Jaspers over de Mythe

Bron:

Jaspers, Karl, Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie. Herausgegeben von Hans Saner, München Zürich 1996, (Piper)


Umgang mit dem Mythos

In Religionen aller Völker gibt es den Kult des Lebens, dieses Stromes von Geburt und Sterben, Vernichtung und Wiedererstehen. Es gibt die Muttergöttin, die magna mater, die Kybele Kleinasiens, die Isis in Ägypten, die Durga in Indien. Sie haben Söhne, die sterben und wiederauferstehen: Adonis, Attis, Osiris, Gatten solcher Muttergöttinnen, Baal im vorderen Orient, Schiwa in Indien haben denselben Naturcharakter.
Der Gläubige fühlt die Geborgenheit in der Blutwärme und Güte der Muttergöttin, und er fühlt das Preisgegebensein an ihre Erbarmungslosigkeit und Härte. Das Entgegengesetzte gehört zueinander. Der unendlichen Fruchtbarkeit entspricht die wilde Zerstörung, dem Heil das Unheil, dem Guten das Böse. Im rasenden Tanz des Schiwa, dem göttlichen Tanz, in den hingerissen zu werden die Wahrheit des Glaubenden ist, vereinigen sich Herrlichkeit und Entsetzen, übergewaltige Lust und schreckliche Qual, Liebe und Grausamkeit, Leben und Tod. In diesen Religionen gibt es Kulte sexueller Orgiastik und gibt es asketische oder kastrierte Priester.
Ein anderes mythisches Bild: Moses auf dem Sinai. Das Volk zitterte vor den Donnerschlägen, den Blitzen und vor dem rauchenden Berg, blieb weit weg stehen und sagte zu Moses: Gott soll lieber nicht mit uns reden, sonst müssen wir sterben. Gehe du, und rede du mit uns, dann wollen wir hören. Moses stieg in das dunkle Gewölk, in dem Gott war. Und Gort sprach zu Moses. Er gab ihm die zehn Gebote und Mos es brachte sie dem Volke: 1. Ich bin dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus Ägypten weggeführt hat. Du solist keine anderen Götter haben neben mir. 2. Du sollst dir kein Gottesbildnis und Gleichnis machen … 5. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. 6. Du sollst nicht töten. 7. Du solist nicht ehebrechen … 9. Du sollst kein falsches Zeugnis aussagen.
Ein drittes Beispiel des Mythos: Athene, die Göttin, von keinem Weibe geboren, sondern dem Kopf des Zeus, dem Vater gleich an Vernunft und Klugheit, von mächtiger Erscheinung. Aus dem Haupte des höchsten Gottes entsprungen, stand sie plötzlich da in Kriegsrüstung. Die Götter erschraken bei ihrem Anblick.
In ihr vereinen sich die Vernunft ohne Schwäche mie dem Mut ohne Übermut.
Als Achilles in masslosem Zorn sein Schwert gegen Agamemnon zieht, ist Athene seinem inneren Auge plötzlich gegenwärtig. Er wirft das Schwert in die Scheide zurück. Athene erweckt die Vernunft ihres Helden. Als die mutige, nie Verzagende, steht sie dem Krieger bei in der Schlacht. Aber sie hasst den Ares, den Kriegsgott, die Lust des gedankenlosen, von Recht und Unrecht nicht wissenden Kampfes. Sie wirft diesen blöden Kriegsgott in der Schlacht mie leichter Hand zu Boden.
Sie hilft dem Mut, nicht der Wildheit, der Vernunft, nicht der Leidenschaft, dem Edlen, nicht dem Gemeinen.
Wegen ihrer grossen, weiten Augen heisst sie die eulenäugige (Glaukopis). Dem Glanz ihrer Augen verwandt ist alles Helle und Glänzende, das Meer, die Sterne, die Morgenröte, der Himmel, noch der Glanz des Ölbaums.
Ihr durchdringender Blick erzeugt die Geistesgegenwart der Vernunft, den entscheidenden Einfall im Augenblick der Bedrohung.
Sie wendet sich an den Menschen der zuerst Mensch, dann Mann oder Frau ist. Den geschlechtlichen Eros überlässt sie der Aphrodite, die Geschlechtsfeindschaft der Artemis, beiden gleich fern. Auch ist in ihr keine Spur einer Amazone.
Nietzsche schrieb von dieser Göttin: »Der Darstellung des einfachsten und zugleich vollsten Menschen war bis jetzt kein Künstler gewachsen: vielleicht aber haben die Griechen, im Ideal der Athene, am weitesten von allen bisherigen Menschen den Blick geworfen.«—
Aus der unermesslichen Welt der Mythos griff ich drei Beispiele: Die Muttergöttin, Moses auf dem Sinaï, die Göttin Athene.
Die Muttergöttin: Naturkulte bezeugen die Selbstauffassung des Menschen als Natur. Er ist nur Natur. In sie verschlungen teilt er Jubel und Vernichtung. Das wird später zum abstrakten Naturalismus des Nuneinmal-so-Seins und So-Geschehens.
Das Ethos des Gesetzes für die Freiheit: Die sittlichen Gesetze sind Gebote Gottes. Der Mensch begegnet ihnen in Furcht und Zittern, in Freiheit ihnen folgend durch den Bund mit Gott, in Freiheit ihnen sich versagend durch den Verrat an Gort. In späterer Zeit wird das unbedingte Gesetz zum abstrakten kategorischen Imperativ Kants: HandIe so, als ob du die Welt damit hervorbringst, als ob du mir verantwortlich bist für die Welt selber, die, was sie ist, in der Weise deines Handelns zeigt.
Athene: Der Adel des Menschseins, das in ihr sein Vorbild sucht, der Mut und die Vernunft des zur Reinheit sich vollendenden Menschen. Sie ist die Göttin, nach der Athene sich nannte und der die Gesinnung der Periklesrede entsprach, als er zum Preis der in der Schlacht Gefallenen von der Grösse Athens redete. In der Philosophie wird daraus der Mut der Vernunft.
In jedem dieser drei Mythengebilde wird eine Wahrheit offenbar. Das spätere Denken bewahrt die mythischen Chiffern der Herkunft seines Gehalts. lm Bewusstsein des Menschen kämpfen die Wahrheiten miteinander. Die Natur lässt das ihr fremde Gesetz der Freiheit nicht geiten und ist blind für den Adel der Athene. Das Gesetz Gottes unterwirft die Natur, verbietet die Naturkulte, die Baalskulte. Der Mut der Vernunft blickt fragend ins Antlitz der Natur und der imperativen Forderungen, nicht verwerfend, sondern sie übernehmend, aber überschreitend.
Die Naturkulte sind universell. Die sittlichen Gesetze Gottes fordern absolut, kommen geschichtlich zwar mehrfach vor, aber nirgends mit der Wucht wie im alten Israel. Athene ist geschichtlich einzig, ohne Vergleich, aber auch ohne Anspruch auf absolute Wahrheit und auf Ausschliesslichkeit. Sie wirkt durch ihr blosses Gegenwärtigsein, weder durch Gewalt noch durch allgemeines Gebot, als Führung für die offene Vernunft des freien Menschen. Je weniger Vergleichbarkeit ein Mythos oder eine mythische Gestalt hat, desto wesentlicher ist sie.



