spurlose Vergessenheit stets zusammengehörten, so führt die geplante Verfügung über Ruhm und Andenken unweigerlich ins Nichts, dessen Vorgeschmack schon am hektischen Wesen aller Zelebrität sich wahrnehmen läßt. Den Berühmten ist nicht wohl zumute. Sie machen sich zu Markenartikeln, sich selber fremd und unverständlich, als lebende Bilder ihrer selbst wie Tote. In der prätentiösen Sorge um ihren Nimbus vergeuden sie die sachliche Energie, die ein  zig fortzubestehen vermöchte. Die unmenschliche Gleichgültigkeit und Verachtung, die gefallenen Größen der Kulturindustrie sogleich zuteil wird, enthüllt die Wahrheit über ihren Ruhm, ohne daß doch jene, die daran teilzuhaben verschmähen, bessere Hoffnung auf die Nachwelt hegen dürften. So erfährt der Intellektuelle die Hinfälligkeit seines geheimen Motivs und vermag nichts anderes dagegen, als auch diese Einsicht auszusprechen.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Ein Wort für die Moral. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1823

(vgl. GS 4, S. 108 ff.)]


  67

Unmaß für Unmaß. – Was die Deutschen begangen haben, entzieht sich dem Verständnis, zumal dem psychologischen, wie denn in der Tat die Greuel mehr als planvoll-blinde und entfremdete Schreckmaßnahmen verübt zu sein scheinen denn als spontane Befriedigungen. Nach den Berichten der Zeugen ward lustlos gefoltert, lustlos gemordet und darum vielleicht gerade so über alles Maß hinaus. Dennoch sieht das Bewußtsein, das dem Unsagbaren standhalten möchte, immer wieder auf den Versuch zu begreifen sich zurückgeworfen, wenn es nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen will, der objektiv herrscht. Es drängt der Gedanke sich auf, das deutsche Grauen sei etwas wie vorweggenommene Rache. Das Kreditsystem, in dem alles bevorschußt werden kann, selbst die Welteroberung, bestimmt auch die Aktionen, welche ihm und der gesamten Marktwirtschaft ihr Ende bereiten bis zum Selbstmord der Diktatur. In den Konzentrationslagern und Gaskammern wird gleichsam der Untergang von Deutschland diskontiert. Keiner, der die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 in Berlin beobachtete, konnte das Moment tödlicher Traurigkeit, des halbwissend einem Unheilvollen sich Anvertrauens übersehen, das den angedrehten Rausch, die Fackelzüge und Trommeleien begleitete. Wie hoffnungslos klang nicht das deutsche Lieblingslied jener Monate, »Volk ans Gewehr«, in der Passage Unter den Linden. Die von einem Tag zum andern anberaumte Rettung des Vaterlandes trug den Ausdruck der Katastrophe vom ersten Augenblick an, und diese ward in den Konzentrationslagern eingeübt, während der Triumph in den Straßen die Ahnung davon übertäubte. Solche Ahnung braucht gar nicht erst mit dem kollektiven Unbewußten erklärt zu werden, das freilich vernehmlich genug mag mitgesprochen haben. Die deutsche Position in der imperialistischen Konkurrenz war nach dem Maß des verfügbaren Rohmaterials wie des industriellen Potentials verzweifelt im Frieden und Krieg. Das zu erkennen waren alle zu dumm und keiner. Dem Endkampf der Konkurrenz sich ausliefern, hieß in den Abgrund springen, und man hat vorweg die anderen hinabgestoßen, des Glaubens, damit von sich selber es abwenden zu können. Die Chance des nationalsozialistischen Unternehmens, durch eine Terrorspitze und zeitliche Priorität den Nachteil im Gesamtvolumen der Produktion wettzumachen, war winzig. An sie hatten eher die anderen geglaubt als die Deutschen, die sich nicht einmal der Eroberung von Paris freuten. Während sie alles gewannen, wüteten sie schon als die, welche nichts zu verlieren haben. Am Anfang des deutschen Imperialismus steht die Wagnersche Götterdämmerung, die begeisterte Prophetie des eigenen Untergangs, deren Komposition gleichzeitig mit dem siegreichen siebziger Krieg in Angriff genommen wurde. Im selben Geiste hat man zwei Jahre vor dem zweiten Weltkrieg dem deutschen Volk den Untergang seines Zeppelins in Lakehurst gefilmt vorgeführt. Ruhig, unbeirrt zieht das Schiff seine Bahn, um plötzlich senkrecht herabzustürzen. Bleibt kein Ausweg, so wird dem Vernichtungsdrang vollends gleichgültig, worin er nie ganz fest unterschied: ob er gegen andere sich richtet oder gegens eigene Subjekt.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Unmaß für Unmaß. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1840

(vgl. GS 4, S. 117 ff.)]


  68

Menschen sehen dich an. – Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brunetter, »schmutziger«, dagohafter. Das besagt über die Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter. Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – »es ist ja bloß ein Tier« –, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das »Nur ein Tier« immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber die Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der »pathischen Projektion«, daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Menschen sehen dich an. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1843

(vgl. GS 4, S. 118 ff.)]


  70

Meinung des Dilettanten. – Dem Dritten Reich ist kein Kunstwerk, kein gedankliches Gebilde gelungen, das auch nur der armseligen liberalistischen Forderung nach »Niveau« hätte Genüge tun können. Der Abbau der Humanität und die Konservierung der Geistesgüter waren so wenig vereinbar wie Luftschutzkeller und Storchnest, und die kämpferisch erneuerte Kultur sah schon am ersten Tag aus wie die Städte an ihrem letzten, ein Schutthaufen. Ihr wenigstens hat die Bevölkerung passive Resistenz entgegengesetzt. Keineswegs aber sind die vermeintlich freigesetzten kulturellen Energien vom technischen, politischen und militärischen Bereich aufgesogen worden. Barbarei ist wirklich das Ganze und triumphiert noch über ihren eigenen Geist. Man kann das an der Strategie wahrnehmen. Die faschistische Ära hat sie nicht zur Blüte gebracht, sondern abgeschafft. Die großen militärischen Konzeptionen waren untrennbar von List, Phantasie: fast von privater Klugheit und Initiative. Sie gehörten einer vom Produktionsprozeß relativ unabhängigen Disziplin an. Es galt, aus spezialistischen Innovationen, wie der schrägen Schlachtordnung oder der Zielfähigkeit der Artillerie die Entscheidung herauszuholen. Etwas von bürgerlich selbständiger Unternehmertugend war in alldem. Hannibal kam von den Händlern, nicht von den Helden, und Napoleon von der demokratischen Revolution. Das Moment bürgerlicher Konkurrenz in der Kriegführung hat mit dem Faschismus sich überschlagen. Er hat die Grundidee der Strategie zum Absoluten erhoben, die Ausnutzung des temporären Mißverhältnisses zwischen der zum Mord organisierten Spitze einer Nation und dem Gesamtpotential der anderen. Indem jedoch die Faschisten, als Konsequenz dieser Idee, den totalen Krieg erfanden und die Differenz von Armee und Industrie beseitigten, haben sie selber die Strategie liquidiert. Sie ist veraltet wie der Klang der Militärkapellen und das Bild der Schlachtschiffe. Hitler suchte Weltherrschaft durch konzentrierten Terror. Die Mittel aber, derer er sich dabei bediente, waren bereits unstrategische, die Häufung übermächtigen Materials an einzelnen Stellen, der grob frontale Durchbruch, das mechanische Einkreisen der hinter den Durchbruchsstellen zurückgebliebenen Gegner. Dies Prinzip, ganz und gar quantitativ, positivistisch, ohne Überraschung, daher überall »öffentlich« und mit Reklame fusioniert, reichte nicht mehr aus. Die an wirtschaftlichen Ressourcen unendlich viel reicheren Alliierten brauchten nur die deutsche Taktik zu übertrumpfen, um Hitler niederzuwerfen. Stumpfheit und Lustlosigkeit des Krieges, der allgemeine Defaitismus, der dem Überdauern des Unheils zugute kommt, waren vom Verfall der Strategie bedingt. Während alle Aktionen mathematisch ausgerechnet werden, nehmen sie zugleich etwas Stupides an. Wie zum Hohn auf den Gedanken, jeder Beliebige müsse den Staat verwalten können, wird mit Hilfe von Radar und künstlichen Häfen der Krieg doch so geführt, wie ein Fähnchen steckender Gymnasiast es sich vorstellt. Spengler erhoffte vom Untergang des Abendlandes das goldene Zeitalter der Ingenieure. Als dessen Perspektive aber wird der Untergang selbst der Technik absehbar.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Meinung des Dilettanten. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1848

(vgl. GS 4, S. 120 ff.)]


  71

Pseudomenos. – Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen. Über den gesamten Mechanismus belehrt das deutsche Extrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern begannen, terrorisierten sie damit nicht nur die Völker drinnen und draußen, sondern waren zugleich vor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das Grauen anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machte es leicht, nicht zu glauben, was man um des lieben Friedens willen nicht glauben wollte, während man zugleich davor kapitulierte. Die Zitternden reden sich darauf hinaus, es werde doch viel übertrieben: bis in den Krieg hinein waren in der englischen Presse Einzelheiten über die Konzentrationslager unerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt wird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspricht. Nicht nur wünscht es die Greuel herbei. Sondern der Faschismus ist in der Tat weniger »ideologisch«, insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte. So desperat aber sind die Menschen in der Kultur geworden, daß sie auf Abruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu bekennen, wie böse sie ist. Die politischen Gegenkräfte jedoch sind gezwungen, selbst immer wieder der Lüge sich zu bedienen, wenn nicht gerade sie als destruktiv völlig ausgelöscht werden wollen. Je tiefer ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnen doch Zuflucht gewährt vor der ärgeren Zukunft, um so leichter fällt es den Faschisten, sie auf Unwahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lüge hat noch die Freiheit, irgend die Wahrheit zu sagen. In der Vertauschung von Wahrheit und Lüge, die es fast ausschließt, die Differenz zu bewahren, und die das Festhalten der einfachsten Erkenntnis zur Sisyphusarbeit macht, kündet der Sieg des Prinzips in der logischen Organisation sich an, das militärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine: sie sind der Zeit voraus. Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge der Logik ohnehin emsig mitwirken. So überlebt Hitler, von dem keiner sagen kann, ob er starb oder entkam.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Pseudomenos. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1851

(vgl. GS 4, S. 122 ff.)]


  97

Monade. – Das Individuum verdankt seine Kristallisation den Formen der politischen Ökonomie, insbesondere dem städtischen Marktwesen. Noch als Opponent des Drucks der Vergesellschaftung bleibt es deren eigenstes Produkt und ihr ähnlich. Was ihm den Widerstand erlaubt, jeder Zug von Unabhängigkeit, entspringt im monadologischen Einzelinteresse und dessen Niederschlag als Charakter. Das Individuum spiegelt gerade in seiner Individuation das vorgeordnete gesellschaftliche Gesetz der sei’s noch so sehr vermittelten Exploitation wider. Das besagt aber auch, daß sein Verfall in der gegenwärtigen Phase selber nicht individualistisch, sondern aus der gesellschaftlichen Tendenz abgeleitet werden muß, wie sie vermöge der Individuation und nicht als deren bloßer Feind sich durchsetzt. Daran scheidet sich die reaktionäre Kritik der Kultur von der anderen. Die reaktionäre erreicht oft genug die Einsicht in den Verfall der Individualität und die Krise der Gesellschaft, aber bürdet die ontologische Verantwortung dafür dem Individuum an sich, als einem losgelösten und inwendigen, auf: daher ist der Einwand der Flachheit, Glaubenslosigkeit, Substanzlosigkeit das letzte Wort, das sie zu sagen hat, und Umkehr ihr Trost. Individualisten wie Huxley und Jaspers verdammen das Individuum um seiner mechanischen Leere und neurotischen Schwäche willen, aber es ist der Sinn ihres Verdammungsurteils, lieber noch es selber zu opfern als Kritik am gesellschaftlichen principium individuationis zu üben. Ihre Polemik ist als halbe Wahrheit schon die ganze Unwahrheit. Die Gesellschaft wird dabei als das unmittelbare Zusammenleben von Menschen angesprochen, aus deren Haltung gleichsam das Ganze folgt, anstatt als ein System, das sie nicht bloß umklammert und deformiert, sondern noch in jene Humanität hinabreicht, die sie einmal als Individuen bestimmte. Durch die allmenschliche Interpretation des Zustands, wie er ist, wird noch in der Anklage die krude materielle Realität hingenommen, die das Menschsein an die Unmenschlichkeit bindet. In seinen besseren Tagen hat das Bürgertum, wo es historisch reflektierte, von solcher Verflochtenheit sehr wohl gewußt, und erst seitdem seine Doktrin zur sturen Apologetik gegen den Sozialismus entartet ist, hat sie daran vergessen. Unter den Verdiensten von Jakob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte ist nicht das geringste, daß er die Verödung der hellenistischen Individualität nicht bloß mit dem objektiven Verfall der Polis, sondern gerade mit dem Kultus des Individuums zusammenbringt: »An politischen Persönlichkeiten aber wird die Stadt seit dem Tode des Demosthenes und des Phokion erstaunlich arm, und nicht bloß an diesen, sondern der schon 342 in einer attischen Kleruchenfamilie auf Samos geborene Epikur ist überhaupt der letzte weltgeschichtliche Athener.« (Jakob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte. Hrsg. von Jakob Oeri. Bd. 4. 3. Aufl., Stuttgart 1909, S. 515.) Der Zustand, in dem das Individuum verschwindet, ist zugleich der fessellos individualistische, in dem »alles möglich« ist: »Vor allem feiert man jetzt Individuen statt Götter.« (ibd., S. 516) Daß die Freisetzung des Individuums durch die ausgehöhlte Polis nicht etwa den Widerstand stärkt, sondern ihn, ja die Individualität selber eliminiert, wie es dann in Diktaturstaaten sich vollendet, ist das Modell eines der zentralen Widersprüche, die vom neunzehnten Jahrhundert in den Faschismus trieben. Beethovens Musik, deren Schauplatz die gesellschaftlich übermittelten Formen sind und die, asketisch gegen den privaten Gefühlsausdruck, widerhallt vom bestimmt gelenkten Echo des gesellschaftlichen Kampfes, zieht gerade aus solcher Askese alle Fülle und Gewalt des Individuellen. Die von Richard Strauss, ganz dem individuellen Anspruch dienstbar und auf die Verherrlichung des selbstgenügsamen Individuums ausgerichtet, setzt es eben damit zum bloßen Rezeptionsorgan des Marktes, zum Nachbildner unverbindlich ausgewählter Ideen und Stile herab. Innerhalb der repressiven Gesellschaft kommt die Emanzipation des Individuums diesem nicht bloß zugute, sondern tut ihm Eintrag. Freiheit von der Gesellschaft beraubt es der Kraft zur Freiheit. Denn so real es in seiner Beziehung zu anderen sein mag, es ist, als Absolutes betrachtet, eine bloße Abstraktion. Es hat keinerlei Inhalt, der nicht gesellschaftlich konstituiert, keine über die Gesellschaft hinausgehende Regung, die nicht darauf gerichtet wäre, daß der gesellschaftliche Zustand über sich selber hinausgeht. Noch die christliche Lehre von Tod und Unsterblichkeit, in der die Konzeption der absoluten Individualität gründet, wäre ganz nichtig, wenn sie nicht die Menschheit einschlösse. Der Einzelne, der absolut und für sich allein auf Unsterblichkeit hofft, würde in solcher Beschränkung nur das Prinzip der Selbsterhaltung ins Widersinnige vergrößern, dem das Wirf weg, damit du gewinnst, Einhalt gebietet. Gesellschaftlich zeigt die Verabsolutierung des Individuums den Übergang von der universalen Vermittlung des gesellschaftlichen Verhältnisses, die als Tausch stets zugleich auch Einschränkung des in diesem realisierten je eigenen Interesses erheischt, zur unmittelbaren Herrschaft an, deren die Stärksten sich bemächtigen. Durch diese Auflösung alles Vermittelnden im Individuum selber, vermöge dessen es doch auch ein Stück gesellschaftliches Subjekt war, verarmt, verroht und regrediert es  auf den Stand des bloßen gesellschaftlichen Objekts. Als im Hegelschen Sinn abstrakt verwirklichtes hebt das Individuum sich selber auf: die Zahllosen, die nichts mehr kennen als sich und ihr nacktes schweifendes Interesse, sind die gleichen, die kapitulieren, sobald Organisation und Terror sie einfängt. Wenn heute die Spur des Menschlichen einzig am Individuum als dem untergehenden zu haften scheint, so mahnt sie, jener Fatalität ein Ende zu machen, welche die Menschen individuiert, einzig, um sie in ihrer Vereinzelung vollkommen brechen zu können. Das bewahrende Prinzip ist allein noch in seinem Gegenteil aufgehoben.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Monade. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1937

(vgl. GS 4, S. 169 ff.)]


