Paul Valéry: Windstriche (2)


Die Verwendung des Todes in der Literatur stellt eine Bequemlichkeit dar. Sie beweist einen Mangel an Tiefe. Aber die meisten verlegen das Unendliche in das Nichts.

Eine reizende, rührende, »tief menschliche« Idee (wie die Esel sagen) entspringt manchmal dem Bedürfnis, zwei Strophen, zwei Partien miteinander zu verknüpfen. Es galt, eine Brücke zu schlagen oder Faden zu spinnen, die den Fortgang des Gedichts sichern. Und weil zum Menschen selbst oder zum Menschenleben gehört, dass jederzeit eine Fortsetzung möglich bleibt, erhalt dieses formale Bedürfnis eine Antwort – für den Autor, der nicht darauf gefast war, eine zufällige und glückliche Antwort -, und eine lebendige (wenn einmal an der rechten Stelle eingesetzt) für den Leser.

Die große Anziehungskraft der klassischen Kunst liegt vielleicht in der Folge der Verwandlungen, welche für die Darstellung unter den auferlegten Bedingungen sine qua non nötig sind.

Probleme der Versifikation. Dies zwingt, was man zu sagen hat, von sehr hoher Warte aus zu betrachten. 

Pag 39


Das Urteil eines Gläubigen über einen Ungläubigen und umgekehrt zählt nicht.

– Ein empfänglicher Musikhörer und einer, der sie nur als Lärm vernimmt, können bis morgen früh diskutieren.

Die Debatte über das Religiöse findet nicht mehr zwischen Religionen statt, sondern zwischen denen, die glauben, dass glauben etwas bedeutet, und den anderen.

Auf die Spitze getrieben oder mit letzter Gründlichkeit verfolgt, führt jede Meinung, These, Empfindung unweigerlich zur Zerstörung des Menschen.

Würden die Verbrecher den Widerstand leisten, der ihrem Wagnis entspricht . . . Wären die ersten Christen mit letzter Kraft Christen gewesen, so gäbe es keine Christen mehr; – und wäre ihnen jedermann gefolgt, so bliebe niemand mehr auf Erden.

Die beiden spiegelbildlichen Lehren, die eine, die vom ewigen Leben handelt, und die andere, die uns ein für allemal zugrunde gehen lässt, führen zum selben Ergebnis: beide sprechen den menschlichen Erfindungen und Schöpfungen jegliche Bedeutung ab. Die eine vergleicht die endlichen Werke mit dem Unendlichen und macht sie dadurch zunichte. Die andere lässt uns auf null zustreben und mit uns alles übrige. Wären allesamt echte Christen oder allesamt echte Heiden, so wären alle tot, tot, ohne irgend etwas geleistet zu haben. 

Man spricht am liebsten von dem, was man nicht weiß. Denn daran denkt man, darauf richtet sich die Tätigkeit des Geistes, sie kann sich nur darauf richten.

Pag. 44-45



Typologie des Geistes

Die einen Denker haben das Verdienst, klar zu sehen, was alle übrigen undeutlich sehen; die andern, undeutlich zu sehen, was noch keiner sieht. Sehr selten findet man diese Verdienste vereint.

Die einen werden schliesslich von jedermann eingeholt.

Die andern gehen in diesen auf oder werden völlig vernichtet, spurlos und für immer. Die einen verschwinden in der Menge, in der sie sich auflösen; die andern in diesen oder einfach in der Zeit. 

Das ist das Los der Geistesmenschen. 

Das Banale überwinden heisst nicht viel. Auf Torheiten reagiert man mit Tollheiten. Das geschieht ganz mechanisch. Die ganze moderne Geistesgeschichte, Kunst, Politik usw., ist so einfach wie die Reflexe eines Frosches. Ich hasse dieses Spiel einfacher Reaktionen, Automatismus äusserster Gegensätze, symmetrische Gegenstösse; Glaube an den Wert des Neuen, weil es neu, des Alten, weil es alt ist; Glaube an die Intensität usw. 

Aber es gibt einen Standpunkt, von dem aus weder das Fremde noch das Banale, weder das Neue noch das Alte mehr sichtbar sind. 

Dialog. 

» Wie war lhnen damals zumute?« 

»Wie einem Menschen, der nicht weiss, was man empfinden soll. Oder vielleicht empfand ich, dass ich nicht empfand, was man hätte empfinden sollen … 

So dass mein Zustand an nichts erinnerte und ich recht eigentlich niemand war.« 

Die Herausforderung. 