  99

Goldprobe. – Unter den Begriffen, in welche die bürgerliche Moral nach der Auflösung ihrer religiösen und der Formalisierung ihrer autonomen Normen sich zusammenzieht, rangiert Echtheit obenan. Wenn nichts anderes verbindlich mehr vom Menschen gefordert werden könne, dann wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist. In der Identität jedes Einzelnen mit sich selber wird das Postulat unbestechlicher Wahrheit sowohl wie die Glorifizierung des Faktischen von der aufgeklärten Erkenntnis auf die Ethik übertragen. Gerade die kritisch unabhängigen, der traditionellen Urteile und idealistischen Phrasen überdrüssigen Denker des späteren Bürgertums stimmen darin überein. Ibsens freilich gebrochenes Verdikt über die Lebenslüge, Kierkegaards Existenzlehre haben das Echtheitsideal zum Hauptstück der Metaphysik gemacht. In Nietzsches Analyse steht das Wort ächt bereits als Fragloses, von der Arbeit des Begriffs Ausgenommenes. Den bekehrten und unbekehrten Philosophen des Faschismus werden schließlich Werte wie Eigentlichkeit, heroisches Aushalten in der »Geworfenheit« der individuellen Existenz, Grenzsituation zum Mittel, religiös-autoritäres Pathos ohne jeglichen religiösen Inhalt zu usurpieren. Es treibt zur Denunziation alles dessen, was nicht kernig genug, nicht aus Schrot und Korn sein soll, also der Juden: hat doch schon Richard Wagner die echte deutsche Art gegen den welschen Tand ausgespielt und damit die Kritik am Kulturmarkt für die Apologie der Barbarei mißbraucht. Solcher Mißbrauch ist aber dem Begriff der Echtheit nicht äußerlich. Im Ausverkauf seiner abgetragenen Montur kommen Nähte und schadhafte Stellen heraus, die in den großen Tagen der Opposition unsichtbar schon vorhanden waren. Die Unwahrheit steckt im Substrat von Echtheit selber, dem Individuum. Wenn im principium individuationis, wie die Antipoden Hegel und Schopenhauer gemeinsam erkannten, das Gesetz des Weltlaufs sich versteckt, so wird die Anschauung von der letzten und absoluten Substantialität des Ichs Opfer eines Scheins, der die bestehende Ordnung schützt, während ihr Wesen bereits verfällt. Die Gleichsetzung von Echtheit und Wahrheit ist nicht zu halten. Gerade die unbeirrte Selbstbesinnung – jene Verhaltensweise, die Nietzsche Psychologie nannte –, also die Insistenz auf der Wahrheit über einen selber, ergibt immer wieder, schon in den ersten bewußten Erfahrungen der Kindheit, daß die Regungen, auf die man reflektiert, nicht ganz »echt« sind. Stets enthalten sie etwas von Nachahmung, Spiel, Andersseinwollen. Der Wille, durch Versenkung in die je eigene Individualität anstatt durch deren gesellschaftliche Erkenntnis auf das unbedingt Feste, aufs Sein des Seienden zu stoßen, führt in eben die schlechte Unendlichkeit, welche seit Kierkegaard der Begriff der Echtheit exorzieren soll. Keiner hat das unverblümter ausgesprochen als Schopenhauer. Der verdrossene Ahnherr der Existenzphilosophie und boshafte Erbe der großen Spekulation hat in den Höhlen und Schluchten des individuellen Absolutismus unübertrefflich sich ausgekannt. Seine Einsicht schließt sich an die spekulative These an, das Individuum sei nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich. »Jedes Individuum«, heißt es in einer Fußnote aus dem vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung, »ist einerseits das Subjekt des Erkennens, das heißt, die ergänzende Bedingung der Möglichkeit der ganzen objektiven Welt, und andererseits einzelne Erscheinung des Willens, desselben, der sich in jedem Dinge objektiviert. Aber diese Duplizität unseres Wesens ruht nicht in einer für sich bestehenden Einheit: sonst würden wir uns unserer selbst an uns selbst und unabhängig von den Objekten des Erkennens und Wollens bewußt werden können: dies können wir aber schlechterdings nicht, sondern sobald wir, um es zu versuchen, in uns gehen und uns, indem wir das Erkennen nach Innen richten, einmal völlig besinnen wollen; so verlieren wir uns in eine bodenlose Leere, finden uns gleich der gläsernen Hohlkugel, aus deren Leere eine Stimme spricht, deren Ursache aber nicht darin anzutreffen ist, und indem wir so uns selbst ergreifen wollen, erhaschen wir, mit Schaudern, nichts, als ein bestandloses Gespenst.« (Schopenhauer, Sämtliche Werke [Großherzog Wilhelm-Ernst-Ausgabe]. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. I. Hrsg. von Eduard Grisebach. Leipzig o.J. [1920], S. 371f.) Er hat damit den mythischen Trug des reinen Selbst als nichtig beim Namen gerufen. Es ist eine Abstraktion. Was als ursprüngliche Entität, als Monade auftritt, resultiert erst aus einer gesellschaftlichen Trennung vom gesellschaftlichen Prozeß. Gerade als Absolutes ist das Individuum bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse. In ihm wird der fiktive Anspruch erhoben, das biologisch Eine gehe dem Sinne nach dem gesellschaftlichen Ganzen voran, aus dem nur Gewalt es isoliert, und seine Zufälligkeit wird fürs Maß der Wahrheit ausgegeben. Nicht bloß ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr, oder schlechterdings aus der Beziehung zum Objekt. Es wird um so reicher, je freier es in dieser sich entfaltet und sie zurückspiegelt, während seine Abgrenzung und Verhärtung, die es als Ursprung reklamiert, eben damit es beschränkt, verarmen läßt und reduziert. Versuche wie der Kierkegaards, im Zurücktreten des Einzelnen in sich selber seiner Fülle habhaft zu werden, sind nicht umsonst gerade aufs Opfer des Einzelnen und auf dieselbe Abstraktheit hinausgelaufen, die er an den idealistischen Systemen diffamierte. Echtheit ist nichts anderes als das trotzige und verstockte Beharren auf der monadologischen Gestalt, welche die gesellschaftliche Unterdrückung den Menschen aufprägt. Was nicht verdorren will, nimmt lieber das Stigma des Unechten auf sich. Es zehrt von dem mimetischen Erbe. Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert. In solchem Verhalten, der Urform von Liebe, wittern die Priester der Echtheit Spuren jener Utopie, welche das Gefüge der Herrschaft zu erschüttern vermöchte. Daß Nietzsche, dessen Reflexion bis in den Begriff der Wahrheit drang, dogmatisch vor dem der Echtheit innehielt, macht ihn zu dem, was er am letzten sein wollte, einem Lutheraner, und sein Wüten gegen die Schauspielerei ist vom Schlage des Antisemitismus, der an dem Erzschauspieler Wagner ihn empörte. Nicht Schauspielerei hätte er Wagner vorwerfen sollen – denn alle Kunst, und Musik vorab, ist dem Schauspiel verwandt, und in jeder Periode Nietzsches hallt das tausendjährige Echo der Rhetorenstimmen aus dem römischen Senat – sondern die Verleugnung der Schauspielerei durch den Schauspieler. Ja es wäre nicht erst das Unechte, das als seinshaltig sich aufspielt, der Lüge zu überführen, sondern das Echte selber wird zur Lüge, sobald es zum Echten überhaupt wird, also in der Reflexion auf sich, in seiner Setzung als Echtes, in der es bereits die Identität überschreitet, die es im gleichen Atemzug behauptet. Vom Selbst wäre nicht als dem ontologischen Grunde zu reden, sondern einzig allenfalls theologisch, im Namen der Gottesebenbildlichkeit. Wer am Selbst festhält und der theologischen Begriffe sich entschlägt, trägt bei zur Rechtfertigung des teuflisch Positiven, des kahlen Interesses. Ihm erborgt er die Aura des Sinnes und macht der Befehlsgewalt der selbsterhaltenden Vernunft einen hochtrabenden Überbau, während das reale Selbst in der Welt schon zu dem geworden ist, als was Schopenhauer es in der Selbstversenkung erkannte, zum Gespenst. Sein Scheincharakter läßt sich einsehen an den historischen Implikationen des Begriffs der Echtheit als solcher. In ihm steckt die Vorstellung von der Suprematie des Ursprungs übers Abgeleitete. Die ist aber stets mit sozialem Legitimismus verbunden. Alle Herrenschichten berufen sich darauf, älter eingesessen, autochthon zu sein. Die ganze Philosophie der Innerlichkeit, mit dem Anspruch der Weltverachtung, ist die letzte Sublimierung der barbarischen Brutalität, daß, wer zuerst da war, das größere Recht habe, und die Priorität des Selbst ist so unwahr wie die aller, die bei sich zu Hause sind. Daran ändert sich nichts, wenn Echtheit auf den Gegensatz von physei und thesei sich zurückzieht, darauf, daß, was ohne menschliches Zutun existiert, besser sei als das Artifizielle. Je dichter die Welt vom Netz des von Menschen Gemachten überzogen wird, um so krampfhafter betonen die, welche es ihr antun, ihre eigene Naturwüchsigkeit und Primitivität. Die Entdeckung der Echtheit als letzten Bollwerks der individualistischen Ethik ist ein Reflex der industriellen Massenproduktion. Erst indem ungezählte standardisierte Güter um des Profits willen vorspiegeln, ein Einmaliges zu sein, bildet sich als Antithese dazu, doch nach den gleichen Kriterien, die Idee des nicht zu Vervielfältigenden als des eigentlich Echten. Vorher dürfte geistigen Gebilden gegenüber die Frage nach Echtheit so wenig gestellt worden sein, wie die nach Originalität, welche noch der Ära Bachs unbekannt war. Der Trug der Echtheit geht zurück auf die bürgerliche Verblendung dem Tauschvorgang gegenüber. Echt erscheint, worauf die Waren und anderen Tauschmittel reduziert werden, Gold zumal. Wie das Gold aber wird die von seinem Feingehalt abstrahierte Echtheit zum Fetisch. Beide werden behandelt, als wären sie das Substrat, das doch in Wahrheit ein gesellschaftliches Verhältnis ist, während Gold und Echtheit gerade nur Fungibilität, die Vergleichbarkeit der Sachen ausdrücken; gerade sie sind nicht an sich, sondern für anderes. Die Unechtheit des Echten rührt daher, daß es in der vom Tausch beherrschten Gesellschaft prätendieren muß, das zu sein, wofür es einsteht, ohne es doch je sein zu können. Die Echtheitsapostel der Macht, die der Zirkulation zuleibe rückt, tanzen dieser zur Totenfeier den Geldschleiertanz.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Goldprobe. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1945

(vgl. GS 4, S. 173 ff.)]


  100

Sur l’eau. – Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft erhält man Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens. So illegitim die unvermeidliche Frage, so unvermeidlich das Abstoßende, Auftrumpfende der Antwort, welche die Erinnerung an das sozialdemokratische Persönlichkeitsideal vollbärtiger Naturalisten der neunziger Jahre aufruft, die sich ausleben wollten. Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt. Der Begriff der Dynamik, der zu der bürgerlichen »Geschichtslosigkeit« komplementär gehört, wird zum Absoluten erhöht, während er doch, als anthropologischer Reflex der Produktionsgesetze, in der emanzipierten Gesellschaft selber dem Bedürfnis kritisch konfrontiert werden müßte. Die Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb zehrt von jenem bürgerlichen Naturbegriff, der von je einzig dazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt als unabänderliche, als ein Stück gesunder Ewigkeit zu proklamieren. Darin und nicht in der vorgeblichen Gleichmacherei verharrten die positiven Entwürfe des Sozialismus, gegen die Marx sich sträubte, in der Barbarei. Nicht das Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben ist zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens. Die naiv unterstellte Eindeutigkeit der Entwicklungstendenz auf Steigerung der Produktion ist selber ein Stück jener Bürgerlichkeit, die Entwicklung nach einer Richtung nur zuläßt, weil sie, als Totalität zusammengeschlossen, von Quantifizierung beherrscht, der qualitativen Differenz feindlich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben. Wenn hemmungslose Leute keineswegs die angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte wohl die Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben. Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuß selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, »sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung« könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden. Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wie Maupassant und Sternheim haben dieser Intention zum Ausdruck verholfen, so schüchtern, wie es deren Zerbrechlichkeit einzig verstattet ist.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Sur l’eau. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1953

(vgl. GS 4, S. 178 ff.)]


  106

Die Blümlein alle. – Der Satz, von Jean Paul wohl, die Erinnerungen seien der einzige Besitz, den niemand uns wegnehmen könne, gehört in den Vorrat des ohnmächtig sentimentalen Trostes, der die entsagende Zurücknahme des Subjekts in die Innerlichkeit jenem als eben die Erfüllung einreden möchte, von der es abläßt. Mit der Einrichtung des Archivs seiner selbst beschlagnahmt das Subjekt den eigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen. Das vergangene Innenleben wird zum Mobiliar, wie umgekehrt jedes Biedermeierstück geschaffen ward als holzgewordene Erinnerung. Das Intérieur, in dem die Seele die Sammlung ihrer Denkwürdigkeiten und Kuriositäten unterbringt, ist hinfällig. Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht unauflöslich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen. Keiner verfügt mit der Freiheit und Willkür darüber, deren Lob die Sätze Jean Pauls schwellt. Gerade wo sie beherrschbar und gegenständlich werden, wo das Subjekt ihrer ganz versichert sich meint, verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht. Wo sie aber, geschützt durchs Vergessene, ihre Kraft bewahren, sind sie gefährdet wie alles Lebendige. Die gegen Verdinglichung gewandte Konzeption Bergsons und Prousts, derzufolge das Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis sich konstituiert, die Wechselwirkung von Jetzt und Damals, hat darum nicht bloß den rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt. Wie kein früheres Erlebnis wirklich ist, das nicht durch unwillkürliches Eingedenken aus der Totenstarre seines isolierten Daseins gelöst ward, so ist umgekehrt keine Erinnerung garantiert, an sich seiend, indifferent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes durch den Übergang in die bloße Vorstellung gefeit vorm Fluch der empirischen Gegenwart. Die seligste Erinnerung an einen Menschen kann ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere Erfahrung. Wer liebte und Liebe verrät, tut Schlimmes nicht nur dem Bilde des Gewesenen, sondern diesem selber an. Mit unwiderstehlicher Evidenz drängt in die Erinnerung eine unwillige Gebärde beim Erwachen, ein abwesender Tonfall, eine leise Hypokrisie der Lust sich ein und macht die Nähe von einst schon zu der Fremdheit, die sie heut geworden ist. Verzweiflung hat den Ausdruck des Unwiderruflichen nicht, weil es nicht noch einmal besser werden könnte, sondern weil sie die Vorzeit selber in ihren Schlund hineinzieht. Darum ist es töricht und sentimental, vor der Schmutzflut des Gegenwärtigen Vergangenes rein erhalten zu wollen. Diesem ist keine Hoffnung gelassen, als daß es, schutzlos dem Unheil ausgeliefert, aus diesem als anderes wieder hervortrete. Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Die Blümlein alle. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1969

(vgl. GS 4, S. 189 ff.)]


  117

Il servo padrone. – Zu den stumpfsinnigen Leistungen, welche die herrschaftliche Kultur von den Unterklassen verlangt, werden diese fähig allein durch permanente Regression. Gerade das Ungeformte an ihnen ist Produkt der gesellschaftlichen Form. Die Erzeugung von Barbaren durch die Kultur ist aber stets von dieser dazu ausgenutzt worden, ihr eigenes barbarisches Wesen am Leben zu erhalten. Herrschaft delegiert die physische Gewalt, auf der sie beruht, an Beherrschte. Während diesen die Genugtuung zuteil wird, ihre verbogenen Instinkte als das kollektiv Rechte und Billige auszutoben, lernen sie zu verüben, wessen die Edlen bedürfen, damit sie es sich leisten können, edel zu bleiben. Die Selbsterziehung der herrschenden Clique mit allem, was sie an Disziplin, Abdrosselung jeder unmittelbaren Regung, zynischer Skepsis und blinder Kommandolust erheischt, käme nicht zustande, wenn nicht die Unterdrücker durch gedungene Unterdrückte sich selber ein Stück der Unterdrückung bereiteten, die sie den anderen bereiten. Daher wohl sind die psychologischen Differenzen zwischen den Klassen so viel geringer als die objektiv-ökonomischen. Die Harmonie des Unversöhnlichen kommt dem Fortbestand der schlechten Totalität zugute. Die Gemeinheit des Vorgesetzten und die Schneidigkeit des Gemeinen verstehen sich. Von den Dienstboten und Gouvernanten, die Kinder aus guten Häusern dem Ernst des Lebens zuliebe schikanieren, über die Lehrer aus dem Westerwald, die ihnen wie den Gebrauch der Fremdwörter so die Lust an aller Sprache austreiben, über die Beamten und Angestellten, die sie Schlange stehen lassen, die Unteroffiziere, die sie treten, geht es schnurstracks zu den Folterknechten der Gestapo und den Bürokraten der Gaskammern. Auf die Delegierung der Gewalt an die Unteren sprechen früh die Regungen der Oberen selber an. Wem es bei der Wohlerzogenheit der Eltern graut, flüchtet in die Küche und wärmt sich an den Kraftausdrücken der Köchin, die insgeheim das Prinzip der elterlichen Wohlerzogenheit abgeben. Die feinen Leute zieht es zu den unfeinen, deren Roheit trügend ihnen verheißt, worum die eigene Kultur sie bringt. Sie wissen nicht, daß das Unfeine, das ihnen anarchische Natur dünkt, nichts ist als der Reflex auf den Zwang, gegen den sie sich sträuben. Zwischen der Klassensolidarität der Oberen und ihrer Anbiederung an die Abgesandten der Unterklasse vermittelt ihr berechtigtes Schuldgefühl den Armen gegenüber. Wer aber den Ungefügen sich fügen lernte, wem das »So wird das hier gemacht« bis ins Innerste drang, der ist schließlich selbst so einer geworden. Bettelheims Beobachtung von der Identifikation der Opfer mit den Henkern der Nazilager enthält das Urteil über die gehobenen Pflanzstätten der Kultur, die englische Public School, die deutsche Kadettenanstalt. Der Widersinn wird durch sich selbst perpetuiert: Herrschaft erbt sich fort durch die Beherrschten hindurch.


 118

Hinunter und immer weiter. – Es scheinen die privaten Beziehungen zwischen den Menschen nach dem Modell des industriellen bottleneck sich zu formen. Noch in der kleinsten Gemeinschaft gehorcht das Niveau dem Subalternsten ihrer Mitglieder. Wer in der Konversation etwa über den Kopf auch nur eines einzigen hinwegredet, wird taktlos. Der Humanität zuliebe beschränkt das Gespräch sich aufs Nächste, Stumpfste und Banalste, wenn nur ein Inhumaner anwesend ist. Seitdem die Welt den Menschen die Rede verschlagen hat, behält der Unansprechbare recht. Er braucht bloß stur auf seinem Interesse und seiner Beschaffenheit zu beharren, um durchzudringen. Schon daß der andere, vergeblich um Kontakt bemüht, in plädierenden oder werbenden Tonfall gerät, macht ihn zum Schwächeren. Da das bottleneck keine Instanz kennt, die übers Tatsächliche sich erhöbe, während Gedanke und Rede notwendig auf eine solche Instanz verweisen, wird Intelligenz zur Naivetät, und das nehmen die Dummköpfe unwiderleglich wahr. Das Eingeschworensein aufs Positive wirkt als Schwerkraft, die alle hinunterzieht. Sie zeigt der opponierenden Regung sich überlegen, indem sie in die Verhandlung mit dieser gar nicht mehr eintritt. Der Differenziertere, der nicht untergehen will, bleibt zur Rücksicht auf alle Rücksichtslosen strikt verhalten. Von der Unruhe des Bewußtseins brauchen diese nicht länger sich plagen zu lassen. Geistige Schwäche, bestätigt als universales Prinzip, erscheint als Kraft zum Leben. Formalistisch-administratives Erledigen, schubfächerweise Trennung alles dem Sinne nach Untrennbaren, verbohrte Insistenz auf der zufälligen Meinung bei Abwesenheit jeglichen Grundes, kurz die Praktik, jeden Zug der mißlungenen Ichbildung zu verdinglichen, dem Prozeß der Erfahrung zu entziehen und als das letzte So bin ich nun einmal zu behaupten, genügt, unbezwingliche Positionen zu erobern. Man darf des Einverständnisses der anderen, ähnlich Deformierten, wie des eigenen Vorteils gewiß sein. Im zynischen Pochen auf den eigenen Defekt lebt die Ahnung, daß der objektive Geist auf der gegenwärtigen Stufe den subjektiven liquidiert. Sie sind down to earth wie die zoologischen Ahnen, ehe diese sich auf die Hinterbeine stellten.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Il servo padrone. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2004

(vgl. GS 4, S. 207 ff.)]


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Tugendspiegel. – Allbekannt ist der Zusammenhang von Unterdrückung und Moral als Triebverzicht. Aber die moralischen Ideen unterdrücken nicht nur die anderen, sondern sind von der Existenz der Unterdrücker unmittelbar deriviert. Seit Homer läßt der griechische Sprachgebrauch die Begriffe des Guten und des Reichen ineinander spielen. Die Kalokagathie, die von den Humanisten der neuzeitlichen Gesellschaft als Muster ästhetischmoralischer Harmonie vorgehalten wurde, hat stets schwere Akzente auf den Besitz gelegt, und die Aristotelische Politik gesteht unbefangen die Fusion des inneren Wertes mit dem Status zu in der Bestimmung des Adels, der »ererbter Reichtum, mit Trefflichkeit verbunden« sei. Die Konzeption der Polis im klassischen Zeitalter, in der innerliches und äußerliches Wesen, die Geltung des Individuums im Stadtstaat und sein Selbst als Einheit behauptet waren, hat es erlaubt, dem Reichtum moralischen Rang zuzusprechen, ohne dabei dem groben Verdacht sich auszusetzen, der der Doktrin damals schon gebührt hätte. Wenn die sichtbare Wirkung im bestehenden Staat den Maßstab für den Menschen abgibt, dann ist es nichts als konsequent, den materiellen Reichtum, der ihm jene Wirkung handgreiflich bestätigt, als Eigenschaft ihm gutzuschreiben, da ja seine moralische Substanz selber, nicht anders als später in Hegels Philosophie, durch seine Teilhabe an der objektiven, sozialen konstituiert sein soll. Erst das Christentum hat jene Identifikation negiert im Satz, daß eher ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel komme. Aber die besondere theologische Prämie auf freiwillig gewählte Armut zeigt an, wie tief das allgemeine Bewußtsein von der Moralität des Besitzes geprägt ist. Festes Eigentum unterscheidet von der nomadischen Unordnung, gegen die alle Norm gerichtet ist; gut sein und Gut haben fallen von Anbeginn zusammen. Der Gute ist, der sich selbst beherrscht als seinen eigenen Besitz: sein autonomes Wesen ist der materiellen Verfügung nachgebildet. Nicht sowohl sind daher die Reichen der Unmoral zu zeihen – der Vorwurf gehört von je zur Armatur politischer Unterdrückung –, als ins Bewußtsein zu heben, daß sie den anderen die Moral darstellen. In ihr reflektiert sich die Habe. Reichtum als Gutsein ist ein Element des Kitts der Welt: der zähe Schein solcher Identität verhindert die Konfrontation der Moralideen mit der Ordnung, in der die Reichen recht haben, während zugleich andere konkrete Bestimmungen des Moralischen als die vom Reichtum abgezogenen nicht konzipiert werden konnten. Je mehr späterhin Individuum und Gesellschaft in der Konkurrenz der Interessen auseinander treten, und je mehr das Individuum in sich selbst zurückgeworfen wird, um so sturer hält es an der Vorstellung vom moralischen Wesen des Reichtums fest. Er soll die Möglichkeit der Wiedervereinigung des Entzweiten, von innen und außen verbürgen. Das ist das Geheimnis der innerweltlichen Askese, der von Max Weber fälschlich hypostasierten unbegrenzten Anstrengung des Geschäftsmannes ad majorem dei gloriam. Der materielle Erfolg verbindet Individuum und Gesellschaft nicht bloß in dem komfortablen und mittlerweile fraglichen Sinn, daß der Reiche der Einsamkeit entrinnen kann, sondern in einem weit radikaleren: wird das blinde, isolierte Eigeninteresse nur weit genug getrieben, so geht es mit der ökonomischen in gesellschaftliche Macht über und offenbart sich als Inkarnation des allverbindenden Prinzips. Wer reich ist oder Reichtum erwirbt, erfährt sich als den, der »aus eigener Kraft«, als Ich vollbringt, was der objektive Geist, die wahrhaft irrationale Gnadenwahl einer durch brutale ökonomische Ungleichheit zusammengehaltenen Gesellschaft, will. So mag denn der Reiche als Güte sich zurechnen, was doch nur deren Absenz bezeugt. Er selbst und andere erfahren ihn als Verwirklichung des allgemeinen Prinzips. Weil es die Ungerechtigkeit ist, deshalb wird der Ungerechte regelmäßig zum Gerechten, und nicht in bloßer Illusion, sondern getragen von der Allmacht des Gesetzes, nach dem die Gesellschaft sich reproduziert. Reichtum des Einzelnen ist untrennbar vom Fortschritt in der Gesellschaft der »Vorgeschichte«. Die Reichen verfügen über die Produktionsmittel. Die technischen Fortschritte, an denen die Gesamtgesellschaft partizipiert, werden daher primär als »ihre« Fortschritte, heute die der Industrie verbucht, und die Fords erscheinen notwendig zugleich um ebensoviel als Wohltäter, wie sie es im Rahmen der bestehenden Produktionsverhältnisse tatsächlich auch sind. Ihr vorweg etabliertes Privileg läßt es aussehen, als gäben sie von dem Ihren – nämlich den Zuwachs auf der Gebrauchswertseite – ab, während sie in den von ihnen verwalteten Segnungen doch nur Teile des Gewinns zurückfließen lassen. Das ist der Grund des Verblendungscharakters der moralischen Hierarchie. Wohl ist Armut stets verherrlicht worden als Askese, die gesellschaftliche Bedingung zum Erwerb eben des Reichtums, in dem Sittlichkeit sich manifestiere, aber trotzdem bedeutet, wie man weiß, »What a man is worth« das Bankkonto und im Jargon des deutschen Handelsverkehrs »der Mann ist gut«, daß er zahlen kann. Was jedoch die Staatsraison der allmächtigen Wirtschaft so zynisch einbekennt, das reicht uneingestanden in die Verhaltensweisen der Einzelnen. Generosität im privaten Verkehr, wie sie vermeintlich die Reichen sich leisten können, der Abglanz von Glück, der auf ihnen ruht, und von dem etwas noch auf jene fällt, die sie heranlassen, all das wirkt am Schleier. Sie bleiben nett, the right people, die besseren Leute, die Guten. Reichtum distanziert vom unmittelbaren Unrecht. Der Schutzmann schlägt mit dem Gummiknüppel auf den Streikenden los, der Sohn des Fabrikanten darf gelegentlich mit dem progressiven Schriftsteller Whisky trinken. Nach allen Desideraten der privaten Moral, und wären es die avanciertesten, könnte der Reiche, wenn er es nur könnte, in der Tat stets besser sein als der Arme. Jene real freilich ungenützte Möglichkeit spielt ihre Rolle in der Ideologie derer, die sie nicht haben: noch dem ertappten Hochstapler, der immerhin den legitimen Trustherren vorzuziehen sein mag, wird nachgerühmt, er habe doch ein so schönes Haus gehabt, und der hochbezahlte executive wird zum warmen Menschen, wenn er opulente Abendessen serviert. Die barbarische Erfolgsreligion von heute ist demnach nicht einfach widermoralisch, sondern in ihr findet das Abendland heim zu den ehrwürdigen Sitten der Väter. Selbst die Normen, welche die Einrichtung der Welt verdammen, verdanken sich deren eigenem Unwesen. Alle Moral hat sich am Modell der Unmoral gebildet und bis heute auf jeder Stufe diese wiederhergestellt. Die Sklavenmoral ist schlecht in der Tat: sie ist immer noch Herrenmoral.