»Sie sind nicht praktisch« – (nicht gut, nicht ernsthaft usw.). – » Nein, mein Herr, denn ich bin nichts – in meinem gewöhnlichen Zustand. – Untätig bin ich weder dies noch das … Aber Sie sollten nicht bezweifeln, dass ich gut und praktisch und alles übrige bin … Machen Sie, dass ich es sein muss.« 

Man muss viele Verbrechen begangen haben, reale oder auch imaginäre, und die Last einer schweren und bunten Vergangenheit mit ihren seelischen und äusseren Missgeschicken tragen, um eines Tages eine gute Tat zu erkennen, zu wagen und zu vollbringen; um ein wenig Gutes zu tun, ohne sich zu zu irren. 

Pag. 45-46


»Ich bin ein Gentleman«, sagt er – » denn ich stehe zu den meisten meiner Taten.«

Ich finde es unwürdig, zu verlangen, dass die andern unserer Meinung seien. 

Der Bekehrungseifer überrascht mich. 

Seine Gedanken verbreiten? 

Verbreiten – seine Gedanken – ohne die Wiederholungen, ohne das Absurde, das sie erfüllt und umgibt-ohne ihre eigenen Bedingungen …

Verbreiten, was ich als falsch, unsicher, unvollständig, bloss hingesagt erkenne;. was ich nur mit vielen Verbesserungen, Anmerkungen, Klammern, Unterstreichungen ertrage; – im Gedanken, es vielleicht zu verbessern und später fortzuführen … 

Und dann auch: mein Bestes weggeben . .. 

Oder: zunächst mit warmen und klaren Worten reden — plötzlich, beim Widerhall meiner Worte — ihre Ohnmacht wahrnehmen, ihre Sinnlosigkeit, die jäh sichtbar wird — und mich dann unterbrechen oder … fortfahren. Mich anlügen oder mich widerrufen? … 

—Wie können sie es aushalten, bei ihrer Meinung zu bleiben, sobald sie ertönt und sich von ihrem Schöpfer ablöst? 

Pag. 47


Seltsam, der Wahn, sich mitzuteilen —

Seine Krankheit – seine Ansicht mitzuteilen – sein Leben. Unsere »Ansichten« und »Überzeugungen« sind für uns unerbittliche Notwendigkeit. Unsere Natur will, dass wir von allen Dingen eine Meinung haben. Die politische Verfassung zwingt uns dazu. Gott verlangt, dass wir uns über seine Existenz und seine Eigenschaften äussern. 

Da unsere Natur fordert, dass wir auf alle Fragen antworten, von denen sie uns glauben macht, sie würden uns ge stellt, verlangt sie auch, dass uns unsere Antworten teuer seien, weil sie von uns kommen. Das Gegenteil wäre sinnvoller.

Pag. 47-48


Wie könnte ein Genie zu sich selber sagen – so bin ich also ein Kuriosum … Und was mir so natürlich erscheint, das Bild, das mir da einfiel, diese plötzliche Evidenz, jenes Wort, das mich nichts gekostet hat, dies flüchtige Ergötzen meines inneren Auges, meines heimlichen Hörens, meiner Stunden, und dann die Einfälle beim Denken und Reden … machen sie aus mir ein Ungeheuer? – Seltsam ist meine Seltsamkeit. So wäre ich nur eine Rarität? Und ohne dass ich mich im geringsten zu ändern brauchte, genügten hunderttausend meinesgleichen, und ich würde nicht mehr auffallen … Und bei einer Million wäre ich gar irgendein Trottel … Ein Millionstel meines früheren Wertes … 

Weder das Neue noch das Genie verführen mich—sondern die Beherrschung seiner selbst. Und sie läuft darauf hinaus, sich mit der Höchstzahl an Ausdrucksmitteln auszustatten, um zu diesem Selbst vorzustossen, es zu erfassen und die angeborenen Kräfte nicht verlorengehen zu lassen, aus Mangel an ihnen dienenden Organen.

Traum. – Ich war, was ich sein will, und starb fast vor Verlegenheit.

Ich war, was ich sein will, und starb beinahe, weil ich’s war. 