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Rosenkavalier. – Zu den eleganten Leuten zieht die Erwartung, sie seien privat frei von der Gier nach Vorteil, der ihnen durch ihre Position sowieso zufließt, und von der sturen Befangenheit in nächsten Verhältnissen, die selber von deren Enge bewirkt wird. Man traut ihnen Abenteuerlust des Gedankens, Souveränität gegenüber der eigenen Interessenlage, Verfeinerung der Reaktionsformen zu und meint, ihre Empfindlichkeit wende sich wenigstens im Geist gegen die Brutalität, von der ihr Privileg selbst abhängt, während den Opfern kaum auch nur die Möglichkeit gelassen ist zu erkennen, was sie dazu macht. Wenn aber die Trennung von Produktion und Privatsphäre selber schließlich als ein Stück notwendigen gesellschaftlichen Scheins sich erweist, so muß jene Erwartung ungebundener Spiritualität enttäuscht werden. Noch der subtilste Snobismus hat nichts vom dégoût gegen seine objektive Voraussetzung, sondern dichtet gerade gegen deren Erkenntnis sich ab. Es steht dahin, zu welchem Maß der französische Adel des achtzehnten Jahrhunderts in der Tat an der Aufklärung und der Vorbereitung der Revolution jenen spielerisch-selbstmörderischen Anteil nahm, den der Widerwille gegen die Terroristen der Tugend so gern sich vorstellt. Das Bürgertum jedenfalls hat auch in seiner späten Phase von solchen Neigungen sich rein gehalten. Keiner tanzt mehr aus der Reihe auf dem Vulkan, er wäre denn deklassiert. Die society ist auch subjektiv so durch und durch von dem ökonomischen Prinzip geprägt, dessen Art Rationalität aufs Ganze geht, daß ihr die Emanzipation vom Interesse, wäre es auch bloß als intellektueller Luxus, versagt ist. So wie sie nicht fähig sind, den unermeßlich angewachsenen Reichtum selber zu genießen, so sind sie zugleich unfähig, gegen sich selber zu denken. Vergebens die Suche nach Frivolität. Zur Verewigung des realen Unterschieds von oben und unten hilft, daß er als Unterschied zwischen den Bewußtseinsweisen hier und dort mehr stets verschwindet. Die Armen werden von der Disziplin der anderen am Denken verhindert, die Reichen von der eigenen. Das Bewußtsein der Herrschenden vollendet allem Geist gegenüber, was zuvor der Religion widerfuhr. Kultur wird dem großen Bürgertum ein Element der Repräsentation. Daß einer klug oder gebildet sei, rangiert unter den Qualitäten, die ihn einladens- oder heiratswert machen, wie gutes Reiten, Naturliebe, Charme oder ein tadellos sitzender Frack. Auf Erkenntnis sind sie nicht neugierig. Meist gehen die Sorgenfreien im Täglichen auf wie die Kleinbürger. Sie richten Häuser ein, bereiten Gesellschaften vor, beschaffen virtuos Hotel- und Flugzeugreservationen. Sonst zehren sie vom Abhub des europäischen Irrationalismus. Plump rechtfertigen sie die eigene Geistfeindschaft, die bereits im Gedanken selber, der Unabhängigkeit von irgendeinem Gegebenen, Seienden das Subversive wittert und nicht einmal mit Unrecht. Wie zu Nietzsches Zeiten die Bildungsphilister an den Fortschritt, die bruchlose Höherentwicklung der Massen und das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl glaubten, so glauben sie heute, ohne selbst das mehr recht zu wissen, an das Gegenteil, die Widerrufung von 1789, die Unverbesserlichkeit der Menschennatur, die anthropologische Unmöglichkeit des Glücks – eigentlich nur daran, daß es den Arbeitern auf jeden Fall zu gut geht. Die Tiefe von vorgestern ist in die äußerste Banalität umgeschlagen. Von Nietzsche und Bergson, den letzten rezipierten Philosophien, bleibt nichts übrig als der trübste Anti-Intellektualismus im Namen der von ihren Apologeten geschundenen Natur. »Nichts ist mir so arg am Dritten Reich«, sagte 1933 die jüdische Frau eines Generaldirektors, die später in Polen ermordet wurde, »wie daß wir jetzt nicht mehr das Wort erdhaft gebrauchen dürfen, weil die Nationalsozialisten es beschlagnahmt haben«, und noch nach der Niederlage der Faschisten wußte die holzgeschnitzte österreichische Schloßherrin, die bei einer Cocktail Party einem Arbeiterführer begegnete, der versehentlich für radikal galt, in ihrer Begeisterung für seine Persönlichkeit nichts als bestialisch zu wiederholen: »und dabei ist er ganz unintellektuell, ganz unintellektuell«. Ich erinnere mich meines Schreckens, als das aristokratische Mädchen vager Herkunft, das kaum deutsch ohne affektiert fremdländischen Akzent reden konnte, mir seine Sympathien für Hitler bekannte, mit dessen Bild das ihre unvereinbar schien. Damals dachte ich, holder Schwachsinn verhülle ihr, wer sie selber sei. Aber sie war klüger als ich, denn was sie darstellte, existierte schon gar nicht mehr, und indem ihr Klassenbewußtsein ihre individuelle Bestimmung durchstrich, verhalf es ihrem Sein an sich, dem Sozialcharakter, zum Durchbruch. Man ist oben dabei, so eisern sich zu integrieren, daß die Möglichkeit der subjektiven Abweichung entfällt und die Differenz nirgends mehr gesucht werden kann als beim aparteren Schnitt des Abendkleids.


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Requiem für Odette. – Die Anglomanie der Oberschicht des kontinentalen Europas rührt davon her, daß auf der Insel feudale Übungen ritualisiert sind, die sich selbst genug sein sollen. Kultur behauptet sich da nicht als abgespaltene Sphäre des objektiven Geistes, als Teilhabe an Kunst oder Philosophie, sondern als Form der empirischen Existenz. Das high life will das schöne Leben sein. Es bringt denen, die daran teilhaben, ideologischen Lustgewinn. Dadurch, daß die Gestaltung des Daseins zu einer Aufgabe wird, in der man Spielregeln zu befolgen, einen Stil artifiziell zu bewahren, das delikate Gleichgewicht von Korrektheit und Unabhängigkeit zu halten hat, erscheint das Dasein selber als sinnvoll und beruhigt das schlechte Gewissen der gesellschaftlich Überflüssigen. Die unablässige Forderung, das genau dem Status und der Situation Angemessene zu tun und zu sagen, verlangt eine Art von moralischem Effort. Man macht es sich schwer, der zu sein, der man ist, und glaubt so dem patriarchalen Noblesse oblige zu genügen. Zugleich entbindet die Verlagerung der Kultur von ihren objektiven Manifestationen aufs unmittelbare Leben vom Risiko der Erschütterung der eigenen Unmittelbarkeit durch den Geist. Dieser wird als Störenfried des sicheren Stils, als geschmacklos verworfen, aber nicht mit der peinlichen Roheit des ostelbischen Junkers, sondern nach einem selber gleichsam geistigen Kriterion, der Ästhetisierung des Alltags. Es kommt die schmeichelhafte Illusion heraus, man sei von der Spaltung in Überbau und Unterbau, Kultur und leibhafte Wirklichkeit verschont geblieben. Aber das Ritual fällt, bei allem aristokratischen Gehabe, in die spätbürgerliche Gewohnheit, den Vollzug eines an sich Sinnlosen als Sinn zu hypostasieren, den Geist auf die Verdopplung dessen herunterzubringen, was ohnehin ist. Die Norm, die man befolgt, ist fiktiv, ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen so gut wie ihr Modell, das Hofzeremonial, sind geschwunden, und sie wird anerkannt nicht, weil sie als bindend erfahren wäre, sondern um die Ordnung zu legitimieren, von deren Illegitimität man den Vorteil hat. Proust hat denn auch mit der Unbestechlichkeit des Verführbaren beobachtet, daß Anglomanie und Kult formvoller Lebensführung weniger bei den Aristokraten sich findet als bei denen, die in die Höhe wollen: vom Snob zum Parvenu ist es nur ein Schritt. Daher die Verwandtschaft von Snobismus und Jugendstil, dem Versuch der durch den Tausch definierten Klasse, sich ins Bild einer vom Tausch reinen, gleichsam vegetabilischen Schönheit zu projizieren. Daß das sich selbst veranstaltende Leben nicht das Mehr als Leben sei, kommt zutage an der Langeweile der Cocktail Parties und der Weekend-Einladungen auf dem Lande, des für die ganze Sphäre symbolischen Golfs und der Organisation von Social Affairs – Privilegien, an denen keiner rechten Spaß hat und mit denen die Privilegierten nur noch sich darüber betrügen, wie sehr es im glücklosen Ganzen auch ihnen an der Möglichkeit von Freude mangelt. Im jüngsten Stadium reduziert sich das schöne Leben auf das, wofür Veblen es durch die Zeitalter hindurch ansehen wollte, die Ostentation, das bloße Dazugehören, und der Park bietet keinen anderen Genuß mehr als den der Mauer, an welcher die draußen die Nase sich plattdrücken. Die Oberschicht, deren Bosheiten ohnehin unaufhaltsam demokratisiert werden, läßt kraß erkennen, was längst für die Gesellschaft gilt: Leben ist zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden.


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Monogramme. – Odi profanum vulgus et arceo, sagte der Sohn des Freigelassenen.

Von sehr bösen Menschen kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, daß sie sterben.

Wir sagen und Ich meinen ist eine von den ausgesuchtesten Kränkungen.

Zwischen »es träumte mir« und »ich träumte« liegen die Weltalter. Aber was ist wahrer? So wenig die Geister den Traum senden, so wenig ist es das Ich, das träumt.

Vorm fünfundachtzigsten Geburtstag eines in allen Stücken wohlversorgten Mannes legte ich mir im Traum die Frage vor, was ich ihm schenken könne, um ihm wirklich eine Freude zu machen, und erteilte mir sogleich selber die Antwort: einen Führer durch das Totenreich.

Daß Leporello über schmale Kost und wenig Geld zu klagen hat, läßt an der Existenz Don Juans zweifeln.

Früh in der Kindheit sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, daß sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.

Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen.

Pariser Zirkusreklame vor dem Zweiten Krieg: Plus Sport que le théâtre, plus vivant que le cinéma.

Vielleicht könnte ein Film, der dem Code des Hays Office in allem streng Genüge tut, als großes Kunstwerk geraten, aber nicht in einer Welt, in der es ein Hays Office gibt.

Verlaine: die läßliche Todsünde.

Brideshead Revisited von Evelyn Waugh: sozialisierter Snobismus.

Zille klopft dem Elend auf den Popo.

Scheler: Le boudoir dans la philosophie.

In einem Gedicht Liliencrons wird die Militärmusik beschrieben. Erst heißt es: »Und um die Ecke brausend brichts, wie Tubaton des Weltgerichts«, und es schließt: »Zog da ein bunter Schmetterling / tsching- tsching bum, um die Ecke?« Poetische Geschichtsphilosophie der Gewalt, mit dem Weltgericht am Anfang und dem Falter am Ende.

In Trakls »Entlang« findet sich der Vers: »Sag wie lang wir gestorben sind«; in Däublers »Goldenen Sonetten«: »Wie wahr, daß wir schon alle lange starben.« Die Einheit des Expressionismus besteht im Ausdruck dessen, daß die einander ganz entfremdeten Menschen, in welche Leben sich zurückgezogen hat, damit eben zu Toten wurden.

Unter den Formen, die Borchardt ausprobte, fehlt es nicht an Umbildungen von volksliedhaften. Er scheut sich »Im Volkston« zu sagen, und nennt sie dafür: »Im Tone des Volkes«. Das aber klingt wie: »Im Namen des Gesetzes«. Der wiederherstellende Dichter schlägt in den preußischen Polizisten um.

Nicht die letzte der Aufgaben, vor welche Denken sich gestellt sieht, ist es, alle reaktionären Argumente gegen die abendländische Kultur in den Dienst der  fortschreitenden Aufklärung zu stellen.

Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.

Als das alte Weiblein Holz zum Scheiterhaufen beischleppte, rief Hus: Sancta simplicitas. Wie aber steht es um den Grund seines Opfers, das Abendmahl in beiderlei Gestalt? Jede Reflexion erscheint naiv vor der höheren, und nichts ist einfältig, weil alles einfältig wird auf der trostlosen Fluchtbahn des Vergessens.

Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Tugendspiegel. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2009

(vgl. GS 4, S. 210 ff.)]


  123

Der böse Kamerad. – Eigentlich müßte ich den Faschismus aus der Erinnerung meiner Kindheit ableiten können. Wie ein Eroberer in fernste Provinzen, hatte er dorthin seine Sendboten vorausgeschickt, längst ehe er einzog: meine Schulkameraden. Wenn die Bürgerklasse seit undenklichen Zeiten den Traum der wüsten Volksgemeinschaft, der Unterdrückung aller durch alle hegt, dann haben Kinder, die schon mit Vornamen Horst und Jürgen und mit Nachnamen Bergenroth, Bojunga und Eckhardt hießen, den Traum tragiert, ehe die Erwachsenen historisch reif dazu waren, ihn zu verwirklichen. Ich fühlte die Gewalt des Schreckbilds, dem sie zustrebten, so überdeutlich, daß alles Glück danach mir wie widerruflich und erborgt schien. Der Ausbruch des Dritten Reiches überraschte mein politisches Urteil zwar, doch nicht meine unbewußte Angstbereitschaft. So nah hatten alle Motive der permanenten Katastrophe mich gestreift, so unverlöschlich waren die Mahnmale des deutschen Erwachens mir eingebrannt, daß ich ein jegliches dann in Zügen der Hitlerdiktatur wiedererkannte: und oft kam es meinem törichten Entsetzen vor, als wäre der totale Staat eigens gegen mich erfunden worden, um mir doch noch das anzutun, wovon ich in meiner Kindheit, seiner Vorwelt, bis auf weiteres dispensiert geblieben war. Die fünf Patrioten, die über einen einzelnen Kameraden herfielen, ihn verprügelten und ihn, als er beim Lehrer sich beklagte, als Klassenverräter diffamierten – sind es nicht die gleichen, die Gefangene folterten, um die Ausländer Lügen zu strafen, die sagten, daß jene gefoltert würden? Deren Hallo kein Ende nahm, wenn der Primus versagte – haben sie nicht grinsend und verlegen den jüdischen Schutzhäftling umstanden und sich mokiert, wenn er allzu ungeschickt sich aufzuhängen versuchte? Die keinen richtigen Satz zustande brachten, aber jeden von mir zu lang fanden – schafften sie nicht die deutsche Literatur ab und ersetzten sie durch ihr Schrifttum? Manche bedeckten die Brust mit rätselhaften Abzeichen und wollten im Binnenland Marineoffiziere werden, als es längst keine Marine mehr gab: sie haben sich zu Sturmbann- und Standartenführern erklärt, Legitimisten der Illegitimität. Die verkniffen Intelligenten, die so wenig Erfolg in der Klasse hatten wie unterm Liberalismus der begabte Bastler ohne Konnexionen; die darum den Eltern zu Gefallen sich mit Laubsägearbeiten beschäftigten oder gar zur eigenen Freude an langen Nachmittagen verwickelte Reißbrettzeichnungen mit bunten Tinten auszogen, verhalfen dem Dritten Reich zur grausamen Tüchtigkeit und werden nochmals betrogen. Jene aber, die immerzu trotzig gegen die Lehrer aufmuckten und, wie man es wohl nannte, den Unterricht störten, vom Tag, ja der Stunde des Abiturs an jedoch mit den gleichen Lehrern am gleichen Tisch beim gleichen Bier zum Männerbund sich zusammensetzten, waren zur Gefolgschaft berufen, Rebellen, in deren ungeduldigem Faustschlag auf den Tisch die Anbetung der Herren schon dröhnte. Sie brauchten nur sitzenzubleiben, um die zu überholen, die ihre Klasse verlassen hatten, und an ihnen sich zu rächen. Seitdem sie, Amtswalter und Todeskandidaten, sichtbar aus dem Traum hervorgetreten sind und mich meines vergangenen Lebens und meiner Sprache enteignet haben, brauche ich nicht mehr von ihnen zu träumen. Im Faschismus ist der Alp der Kindheit zu sich selber gekommen.

1935

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Der böse Kamerad. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2025

(vgl. GS 4, S. 219 ff.)]


  148

Abdeckerei. – Die metaphysischen Kategorien sind nicht bloß die verdeckende Ideologie des gesellschaftlichen Systems, sondern drücken jeweils zugleich dessen Wesen aus, die Wahrheit über es, und in ihren Veränderungen schlagen die der zentralsten Erfahrungen sich nieder. So fällt der Tod in die Geschichte, und diese läßt umgekehrt an ihm sich begreifen. Seine Würde glich der des Individuums. Dessen ökonomisch entsprungene Autonomie vollendet sich in der Vorstellung seiner Absolutheit, sobald die theologische Hoffnung auf seine Unsterblichkeit, die empirisch es relativierte, verblaßt. Dem entsprach das emphatische Bild des Todes, der das Individuum, das Substrat allen bürgerlichen Verhaltens und Denkens, ganz auslöscht. Er war der absolute Preis des absoluten Wertes. Nun stürzt er mit dem gesellschaftlich aufgelösten Individuum. Wo er mit der alten Würde bekleidet wird, klappert er als die Lüge, die in seinem Begriff stets schon bereit stand: das Undurchdringliche zu nennen, über das Subjektlose zu prädizieren, das Herausfallende einzubauen. Im vorwaltenden Bewußtsein aber ist Wahrheit und Unwahrheit seiner Würde dahin, nicht kraft jenseitiger Hoffnung, sondern angesichts der hoffnungslosen Unkraft des Diesseitigen. »Le monde moderne«, notierte der radikale Katholik Charles Péguy 1907 schon, »a réussi à avilir ce qu’il y a peut-être de plus difficile à avilir au monde, parce que c’est quelque chose qui a en soi, comme dans sa texture, une sorte particulière de dignité, comme une incapacité singulière d’être avili: il avilit la mort.« (Men and Saints, New York 1944, S. 98) Wenn das Individuum, das der Tod vernichtet, nichtig, der Selbstbeherrschung und des eigenen Seins bar ist, dann wird nichtig auch die vernichtende Macht, wie im Witz auf die Heideggersche Formel vom nichtenden Nichts. Die radikale Ersetzbarkeit des Einzelnen macht praktisch, in vollkommener Verachtung seinen Tod zu dem Widerruflichen, als das er einst im Christentum mit paradoxem Pathos konzipiert war. Als quantité négligeable aber wird der Tod ganz eingegliedert. Die Gesellschaft hält für jeden Menschen, mit all seinen Funktionen, den wartenden Hintermann bereit, dem jener sowieso von Anbeginn als störender Inhaber der Arbeitsstelle, als Todesanwärter gilt. Danach wandelt sich die Erfahrung des Todes in die des Austauschs von Funktionären, und was vom Naturverhältnis des Todes ins gesellschaftliche nicht vollends eingeht, wird der Hygiene überlassen. Indem der Tod als nichts anderes mehr wahrgenommen ist denn als das Ausscheiden eines natürlichen Lebewesens aus dem Verband der Gesellschaft, hat dieser ihn schließlich domestiziert: Sterben bestätigt bloß noch die absolute Irrelevanz des natürlichen Lebewesens gegenüber dem gesellschaftlich Absoluten. Wenn irgend die Kulturindustrie Zeugnis ablegt von den Veränderungen in der organischen Zusammensetzung der Gesellschaft, dann durchs kaum verhüllte Eingeständnis dieser Sachverhalte. Unter ihrer Linse beginnt der Tod komisch zu werden. Wohl ist das Lachen, das ihn in einem gewissen Genre der Produktion grüßt, zweideutig. Es meldet noch die Angst an vor dem Amorphen unter dem Netz, mit welchem die Gesellschaft die ganze Natur übersponnen hat. Aber die Hülle ist schon so groß und dicht, daß das Gedächtnis ans Unbedeckte läppisch, sentimental dünkt. Seitdem der Detektivroman in den Büchern von Edgar Wallace verfiel, die ihre Leser durch mindere rationale Konstruktion, ungelöste Rätsel und rohe Übertreibung zu verspotten schienen und dabei doch die kollektive Imago des totalitären Schreckens so großartig vorwegnahmen, hat sich der Typus der Mordkomödie ausgebildet. Während sie weiter vorgibt, über die falschen Schauer sich lustig zu machen, demoliert sie die Bilder des Todes. Sie stellt die Leiche vor als das, wozu sie geworden ist, als Requisit. Noch gleicht sie dem Menschen und ist doch nur ein Ding, wie in dem Film »A slight case of murder«, wo Leichen unablässig hin- und hertransportiert werden, Allegorien dessen, was sie vorher schon waren. Komik kostet die falsche Abschaffung des Todes aus, die Kafka längst zuvor in der Geschichte vom Jäger Gracchus mit Panik beschrieb: um ihretwillen beginnt wohl auch Musik komisch zu werden. Was die Nationalsozialisten an Millionen von Menschen verübt haben, die Musterung Lebender als Toter, dann die Massenproduktion und Verbilligung des Todes, warf seinen Schatten voraus über jene, die von Leichen zum Lachen sich inspirieren lassen. Entscheidend ist die Aufnahme der biologischen Zerstörung in den bewußten gesellschaftlichen Willen. Nur eine Menschheit, der der Tod so gleichgültig geworden ist wie ihre Mitglieder: eine die sich selber starb, kann ihn administrativ über Ungezählte verhängen. Rilkes Gebet um den eigenen Tod ist der klägliche Betrug darüber, daß die Menschen nur noch krepieren.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Abdeckerei. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2112

(vgl. GS 4, S. 264 ff.)]


  151

Thesen gegen den Okkultismus. – I. Die Neigung zum Okkultismus ist ein Symptom der Rückbildung des Bewußtseins. Es hat die Kraft verloren, das Unbedingte zu denken und das Bedingte zu ertragen. Anstatt beides, nach Einheit und Differenz, in der Arbeit des Begriffs zu bestimmen, vermischt es beides unterschiedslos. Das Unbedingte wird zum Faktum, das Bedingte unmittelbar wesenhaft. Der Monotheismus zersetzt sich in zweite Mythologie. »Ich glaube an Astrologie, weil ich nicht an Gott glaube«, antwortete ein Befragter in einer amerikanischen sozialpsychologischen Untersuchung. Die rechtsprechende Vernunft, die zum Begriff des einen Gottes sich erhoben hatte, scheint in dessen Sturz hineingerissen. Geist dissoziiert sich in Geister und büßt darüber die Fähigkeit ein zu erkennen, daß es jene nicht gibt. Die verschleierte Unheilstendenz der Gesellschaft narrt ihre Opfer in falscher Offenbarung, im halluzinierten Phänomen. Umsonst hoffen sie, in dessen fragmentarischer Sinnfälligkeit dem totalen Verhängnis ins Auge zu blicken und standzuhalten. Panik bricht nach Jahrtausenden von Aufklärung wieder herein über eine Menschheit, deren Herrschaft über Natur als Herrschaft über Menschen an Grauen hinter sich läßt, was je Menschen von Natur zu fürchten hatten.

II. Die zweite Mythologie ist unwahrer als die erste. Diese war der Niederschlag des Erkenntnisstandes ihrer Epochen, deren jede das Bewußtsein vom blinden Naturzusammenhang um einiges freier zeigt als die vorhergehende. Jene, gestört und befangen, wirft die einmal gewonnene Erkenntnis von sich inmitten einer Gesellschaft, die durchs allumfassende Tauschverhältnis eben das Elementarische eskamotiert, dessen die Okkultisten mächtig zu sein behaupten. Der Blick des Schiffers zu den Dioskuren, die Beseelung von Baum und Quelle, in allem wahnhaften Benommensein vorm Unerklärten, waren historisch Erfahrungen des Subjekts von seinen Aktionsobjekten angemessen. Als rationell verwertete Reaktion gegen die rationalisierte Gesellschaft jedoch, in den Buden und Konsultationsräumen der Geisterseher aller Grade, verleugnet der wiedergeborene Animismus die Entfremdung, von der er selber zeugt und lebt, und surrogiert nichtvorhandene Erfahrung. Der Okkultist zieht aus dem Fetischcharakter der Ware die äußerste Konsequenz: die drohend vergegenständlichte Arbeit springt ihn mit ungezählten Dämonenfratzen aus den Gegenständen an. Was in der zum Produkt geronnenen Welt vergessen ward, ihr Produziertsein durch Menschen, wird abgespalten, verkehrt erinnert, als ein Ansichseiendes dem An sich der Objekte hinzugefügt und gleichgestellt. Weil diese unterm Strahl der Vernunft erkaltet sind, den Schein des Beseelten verloren haben, wird das Beseelende, ihre gesellschaftliche Qualität, als natürlich-übernatürliche verselbständigt, Ding unter Dingen.

III. Die Regression auf magisches Denken unterm Spätkapitalismus assimiliert es an spätkapitalistische Formen. Die zwielichtig-asozialen Randphänomene des Systems, die armseligen Veranstaltungen, durch seine Mauerritzen zu schielen, offenbaren zwar nichts von dem, was draußen wäre, um so mehr aber von den Kräften des Zerfalls im Innern. Jene kleinen Weisen, die vor der Kristallkugel ihre Klienten terrorisieren, sind Spielzeugmodelle der großen, die das Schicksal der Menschheit in Händen halten. So verfeindet und verschworen wie die Dunkelmänner des Psychic Research ist die Gesellschaft selber. Die Hypnose, welche die okkulten Dinge ausüben, ähnelt dem totalitären Schrecken: in den zeitgemäßen Prozessen geht beides ineinander über. Augurenlachen hat sich zum Hohngelächter der Gesellschaft über sich selber ausgewachsen; es weidet sich an der unmittelbaren materiellen Ausbeutung der Seelen. Das Horoskop entspricht den Direktiven der Büros an die Völker, und die Zahlenmystik bereitet auf die Verwaltungsstatistiken und Kartellpreise vor. Integration selber erweist sich am Ende als Ideologie für die Desintegration in Machtgruppen, die einander ausrotten. Wer hineingerät, ist verloren.

IV. Okkultismus ist eine Reflexbewegung auf die Subjektivierung allen Sinnes, das Komplement zur Verdinglichung. Wenn die objektive Realität den Lebendigen taub erscheint wie nie zuvor, so suchen sie ihr mit Abrakadabra Sinn zu entlocken. Wahllos wird er dem nächsten Schlechten zugemutet: die Vernünftigkeit des Wirklichen, mit der es nicht recht mehr stimmt, durch hüpfende Tische und die Strahlen von Erdhaufen ersetzt. Der Abhub der Erscheinungswelt wird fürs erkrankte Bewußtsein zum mundus intelligibilis. Beinahe wäre es die spekulative Wahrheit, so wie Kafkas Odradek fast ein Engel wäre, und ist doch in einer Positivität, welche das Medium des Gedankens ausläßt, nur das barbarisch Irre, die sich selber entäußerte und darum im Objekt sich verkennende Subjektivität. Je vollkommener die Schnödheit dessen, was als »Geist« ausgegeben wird – und in allem Beseelteren würde ja das aufgeklärte Subjekt sogleich sich wiederfinden –, um so mehr wird der dort aufgespürte Sinn, der an sich ganz fehlt, zur bewußtlosen, zwangshaften Projektion des wo nicht klinisch, so historisch zerfallenden Subjekts. Dem eigenen Zerfall möchte es die Welt gleichmachen: darum hat es mit Requisiten zu tun und bösen Wünschen. »Die dritte liest mir aus der Hand / Sie will mein Unglück lesen!« Im Okkultismus stöhnt der Geist unterm eigenen Bann wie ein Schlimmes Träumender, dessen Qual sich steigert mit dem Gefühl, daß er träumt, ohne daß er darüber erwachen könnte.

V. Die Gewalt des Okkultismus wie des Faschismus, mit dem jenen Denkschemata vom Schlag des antisemitischen verbinden, ist nicht nur die pathische. Sie liegt vielmehr darin, daß in den minderen Panazeen, Deckbildern gleichsam, das nach Wahrheit darbende Bewußtsein eine ihm dunkel gegenwärtige Erkenntnis meint greifen zu können, die der offizielle Fortschritt jeglicher Gestalt geflissentlich ihm vorenthält. Es ist die, daß die Gesellschaft, indem sie die Möglichkeit des spontanen Umschlags virtuell ausschließt, zur totalen Katastrophe gravitiert. Der reale Aberwitz wird abgebildet vom astrologischen, der den undurchsichtigen Zusammenhang entfremdeter Elemente – nichts fremder als die Sterne – als Wissen über das Subjekt vorbringt. Die Drohung, die aus den Konstellationen herausgelesen wird, gleicht der historischen, die in der Bewußtlosigkeit, dem Subjektlosen gerade sich weiterwälzt. Daß alle prospektive Opfer eines Ganzen sind, das bloß von ihnen selber gebildet wird, können sie ertragen nur, indem sie jenes Ganze weg von sich auf ein ihm Ähnliches, Äußerliches übertragen. In dem jämmerlichen Blödsinn, den sie betreiben, dem leeren Grauen, dürfen sie den ungefügen Jammer, die krasse Todesangst herauslassen und sie doch weiter verdrängen, wie sie es müssen, wenn sie weiter leben wollen. Der Bruch in der Lebenslinie, der einen lauernden Krebs indiziert, ist Schwindel nur an der Stelle, wo er behauptet wird, in der Hand des Individuums; wo sie keine Diagnose stellen, beim Kollektiv, wäre sie richtig. Mit Recht fühlen die Okkulten von kindisch monströsen naturwissenschaftlichen Phantasien sich angezogen. Die Konfusion, die sie zwischen ihren Emanationen und den Isotopen des Urans anstiften, ist die letzte Klarheit. Die mystischen Strahlen sind bescheidene Vorwegnahmen der technischen. Der Aberglaube ist Erkenntnis, weil er die Chiffren der Destruktion zusammen sieht, welche auf der gesellschaftlichen Oberfläche zerstreut sind; er ist töricht, weil er in all seinem Todestrieb noch an Illusionen festhält: von der transfigurierten, in den Himmel versetzten Gestalt der Gesellschaft die Antwort sich verspricht, die nur gegen die reale erteilt werden könnte.