Pag. 48


Wer hat dich gequält? Wo ist denn die Ursache der Schmerzen und Schreie? Wer hat dich so tief gebissen, wer sass so schwer auf dir, ununterscheidbar von deinem Fleisch, so wie das Feuer eins ist mit der Kohle, wer zerrte und bog dich und verbog dabei in dir alle Ordnung der Welt, alle Gedanken, den Himmel, die Akte und die geringste Ablenkungen? 

Ist’s ein Ungeheuer, ein erbarmungsloser Herrscher, ein allmächtiger Kenner der Ressourcen des Schreckens und deiner Nervenlandschaft? 

Ein kleiner Gegenstand war’s, ein Steinchen, ein fauler Zahn Der hat dich ganz zum Singen gebracht, so wie die Düse den Damp zum Pfeifen bringt.

Pag. 48-49


Lied.

          So grosse Qualen gibt es nicht, 

          Dass nicht ein Nichts sie unterbricht 

          Für eine flüchtige Frist. 

Die Mängel unseres Geistes sind das eigentliche Herrschaftsgebiet des Zufalls, der Götter und des Schicksals. 

Wüssten wir auf alles eine Antwort – ich meine: eine treffende Antwort -, so gäbe es diese Mächte nicht. 

Aber unsere richtigen Antworten sind überaus selten. Die meisten sind schwach oder nichtig. Wir spüren das so genau, dass wir uns zuletzt gegen unsere Fragen wenden. Damit aber sollte man gerade beginnen. Man sollte eine Frage in sich ausbilden, die allen andern vorausgeht und jede auf ihren Wert hin befragt. 

Der grösste Ruhm, der sich denken lässt, bleibt dem, den er auszeichnet, auf immer verborgen. 

Man wird im geheimen von einem Unbekannten angerufen, angeschaut und in seine geheimsten Gedanken eingeführt, um ihm als Zeuge, Richter, Lehrer, Vater und als heilige Bindung zu dienen. So steht es um diesen mystischen Ruhm, und ich weiss, dass es ihn gibt, da ich ihn einigen verliehen habe, unter denen selbst die Lebenden nichts davon ahnten. 

Die Mittelmässigen werden immer gewandter, da sie nicht aufhören, ihren mittelmässigen Bereich zu durchmessen. Wer aber seine Gewandtheit aufgibt, um linkisch zu werden … der ist ein Mensch. 



Pag. 49

lch arbeite mit Hingabe, gediegen und eingehend, harre unendhch der kostbaren Augenblicke; überdenke stets erneut meine Entscheidungen; ich arbeite mit meinem Ohr, mit meinen inneren Auge, met meinem Gedächtnis, mit meiner Glut, mit meiner Schlaffheit; ich arbeite an meinem Arbeiten, ich gehe durch Wüsteneien, durch uppige Auen, durch Sinai, durch Kanaan, durch Capua, ich kenne dieZ eiten des zuviel und die Zeiten des Aussiebens, um mit meinen besten Kräften etwas zustande zu bringen, wovon ich weiss, dass es doch nichts sein wird- Anlass zur Langeweile, zum Vergessen, zu Unverständnis, was mir morgen missfallen, mich morgen verletzen wird – denn morgen werde ich dem, der heute sein Bestes tut, notwendig unterlegen oder überlegen sein. 

Was ich wert bin, bemisst sich nach dem, was mir fehlt, denn ich habe ein deutliches, tiefes Wissen von dem, was mir fehlt, und weil das nicht eben wenig ist, verhilft es mir zu beachtlichem Wissen. 

Ich habe versucht, mir zu schaffen, woran es mir mangelte. 

Ich liebe den Gedanken wie andere den nackten Körper, den sie ein Leben lang abzeichnen könnten. 

Ich sehe ihn für das Nackteste an, das es gibt; wie ein Wesen, an dem alles Leben ist-wo man das Leben der Teile und des Ganzen sehen kann. 

Bei einem Lebewesen übertrifft das Leben der Teile das Leben des Ganzen. Meine Elemente selbst die meines Geistes, sind älter als ich. —meine Wörter kommen von weit her. 

—Meine Gedanken aus dem Unendlichen. Unendlichkeit solcher Verbindungen.

Am schönsten wäre es, in einer selbsterfundenen Form zu denken. 

Wie selten denkt man zu Ende, ohne zu seufzen.

Am äussersten Ende jedes Gedankens wartet ein Seufzer 

Was man am Leben vermisst, ist das, was es nicht gebrach hat – und niemals gebracht hätte. Beruhige dich.

Pag 49-50


Valery, Paul, Windsriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Franszösischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)

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