VI. Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle. Die Subalternität der Medien ist so wenig zufällig wie das Apokryphe, Läppische des Geoffenbarten. Seit den frühen Tagen des Spiritismus hat das Jenseits nichts Erheblicheres kundgetan als Grüße der verstorbenen Großmutter nebst der Prophezeiung, eine Reise stünde bevor. Die Ausrede, es könne die Geisterwelt der armen Menschenvernunft nicht mehr kommunizieren, als diese aufzunehmen imstande sei, ist ebenso albern, Hilfshypothese des paranoischen Systems: weiter als die Reise zur Großmutter hat es das lumen naturale doch gebracht, und wenn die Geister davon keine Notiz nehmen wollen, dann sind sie unmanierliche Kobolde, mit denen man besser den Verkehr abbricht. Im stumpf natürlichen Inhalt der übernatürlichen Botschaft verrät sich ihre Unwahrheit. Während sie drüben nach dem Verlorenen jagen, stoßen sie dort nur aufs eigene Nichts. Um nicht aus der grauen Alltäglichkeit herauszufallen, in der sie als unverbesserliche Realisten zu Hause sind, wird der Sinn, an dem sie sich laben, dem Sinnlosen angeglichen, vor dem sie fliehen. Der faule Zauber ist nicht anders als die faule Existenz, die er bestrahlt. Dadurch macht er es den Nüchternen so bequem. Fakten, die sich von anderem, was der Fall ist, nur dadurch unterscheiden, daß sie es nicht sind, werden als vierte Dimension bemüht. Einzig ihr Nichtsein ist ihre qualitas occulta. Sie liefern dem Schwachsinn die Weltanschauung. Schlagartig, drastisch erteilen die Astrologen und Spiritisten jeder Frage eine Antwort, die sie nicht sowohl löst, als durch krude Setzungen jeder möglichen Lösung entzieht. Ihr sublimes Bereich, vorgestellt als Analogon zum Raum, braucht so wenig gedacht zu werden wie Stühle und Blumenvasen. Damit verstärkt es den Konformismus. Nichts gefällt dem Bestehenden besser, als daß Bestehen als solches Sinn sein soll.

VII. Die großen Religionen haben entweder, wie die jüdische, die Rettung der Toten nach dem Bilderverbot mit Schweigen bedacht, oder die Auferstehung des Fleisches gelehrt. Sie haben ihren Ernst an der Untrennbarkeit des Geistigen und Leiblichen. Keine Intention, nichts »Geistiges«, das nicht in leibhafter Wahrnehmung irgend gründete und wiederum nach leibhafter Erfüllung verlangte. Den Okkulten, die sich für den Gedanken der Auferstehung zu gut sind und die eigentlich Rettung gar nicht wollen, ist das zu grob. Ihre Metaphysik, die selbst Huxley von Metaphysik nicht mehr unterscheiden kann, ruht auf dem Axiom: »Die Seele schwinget sich wohl in die Höh’ juchhe, / der Leib, der bleibet auf dem Kanapee.« Je munterer die Spiritualität, desto mechanistischer: nicht einmal Descartes hat so sauber geschieden. Arbeitsteilung und Verdinglichung werden auf die Spitze getrieben: Leib und Seele in gleichsam perennierender Vivisektion auseinandergeschnitten. Reinlich soll die Seele aus dem Staub sich machen, um in lichteren Regionen ihre eifrige Tätigkeit stracks an der gleichen Stelle fortzusetzen, an der sie unterbrochen ward. In solcher Unabhängigkeitserklärung aber wird die Seele zur billigen Imitation dessen, wovon sie falsch sich emanzipierte. Anstelle der Wechselwirkung, wie sie noch die starreste Philosophie behauptete, richtet der Astralleib sich ein, die schmähliche Konzession des hypostasierten Geistes an seinen Widerpart. Nur im Gleichnis des Leibes ist der Begriff des reinen Geistes überhaupt zu fassen, und es hebt ihn zugleich auf. Mit der Verdinglichung der Geister sind diese schon negiert.

VIII. Das zetert über Materialismus. Aber den Astralleib wollen sie wiegen. Die Objekte ihres Interesses sollen zugleich die Möglichkeit von Erfahrung übersteigen und erfahren werden. Es soll streng wissenschaftlich zugehen; je größer der Humbug, desto sorgfältiger die Versuchsanordnung. Die Wichtigtuerei wissenschaftlicher Kontrolle wird ad absurdum geführt, wo es nichts zu kontrollieren gibt. Die gleiche rationalistische und empiristische Apparatur, die den Geistern den Garaus gemacht hat, wird angedreht, um sie denen wieder aufzudrängen, die der eigenen ratio nicht mehr trauen. Als ob nicht jeder Elementargeist Reißaus nehmen müßte vor den Fallen der Naturbeherrschung, die seinem flüchtigen Wesen gestellt werden. Aber selbst das noch machen die Okkulten sich zunutze. Weil die Geister die Kontrolle nicht mögen, muß ihnen, mitten unter den Sicherheitsvorkehrungen, ein Türchen offengehalten werden, durch das sie ungestört ihren Auftritt machen können. Denn die Okkulten sind praktische Leute. Sie treibt nicht eitle Neugier, sie suchen Tips. Fix geht es von den Sternen zum Termingeschäft. Meist läuft der Bescheid darauf hinaus, daß mit irgendwelchen armen Bekannten, die sich etwas erhoffen, Unglück ins Haus steht.

IX. Die Kardinalsünde des Okkultismus ist die Kontamination von Geist und Dasein, das selber zum Attribut des Geistes wird. Dieser ist im Dasein entsprungen, als Organ, sich am Leben zu erhalten. Indem jedoch Dasein im Geist sich reflektiert, wird er zugleich ein anderes. Das Daseiende negiert sich als Eingedenken seiner selbst. Solche Negation ist das Element des Geistes. Ihm selber wiederum positive Existenz, wäre es auch höherer Ordnung, zuzuschreiben, lieferte ihn an das aus, wogegen er steht. Die spätere bürgerliche Ideologie hatte ihn nochmals zu dem gemacht, was er dem Präanimismus war, einem Ansichseienden, nach dem Maße der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, des Bruches zwischen physischer und geistiger Arbeit, der planenden Herrschaft über jene. Im Begriff des ansichseienden Geistes rechtfertigte das Bewußtsein das Privileg ontologisch und verewigte es, indem es ihn gegenüber dem gesellschaftlichen Prinzip verselbständigte, das ihn konstituiert. Solche Ideologie explodiert im Okkultismus: er ist gleichsam der zu sich selbst gekommene Idealismus. Gerade kraft der starren Antithese von Sein und Geist wird dieser zu einem Seins-Ressort. Hatte der Idealismus einzig für das Ganze, die Idee gefordert, daß das Sein Geist sei und dieser existiere, so zieht der Okkultismus die absurde Konsequenz daraus, daß Dasein bestimmtes Sein heißt: »Daseyn ist, nach seinem Werden, überhaupt Seyn mit einem Nichtseyn, so daß dieß Nichtseyn in einfache Einheit mit dem Seyn aufgenommen ist. Das Nichtseyn so in das Seyn aufgenommen, daß das konkrete Ganze in der Form des Seyns, der Unmittelbarkeit ist, macht die Bestimmtheit als solche aus.« (Hegel, Wissenschaft der Logik I, ed. Glockner, Stuttgart 1928, S. 123) Die Okkulten nehmen buchstäblich das Nichtsein in »einfache Einheit mit dem Sein«, und ihre Art Konkretheit ist eine schwindelnde Abkürzung des Weges vom Ganzen zum Bestimmten, die darauf sich berufen kann, daß als einmal Bestimmtes das Ganze schon keines mehr ist. Sie rufen der Metaphysik Hic Rhodus hic salta zu: wenn die philosophische Investition von Geist mit Dasein sich bestimmen soll, so müßte schließlich, spüren sie, beliebiges, versprengtes Dasein als besonderer Geist sich rechtfertigen. Die Lehre von der Existenz des Geistes, äußerste Erhebung des bürgerlichen Bewußtseins, trüge danach teleologisch schon den Geisterglauben, äußerste Erniedrigung, in sich. Der Übergang zum Dasein, stets »positiv« und Rechtfertigung der Welt, impliziert zugleich die These von der Positivität des Geistes, seine Dingfestmachung, die Transposition des Absoluten in die Erscheinung. Ob die ganze dinghafte Welt, als »Produkt«, Geist sein soll oder irgendein Ding irgendein Geist, wird gleichgültig und der Weltgeist zum obersten Spirit, zum Schutzengel des Bestehenden, Entgeisteten. Davon leben die Okkulten: ihre Mystik ist das enfant terrible des mystischen Moments in Hegel. Sie treiben die Spekulation zum betrügerischen Bankrott. Indem sie bestimmtes Sein als Geist ausgeben, unterwerfen sie den vergegenständlichten Geist der Daseinsprobe, und sie muß negativ ausfallen. Kein Geist ist da.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Thesen gegen den Okkultismus. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2127

(vgl. GS 4, S. 273 ff.)]


  153

Zum Ende. – Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Zum Ende. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2145

(vgl. GS 4, S. 283 ff.)]


  I

Key people. – Der Typus des Wichtigmachers, der nur dann etwas zu sein glaubt, wenn er bestätigt wird von der Rolle, die er in Kollektiven spielt, die keine sind, da sie ja bloß um der eigenen Kollektivität willen existieren; der Deputierte mit der Armbinde, der ergriffene Festredner, der den Schlußteil seiner mit gesundem Humor gewürzten Rede durch ein »Möge« einleitet, die Wohltätigkeitshyäne und der Professor, der von einem Kongreß zum anderen eilt – sie alle reizten ehemals als naiv, provinziell und kleinbürgerlich zum Lachen. Unterdessen ward die Ähnlichkeit mit den Fliegenden Blättern abgestreift; das Prinzip aber hat tierisch ernst von den Karikaturen über die ganze Bürgerklasse sich ausgebreitet. Nicht genug, daß deren Mitglieder im Beruf durch Konkurrenz und Kooption der unablässigen gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, wird auch ihr Privatleben absorbiert von den dinghaften Gebilden, zu denen die zwischenmenschlichen Beziehungen geronnen sind. Das hat vorab grob materielle Gründe: nur wer sein Einverständnis durch lobenswerten Dienst an der Gemeinschaft, wie sie ist, durch Eintritt in eine anerkannte Gruppe, und wären es die zu Kegelbrüdern degenerierten Freimaurer, kundgibt, empfängt das Vertrauen, das sich im Fang von Kunden und Klienten und in der Besetzung von Pfründen auszahlt. Der substantial citizen qualifiziert sich nicht allein durch Bankguthaben, ja nicht einmal durch den Tribut an seine Organisationen, er muß sein Herzblut spenden und die freien Stunden, die ihm vom Raubgeschäft übrigbleiben, als Vorsitzender oder Schatzmeister der Komitees zubringen, in die es ihn halb zog, während er halb hinsank. Keine Hoffnung ist ihm gelassen als der obligate Nachruf im Vereinsblättchen, wenn ihn sein Herzschlag ereilt. Wer nirgends Mitglied ist, macht sich verdächtig: bei der Naturalisation wird ausdrücklich verlangt, daß man seine Vereine aufführe. Das aber, rationalisiert als Bereitschaft des Individuums, seines Egoismus sich zu entschlagen und dem Ganzen sich zu weihen, das doch nichts ist als die universale Vergegenständlichung des Egoismus, wird von den Verhaltensweisen der Menschen zurückgespiegelt. Ohnmächtig in der überwältigenden Sozietät, erfährt der Einzelne sich selber nur noch als gesellschaftlich vermittelt. Die von Menschen gemachten Institutionen werden so zusätzlich fetischisiert: indem die Subjekte sich einzig als Exponenten der Institutionen wissen, nahmen diese den Charakter des Gottgewollten an. Man fühlt sich bis ins Mark als Arztfrau, als Mitglied einer Fakultät, als chairman of the committee of religious experts – ich habe davon einmal einen Schurken öffentlich reden hören, und keiner hat gelacht –, so wie man vorzeiten als Teil einer Familie oder eines Stammes sich mag gefühlt haben. Man wird im Bewußtsein nochmals, was man im Sein ohnehin ist. Gegenüber der Illusion der an sich seienden und unabhängigen Persönlichkeit inmitten der Warengesellschaft ist solches Bewußtsein die Wahrheit. Sie sind wirklich nur noch Arztfrau, Fakultätsmitglied und religiöser Experte. Aber die negative Wahrheit wird zur Lüge als Positivität. Je weniger funktionellen Sinn mehr die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat, um so sturer klammern die Subjekte sich an das, wozu die gesellschaftliche Fatalität sie bestimmt hat. Entfremdung wird zur Nähe, Entmenschlichung zur Humanität, die Auslöschung des Subjekts zu seiner Bestätigung. Die Sozialisierung der Menschen heute verewigt ihre Asozialität, während doch auch der Asoziale nicht sich schmeicheln darf, er wäre ein Mensch.

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Key people. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2148

(vgl. GS 4, S. 287 ff.)]


  II

Der Paragraph. – Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch mußte ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als daß ihre Namen erinnert werden könnten, noch den Fluch des Nicht gedacht soll ihrer werden antun. So hat man im Englischen den Begriff genocide geprägt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt.


 III

Die sie meinen. – Die Menschen haben den Begriff der Freiheit so manipuliert, daß er schließlich auf das Recht des Stärkeren und Reicheren herausläuft, dem Schwächeren und Ärmeren das wenige abzunehmen, was er noch hat. Der Versuch, daran etwas zu ändern, gilt als schmählicher Eingriff ins Bereich eben der Individualität, die aus der Konsequenz jener Freiheit in ein verwaltetes Nichts zergangen ist. Aber der objektive Geist der Sprache weiß es besser. Das Deutsche und Englische behält das Wort frei Dingen und Leistungen vor, die nichts kosten. Unabhängig von der Kritik der politischen Ökonomie wird damit Zeugnis abgelegt von der Unfreiheit, die im Tauschverhältnis selber gesetzt ist; es gibt keine Freiheit, solange ein jedes Ding seinen Preis hat, und in der verdinglichten Gesellschaft existieren als kümmerliche Rudimente der Freiheit nur Dinge, die vom Preismechanismus ausgenommen sind. Sieht man dann genauer hin, so findet sich freilich meist, daß auch sie ihren Preis haben und Zugaben sind zu den Waren oder wenigstens zur Herrschaft: die Parks machen denen die Gefängnisse erträglich, die nicht drin sind. Für Menschen von freiem, ungezwungenem, souveränem und legerem Wesen jedoch, für jene, die die Freiheit als Privileg von der Unfreiheit beziehen, hat die Sprache einen guten Namen bereit: den des Unverschämten.


 IV

Les Adieux. – »Auf Wiedersehen« ward seit Jahrhunderten in den Sprachen zur Floskel. Dem sind nun die Beziehungen selber nachgekommen. Der Abschied ist veraltet. Zwei, die zueinander gehören, mögen sich trennen, weil der eine den Wohnort wechselt; man ist ohnehin längst nicht mehr in einer Stadt zuhause, sondern ordnet als äußerste Konsequenz der Freizügigkeit sein ganzes Leben auch räumlich den je günstigsten Bedingungen des Arbeitsmarktes unter. Dann ist es aus, oder man trifft sich; dauernd entfernt sein und Liebe festhalten ist undenkbar geworden. »O Abschied, Brunnen aller Worte«, aber er ist versiegt, und nichts mehr kommt heraus als bye, bye oder ta, ta. Luftpost und Eilbote ersetzen die sehnliche Erwartung des Briefs durch Probleme der technischen Einteilung, wofern nicht der abwesende Partner die Erinnerung an alles, was nicht zum Greifen da ist, als Ballast von sich schleudert. Wieviel Ungewißheit und Leid den Menschen dadurch erspart wird, darüber können Flugzeugdirektoren Jubiläumsreden halten. Aber die Liquidation des Abschieds geht dem überlieferten Begriff der Humanität ans Leben. Wer vermöchte noch zu lieben, wem der Augenblick sich versperrt, da der Mensch den anderen, leibhaften als Bild wahrnimmt, die ganze Kontinuität des Daseins wie in einer schweren Frucht zusammendrängend? Was wäre Hoffnung ohne Ferne? Humanität war das Bewußtsein von der Gegenwart des Nichtgegenwärtigen, und das verflüchtigt sich in einem Zustand, der allem Nichtgegenwärtigen zum handfesten Schein von Gegenwart und Unmittelbarkeit verhilft und darum bloß Hohn hat für das, was an solchem Schein nicht sein Genügen findet. Angesichts der pragmatischen Unmöglichkeit des Abschieds jedoch auf seiner inneren Möglichkeit zu beharren, wäre die Lüge, denn das Inwendige entfaltet sich nicht in sich selber, sondern einzig in der Beziehung auf die Objektivität, und »Verinnerlichung« eines verfallenen Auswendigen tut dem Innerlichen selber Gewalt an, indem es gleichsam von der eigenen Flamme zehren muß. Die Restauration von Gesten verführe nach dem Rezept jenes germanistischen Professors, der seine schlafenden Kinder am Abend vor Weihnachten einen Augenblick zum leuchtenden Baum brachte, um ein déjà vu zu erzielen und sie mit Mythos zu sättigen. Eine mündige Menschheit wird über ihren eigenen Begriff, den emphatischen des Menschen, positiv hinausgehen müssen. Sonst hat die absolute Negation, der Unmensch seinen Sieg dahin.


 V

Ehrensache. – Den Frauen gegenüber haben die Männer sich selbst die Pflicht der Diskretion auferlegt, eines der Mittel, wodurch die Roheit der Gewalt als gemildert, die Verfügung als wechselseitiges Zugeständnis erscheinen soll. Weil sie die Promiskuität in Acht und Bann getan haben, um der Frau als Besitz sich zu versichern, während sie doch der Promiskuität bedürfen, um nicht den eigenen Verzicht ins Unerträgliche zu steigern, haben sie den Frauen ihrer Klasse, die ohne Ehe sich gewähren, das unausdrückliche Versprechen gegeben, mit keinem anderen Mann darüber zu sprechen und das patriarchal diktierte weibliche Ansehen nicht herabzusetzen. Diskretion ist dann die Glücksquelle aller Heimlichkeit geworden, allen listigen Triumphs über die Mächte, ja selbst des Vertrauens, an dem Vornehmheit und Integrität sich bilden. Der Brief, den Hölderlin an die Mutter nach der tödlichen Frankfurter Katastrophe richtete, ohne daß der Ausdruck der endgültigen Verzweiflung ihn hätte bewegen können, den Grund zum Bruche mit Herrn Gontard anzudeuten oder auch nur Diotimas Namen zu nennen, während die Gewalt der Leidenschaft übergeht in die trauernden Worte über den Verlust des Zöglings, der das Kind der Geliebten war – jener Brief steigert die Kraft des gesitteten Schweigens zur heißen Rührung und macht es selber zum Ausdruck für die Unerträglichkeit des Konflikts von Menschenrecht und dem Recht dessen was ist. Aber wie inmitten der allgemeinen Unfreiheit jeder einzelne ihr abgedungene Zug von Humanität zweideutig wird, so ergeht es selbst der männlichen Diskretion, die vorgeblich nichts ist als edel. Sie verwandelt sich in ein Instrument der weiblichen Rache für die Unterdrückung. Daß die Männer untereinander schweigen müssen, ja daß, je rücksichtsvoller und besser erzogen die Menschen sind, alles Erotische zumindest ein Air von Geheimnis annimmt, verschafft den Frauen Möglichkeiten von der bequemen Lüge bis zum schlauen und ungestörten Betrug und verurteilt den Gentleman zur Rolle des Trottels. Die Frauen der Oberschicht haben eine ganze Technik der Isolierung, des Auseinanderhaltens der Männer, schließlich der willkürlichen Trennung aller Bereiche von Gefühl, Verhalten, Bewertung sich erworben, in der die männliche Arbeitsteilung grotesk wiederholt wird. Das erlaubt es ihnen, die schwierigsten Situationen in Sicherheit zu manipulieren – auf Kosten eben der Unmittelbarkeit, auf welche die Frauen so viel sich zu gute tun. Die Männer jedoch haben daraus die Konsequenz gezogen und kommen mit dem hämischen sousentendu zusammen, die Frauen seien nun einmal so. Das augenzwinkernde Così fan tutte vergißt an alle Diskretion, auch wenn kein Name fällt, und hat dabei auch noch das Recht der Erfahrung auf seiner Seite, daß unweigerlich jede Frau, die ihr Vertrauen in die Ritterlichkeit des Geliebten geltend macht, selber das Vertrauen brach, das er in sie setzte. Der Dame, die eine ist und nicht Vornehmheit zum Kinderspott des bloßen Gehabes machen will, bleibt darum keine Wahl, als von sich aus das verkommene Prinzip der Diskretion aufzukündigen und ohne Vorsicht, offen, schamlos ihre Liebe auf sich zu nehmen. Welche aber ist stark genug dazu?


 VI

Post festum. – Das Leiden am Verfall erotischer Beziehungen ist nicht bloß, wofür es selber sich hält, Angst vorm Entzug der Liebe und auch nicht nur jene Art der narzißtischen Melancholie, deren eindringliche Beschreibung Freud gegeben hat. Mitspielt die Angst vor der Vergänglichkeit des eigenen Gefühls. So wenig Raum ist den unmittelbaren Regungen gelassen, daß, wem sie überhaupt noch vergönnt sind, sie als Glück und Kostbarkeit empfindet, selbst wenn sie weh tun, ja gerade die letzten schmerzhaften Spuren der Unmittelbarkeit als Besitz erfährt, den er zäh verteidigt, um nicht selber zur Sache zu werden. Man fürchtet wohl gar mehr, die Liebe zum andern als dessen Liebe zu verlieren. Der Gedanke, der einem als Trost angeboten wird: man verstehe in ein paar Jahren die eigene Leidenschaft schon nicht mehr, könne dann etwa der Geliebten in einer Gesellschaft begegnen, ohne ihr mehr als flüchtige und erstaunte Neugier zu widmen, ist dazu angetan, den Getrösteten über die Maßen aufzureizen. Daß die Passion, die den Zusammenhang der rationalen Zweckmäßigkeit durchschlägt und gleichsam dem Ich hilft, aus seiner monadologischen Gefangenschaft auszubrechen, selber ein Relatives sein soll, das der schmachvollen Vernunft des in dividuellen Lebens sich einfügt, ist die äußerste Blasphemie. Und doch ist der Passion selber es unausweichlich, in der Erfahrung der unabdingbaren Grenze zwischen zwei Menschen auf eben jenes Moment zu reflektieren und damit im gleichen Augenblick, da man von ihr überwältigt wird, die Nichtigkeit der Überwältigung einzusehen. Eigentlich hat man stets die Vergeblichkeit gespürt; glücklich war man in der widersinnigen Hoffnung des Fortreißens, und jedes Mal, wenn es mißlang, ist es das letzte Mal, der Tod. Die Vergänglichkeit dessen, worin Leben aufs äußerste sich konzentriert, schlägt gerade in solcher höchsten Konzentration durch. Zu allem anderen muß der unglücklich Liebende auch noch zugestehen, daß er gerade dort, wo er sich ganz zu vergessen meinte, nur sich selber liebte. Nichts Unmittelbares führt hinaus über den schuldhaften Kreis des Natürlichen, sondern einzig bloß die Reflexion auf dessen Geschlossenheit.


 VII

Treten Sie näher. – Der Bruch von außen und innen, als welchen das einzelne Subjekt die Herrschaft des Tauschwerts zu spüren bekommt, affiziert auch den vermeintlichen Bezirk der Unmittelbarkeit, selbst solche Beziehungen, die keine materiellen Interessen einschließen. Sie haben je eine doppelte Geschichte. Daß sie, als ein Drittes zwischen zwei Menschen, der bloßen Inwendigkeit sich entäußern, in Formen, Gewohnheiten, Verpflichtungen sich objektivieren, verleiht ihnen die Resistenzkraft. Es gehört zu ihrem Ernst und ihrer Verantwortlichkeit, nicht jeder Regung nachzugeben, sondern der Psychologie der Individuen gegenüber als Festes und Beständiges sich zu behaupten. Das schafft aber nicht aus der Welt, was in jedem einzelnen sich zuträgt: nicht nur Stimmungen, Neigungen und Abneigungen, sondern vor allem auch Reaktionen auf die Verhaltensweisen des anderen. Und die innere Geschichte macht um so nachdrücklicher sich geltend, je weniger innen und außen mit der Sonde sich scheiden lassen. Die Gefahr des geheimen Verfalls von Beziehungen hat stets fast zum Grunde, daß die Beteiligten vorgeblich oder wirklich es »zu schwer« haben. Sie sind zu schwach gegenüber der Realität, die sie allemal überfordert, um die liebende Anstrengung aufzubringen, die Beziehung rein um ihrer selbst willen durchzuhalten. Jede menschenwürdige gewinnt im Reich der Zweckmäßigkeit einen Aspekt von Luxus. Eigentlich kann man es sich nicht leisten, und die Rancune darüber bricht in kritischen Situationen durch. Weil man weiß, daß es in Wahrheit der unablässigen Aktualität bedürfte, ist es, wenn man nur für eine Sekunde nachläßt, als zerbröckelte alles. Das bleibt fühlbar, auch wenn die objektivierte Form der Beziehung es nicht durchkommen läßt. Der unausweichliche Doppelcharakter von außen und innen beunruhigt gerade authentische, affektiv sehr besetzte Beziehungen. Ist das Subjekt tief involviert, während der entäußerte Aspekt der Beziehung, mit gutem Recht, ihm verwehrt, dem Impuls nachzuleben, so wird die Beziehung zum permanenten Leiden und damit gefährdet. Die absurde Bedeutung von Kleinigkeiten wie einem versäumten Telefonanruf, einem geizigen Händedruck, einer allzu konventionellen Redewendung rührt davon her, daß in ihnen die fast stets sonst gezügelte innere Dynamik manifest wird und die Objektivität und Gegenständlichkeit der Beziehung bedroht. Psychologen mögen leicht die Angst und den Schrecken solcher Momente als neurotisch verdammen und auf ihr Mißverhältnis zum objektiven Gewicht der Beziehung hinweisen. Wer derart sich verstören läßt, ist in der Tat »unrealistisch« und beweist durch die Abhängigkeit vom Ausschlag der eigenen Subjektivität, daß ihm die Anpassung mißlang. Aber nur wo einer auf die Inflexion der anderen Stimme mit Verzweiflung antwortet, ist die Beziehung so spontan, wie sie unter Freien es sein sollte, während sie doch zugleich eben darum qualvoll wird und obendrein durch die Treue zur Idee der Unmittelbarkeit, den ohnmächtigen Protest gegen die Kälte den Schein des Narzißmus erweckt. Neurotisch ist die Reaktionsform, die den eigentlichen Sachverhalt trifft, während die realitätsgerechte die Beziehung bereits als tote einkalkuliert. Die Reinigung des Menschen vom trüben und ohnmächtigen Affekt steht in geradem Verhältnis zum Fortschritt der Entmenschlichung.


 VIII

Schwundgeld. – Kandinsky schrieb 1912: »Der Künstler meint, daß er, nachdem er ›endlich seine Form gefunden hat‹, jetzt ruhig weiter Kunstwerke schaffen kann. Leider merkt er gewöhnlich selbst nicht, daß von diesem Moment (des ›ruhig‹) er sehr bald diese endlich gefundene Form zu verlieren beginnt.« Nicht anders ist es um die Erkenntnis bestellt. Sie schöpft aus keinem Vorrat. Jeder Gedanke ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des Urteils dessen Vollzug nicht sich abtrennen läßt, so sind wahr überhaupt nur Gedanken, die über die eigene These hinausdrängen. Da sie petrifizierte Ansichten von den Gegenständen, den geistigen Niederschlag gesellschaftlicher Verhärtung, zu verflüssigen haben, so widerstreitet die Form der Verdinglichung, die darin schon liegt, daß man einen Gedanken zum festen Besitz macht, dessen eigenem Sinn. Noch Meinungen von äußerstem Radikalismus werden verfälscht, sobald man nur darauf pocht, und die Gesellschaft bestätigt das eilfertig, indem sie die Doktrin diskutiert und damit aufsaugt. Das aber wirft seinen Schatten über den Begriff der Theorie. Da ist keine, die nicht vermöge ihrer Konstitution als eines festen Strukturzusammenhangs ein Moment von Verdinglichung an sich trüge: paranoische Züge ausbildete. Diese gerade verschaffen ihr die Wirksamkeit. Der Begriff der fixen Idee trifft nicht die bloße Aberration, sondern ein Ingredienz von Theorie selber, den totalen Anspruch eines Partikularen, der aufsteigt, sobald ein einzelnes Moment isoliert festgehalten wird. Dem können Gedanken, die zum Gegenteil verhalten sind, nicht sich entziehen. Noch Theorien der höchsten Dignität bieten zumindest der dinghaften Auffassung sich dar. Es ist, als gehorchten sie darin insgeheim einem Gebot der Warengesellschaft. Meist bezieht sich, wie beim Verfolgungswahn, die fixe Idee auf die Zuteilung von Schuld. Das Wahnsystem vermag das Wahnsystem, den Schleier der gesellschaftlichen Totalität, nicht zu durchschauen. Darum wird auf ein ausgesondertes Prinzip losgeschlagen, bei Rousseau die Zivilisation, bei Freud den Ödipuskomplex, bei Nietzsche das Ressentiment der Schwachen. Ist die Theorie anders geartet, so kann immer noch die Rezeption sie paranoisieren. Sagt man von einem im prägnanten Sinn, er habe diese oder jene Theorie, so impliziert das allemal schon die stur vor sich hinstarrende, abschließende, von Selbstreflexion ausgenommene Erklärung der Übel. Denker, denen das paranoide Element ganz abgeht – einer von ihnen war Georg Simmel, der allerdings aus dem Mangel wiederum eine Panazee machte – bleiben wirkungslos oder werden schnell vergessen. Und daraus folgt keineswegs ihre Überlegenheit. Definierte man die Wahrheit als das schlechthin Nichtparanoische, so wäre sie zugleich nicht nur das schlechthin Ohnmächtige und in Konflikt mit sich selber, insofern die Praxis eines ihrer Elemente abgibt. Sondern sie brächte es überhaupt nicht zur Ausbildung eines konsistenten Sinnzusammenhanges: die Flucht vor der fixen Idee wird zur Gedankenflucht. Das von der Obsession gereinigte Denken, der konsequente Empirismus wird selber obsessiv und opfert zugleich die Idee der Wahrheit, die denn auch bei den Empiristen schlecht genug fährt. Auch unter diesem Aspekt wäre die Dialektik als Versuch zu betrachten, dem Entweder-Oder zu entgehen. Sie ist die Anstrengung, Bestimmtheit und Konsequenz der Theorie zu erretten, ohne sie dem Wahn zu überantworten.


 IX

Prokrustes. – Die Abdrosselung des Denkens bedient sich einer fast unausweichlichen Alternative. Was empirisch, mit allen Kontrollmaßnahmen, die von den Konkurrenten gefordert werden, ganz sicher gestellt ist, läßt stets selbst von der bescheidensten Vernunft sich vorwegnehmen. Die Fragestellungen sind von der Mahlmaschine so reduziert, daß grundsätzlich kaum mehr herauskommen kann, als daß der Prozentsatz der Tuberkulosekranken in einem slum-Distrikt höher sei als in Park Avenue. Daraus zieht dann die hämische Sabotage der Empiristen ihre Vorteile, indem die Budgetmacher noch der von ihnen selbst verwalteten Empirie in den Arm fallen und ihr gegenüber die herunterhängenden Mundwinkel des »Weiß ich schon« zur Schau stellen. Was aber anders wäre, der Beitrag, nach dem vorgeblich die Wissenschaftler lechzen, verfällt nicht weniger ihrer Geringschätzung, eben weil es noch nicht allbekannt ist: »Where is the evidence?« Fehlt diese, so handle es sich um eitle und müßige Gedankenspinnerei, während Forschung sich tummeln soll wie Reportage. Die fatale Alternative bewirkt mißlaunischen Defaitismus. Man macht Wissenschaft, solange noch etwas dafür bezahlt wird. Vertrauen aber hat man weder in die Relevanz noch in die Verbindlichkeit der Befunde. Auf den ganzen Plunder würde man verzichten, wenn Änderungen der gesellschaftlichen Organisationsform etwa die Ermittlung des statistischen Durchschnitts überflüssig machten, in dessen Bewunderung die formale Demokratie als bloßer Aberglaube der Forschungsbüros sich spiegelt. Die Verfahrungsweise der offiziellen Sozialwissenschaften ist kaum etwas anderes mehr als eine Parodie der Geschäftsbetriebe, welche solche Wissenschaft aushalten, ohne ihrer eigentlich noch zu anderem zu bedürfen als zur Reklame. Die ganze Apparatur von Buchführung, Verwaltung, von Jahresberichten und Bilanzen, von wichtigen Sitzungen und Geschäftsreisen wird in Bewegung gesetzt, um kommerziellen Interessen den Anstrich tiefgründig eruierter allgemeiner Notwendigkeit zu verleihen. Die Eigenbewegung solcher Büroarbeit heißt Forschung einzig noch darum, weil sie keinen ernsthaften Einfluß auf die materielle Produktion ausübt, geschweige denn als Kritik über diese hinausgeht. Im Research spielt der Geist dieser Welt mit sich selber, aber so wie Kinder Kondukteur spielen, indem sie Billette verkaufen, die nirgendwohin führen. Die Behauptung der Angestellten jenes Geistes, einmal werde die Synthese von Theorie und Faktenmaterial ihnen schon gelingen, einstweilen fehle ihnen nur die Zeit, ist eine törichte Ausrede, die durch die stillschweigende Anerkennung des Vorrangs praktischer Obliegenheiten sich selbst ins Gesicht schlägt. Die tabellendurchwirkten Monographien könnten kaum je, und dann bloß im sardonischen Sinne, durch vermittelnde gedankliche Operationen zur Theorie erhoben werden. Die kollegiale Jagd zwischen sozialwissenschaftlichen »Hypothesen« und »Belegen« ist endlos wie die wilde, weil jede der vermeintlichen Hypothesen, wofern ihr theoretischer Sinn innewohnt, eben die brüchige Fassade der bloßen Faktizität durchschlägt, die in der Forderung nach Belegen als Forschung sich fortsetzt. Daß Musik übers Radio nicht eigentlich erfahren werden kann, ist ein gewiß bescheidener theoretischer Gedanke; seine Übersetzung in Research aber, etwa durch den Nachweis, daß die begeisterten Hörer gewisser ernster musikalischer Programme sich nicht einmal an die Titel der konsumierten Stücke erinnern, gibt von der Theorie, die zu verifizieren er beansprucht, den bloßen Abhub. Wüßte selbst eine allen statistischen Kriterien entsprechende Gruppe die Titel, so wäre damit die Erfahrung der Musik so wenig bezeugt, wie umgekehrt die Unkenntnis der Namen an sich die Absenz von Erfahrung bestätigt. Die Regression des Hörens ist nur aus der gesellschaftlichen Tendenz des Konsumtionsprozesses als solcher abzuleiten und in spezifischen Zügen zu identifizieren. Sie läßt sich nicht aus willkürlich isolierten und dann quantifizierten Konsumtionsakten erschließen. Diese zum Maß der Erkenntnis machen, heißt selber bereits das Absterben der Erfahrung voraussetzen und »erfahrungslos« operieren, während man die Veränderung der Erfahrung analysieren will; ein primitiver Zirkel. Als hilflose Nachahmung der exakten Naturwissenschaften, deren Ergebnissen gegenüber die sozialwissenschaftlichen armselig erscheinen, klammert sich Research verängstigt an den verdinglichten Abguß der Lebensprozesse als Garantie der Richtigkeit, während es seine einzig angemessene und daher den Research-Methoden unangemessene Aufgabe wäre, die Verdinglichung des Lebendigen an ihrem immanenten Widerspruch zu demonstrieren.


 X

Ausschweifung. – Dem an der dialektischen Theorie Geschulten widerstrebt es, in positiven Vorstellungen von der richtigen Gesellschaft sich zu ergehen, von ihren Bürgern, ja selbst von denen, die es vollbrächten. Die Spuren schrecken; dem Rückschauenden verschwimmen alle Gesellschaftsutopien seit der Platonischen in trüber Ähnlichkeit mit dem, wogegen sie je ausgesonnen waren. Der Sprung in die Zukunft, hinweg über die Bedingungen des Gegenwärtigen, landet im Vergangenen. Mit anderen Worten: Zwecke und Mittel sind nicht unabhängig voneinander zu formulieren. Dialektik will nichts von der Maxime wissen, daß jene diese heiligten, so nahe dem auch die Lehre von der List der Vernunft ebenso wie die Unterordnung der Einzelspontaneität unter die Parteidisziplin zu kommen scheint. Der Glaube, das blinde Spiel der Mittel sei durch die Oberhoheit der rationalen Zwecke bündig zu ersetzen, war bürgerlich-utopistisch. Zur Kritik steht die Antithese von Mittel und Zweck selber. Beide sind im bürgerlichen Denken verdinglicht, die Zwecke als »Ideen«, deren Unveräußerlichkeit in der Ohnmacht besteht äußerlich zu werden, und die schlau die eigene Unrealisierbarkeit in die Form ihrer Unbedingtheit einkalkulieren; die Mittel als »Gegebenheiten«, sinnleer-bloßes Dasein, nach Wirksamkeit oder Unwirksamkeit für Beliebiges auszusortieren, aber vernunftlos an sich. Der versteinerte Gegensatz gilt in der Welt, die ihn produzierte, aber nicht für die Anstrengung, jene zu verändern. Solidarität kann zur Unterordnung nicht bloß des Einzelinteresses sondern selbst sogar der besseren Einsicht verpflichten. Umgekehrt kompromittiert Gewalttat, Manipulation und schlaue Taktik das Ziel, auf das sie sich beruft und das sie damit selber schon zum bloßen Mittel macht. Darum das Prekäre aller Aussagen über die, von denen die Veränderung abhängt. Weil tatsächlich Mittel und Zwecke getrennt sind, können die Subjekte des Umschlags nicht als unvermittelte Einheit von beiden gedacht werden. Ebenso wenig aber läßt die Trennung theoretisch sich perpetuieren in der Erwartung, sie wären entweder einfach Träger des Zwecks, oder selber durchaus Mittel. Der rein vom Zweck bestimmte Oppositionelle ist heute ohnehin, als »Idealist« und Tagträumer, von Freund und Feind so gründlich verachtet, daß man eher darauf verfällt, von seiner Exzentrizität das Rettende zu erhoffen als dem Ohnmächtigen die Ohnmacht nochmals zu attestieren. Gewiß jedoch ist denen nicht etwa mehr zu vertrauen, die den Mitteln gleichen; den Subjektlosen, denen das historische Unrecht die Kraft lähmt es zu brechen, angepaßt an Technik und Arbeitslosigkeit, bündlerisch und verwahrlost, schwer zu unterscheiden von den Windjacken des Faschismus: ihr Sosein dementiert den Gedanken, der auf sie sich verläßt. Beide Typen sind auf den Nachthimmel der Zukunft projizierte Charaktermasken der Klassengesellschaft, und an ihren Fehlern wie an ihrer Unversöhnlichkeit hat die Bourgeoisie selber stets sich geweidet: dort am abstrakten Rigoristen, der Hirngespinste hilflos zu realisieren trachtet, hier am Untermenschen, der als Ausgeburt der Schmach diese nicht soll wenden können.

    Wie die Rettenden wären, läßt sich nicht prophezeien, ohne ihr Bild mit dem Falschen zu versetzen. Zu erkennen aber ist, wie sie nicht sein werden: weder Persönlichkeiten noch Reflexbündel, am letzten aber eine Synthese aus beidem, hartgesottene Praktiker mit Sinn fürs Höhere. Wenn die Beschaffenheit der Menschen den extrem gesteigerten gesellschaftlichen Antagonismen sich wird angemessen haben, dann wird die menschliche Beschaffenheit, die zureicht, dem Antagonismus Einhalt zu tun, durch die Extreme vermittelt sein, nicht die durchschnittliche Mischung aus ihnen. Die Träger des technischen Fortschritts, heute noch mechanisierte Mechaniker, werden in der Entwicklung ihrer Spezialfähigkeiten den von der Technik bereits angezeigten Punkt erreichen, wo Spezialisierung gegenstandslos wird. Hat ihr Bewußtsein ins reine Mittel, ohne alle Qualifikation, sich verwandelt, so mag es aufhören Mittel zu sein, mit der Bindung an bestimmte Objekte die letzte heteronome Schranke durchschlagen; die letzte Befangenheit im Soseienden, den letzten Fetischismus gegebener Verhältnisse abstreifen, auch den des eigenen Ichs, das durch seine radikale Zurüstung zum Instrument zergeht. Aufatmend mag es der Unstimmigkeit zwischen seiner rationalen Entwicklung und der Irrationalität ihres Zweckes innewerden und danach handeln.

    Zugleich aber sind die Produzenten mehr als je auf die Theorie verwiesen, zu der die Idee des richtigen Zustandes in ihrem eigenen Medium, konsequentem Denken, kraft insistenter Selbstkritik sich entfaltet. An der Klassenspaltung der Gesellschaft haben auch die teil, welche der Klassengesellschaft opponieren: sie scheiden sich untereinander, nach dem Schema der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit, in Arbeiter und Intellektuelle. Diese Scheidung lähmt die Praxis, auf die es ankäme. Sie ist nicht willkürlich zu überwinden. Während aber die mit geistigen Dingen beruflich Befaßten selber immer mehr zu Technikern werden, macht die zunehmende Undurchsichtigkeit der kapitalistischen Massengesellschaft eine Verbindung der Intellektuellen, die es noch sind, mit den Arbeitern, die noch wissen, daß sie es sind, aktueller als vor dreißig Jahren. Damals war sie kompromittiert durch Bürgerliche der freien Berufe und der Zirkulation, die von der Industrie nicht hereingelassen wurden und versuchten, durch linke Betriebsamkeit Einfluß zu gewinnen. Die Gemeinschaft der Werktätigen von Kopf und Hand klang beruhigend, und das Proletariat witterte mit Recht in der von Figuren wie Kurt Hiller empfohlenen Führerschaft ihres Geistes einen Trick, eben durch Vergeistigung den Klassenkampf unter Kontrolle zu bringen. Heute, da der Begriff des Proletariats, in seinem ökonomischen Wesen unerschüttert, technologisch verschleiert ist, so daß im größten Industrieland von proletarischem Klassenbewußtsein überhaupt nicht die Rede sein kann, wäre die Rolle der Intellektuellen nicht mehr, die Dumpfen zu ihrem nächstliegenden Interesse zu erwecken, sondern den Gewitzigten jenen Schleier von den Augen zu nehmen, die Illusion, der Kapitalismus, welcher sie temporär zu Nutznießern macht, basiere auf etwas anderem als ihrer Ausbeutung und Unterdrückung. Die eingefangenen Arbeiter sind unmittelbar auf die verwiesen, die es eben noch sehen und sagen können. Ihr Haß gegen die Intellektuellen hat sich demgemäß verändert. Er hat sich den vorwaltenden gesunden Ansichten angeglichen. Die Massen mißtrauen den Intellektuellen nicht mehr, weil sie die Revolution verraten, sondern weil sie sie wollen könnten, und bekunden damit, wie sehr sie der Intellektuellen bedürften. Nur wenn die Extreme sich finden, wird die Menschheit überleben.


 Editorische Nachbemerkung

Adornos »Minima Moralia« wurden zuerst 1951 vom Suhrkamp Verlag, Berlin und Frankfurt a.M., veröffentlicht. Eine zweite, durchgesehene Ausgabe brachte der Suhrkamp Verlag 1962 in Frankfurt a.M. heraus. Das 7. bis 9. Tausend dieser Ausgabe, das 1964 erschien, stellt die letzte Auflage dar, die zu Lebzeiten des Autors erschienen ist; ihr folgt der vorliegende Abdruck. – Eine kleine Anzahl von Texten hat Adorno zu verschiedenen Zeiten aus dem Manuskript herausgenommen. Seine Gründe dafür waren unterschiedlich: teils leiteten ihn Erwägungen, welche die Gesamtkonstruktion des Buches betrafen, teils suchte er inhaltliche Überschneidungen zu vermeiden. Da Adorno sich in keinem Fall von dem Ausgeführten distanzieren wollte, glaubt der Herausgeber der »Gesammelten Schriften« sich berechtigt, diese bislang ungedruckten Stücke in einem Anhang mitzuteilen.

November 1979

[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Post festum. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2161

(vgl. GS 4, S. 293 ff.)]


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