Die wenigen Beispiele zeigen: Die Wahrheit der Mythen ist kein Wissen. Sie sprechen in bildgegründeten Ansprüchen und Massstäben.
Mythos heisst dem Wortsinn nach Erzählung. Anschauliche Ereignisse und Gestalten sind sein Inhalt. Mythen sind sie, weil sie auf das Sein im Grunde weisen, oder von dorther mitgeteilt erscheinen, die Motive unserer Existenz aussprechen. Das Unzugängliche wird in der Erzählung offenbare Erscheinung.
Da die Wirklichkeit der Mythen nicht in einem Erkenntnisinhalt liegt, wendet sich die Erforschung von Realitäten gegen den Mythos. Seine Wirklichkeit liegt allein in einem für den Sehenden gültigen Anspruch. liegt in der Lenkung des inneren Handelns.
Die Welt der Mythen ist das Schlachtfeld für den Kampf der Mächte, die durch den Mythos sprechen. In ihnen zeigen sich uns die Mächte, die uns ergreifen, denen wir dienen oder denen wir widerstehen.
In mythischen Gestalten erfährt der Mensch ein Bild seiner Möglichkeiten, sieht er, wohin sein Wesen drängt, zu Adel und Gemeinheit, unter das gebietende Ethos und in die Gewalt des Natürlichen, zur Unbedingtheit und zum Bedingten.


Der Mythos ist gemeinschaftlich, wenn er seinen Halt hat im Kultus. Der Kultus, nicht der erzählte Mythos ist das geschichtlich Primäre. Im Kultus werden die Mythen erfahren durch Wiederholung von Handlungen, durch Anschauung heiliger Vorgänge. Er verleiht ihm Dauer und gibt ihm die Prägungskraft.
Der Mythos gewinnt einen neuen Halt durch die Offenbarungsreligionen. Sie geben ihm Realität durch Leibhaftigkeit der Offenbarung, die sich als christliche zwar vom Mythos absetzen möchte, aber, selber schon ein Mythos, zum Auffangsorgan der grossen mythischen, von ihr verwandelten Überlieferungen wird.
Die moderne “Entmythologisierung”, ein Ausläufer der sich missverstehenden Aufklärung, beruht bei der Theologie auf der Voraussetzung, dass Offenbarung selber nicht Mythos, sondern von allem Mythischen grundsätzlich verschieden sei, dass daher die Verwandlung des Mythos aus der Leibhaftigkeit in die Sprache der Chiffern Halt machen solle vor der Offenbarung. Das zerstörerische Prinzip der Entmythologisierung, einmal in Gang gesetzt, würde aber auch den Offenbarungsglauben selbst vernichten.


Die Mythenwelt liegt als ein gewaltiger objektiver Tatbestand unserer Geschichte vor. Er wird Gegenstand der Forschung. Mythen werden gesammelt, beschrieben, verglichen, geordnet. Wir besitzen eine Erscheinungslehre (Phänomenologie) des Mythos, eine historische und ethnologische Kenntnis von Mythen in einem Umfang wie kein Zeitalter vor uns.
Erschlossen werden die Mythen aber erst wenn wir sie verstehen. Der Mythos ist nicht schon die Erzählung als solche, sondern erst das, was darin liegt an Bedeutung. Die Bedeutung im Mythos spüren wir, ohne sie zu erkennen. Wir erleben sie, ohne sie zu wissen. Die Mythen sind wie ein unendlich wogendes Meer von Bedeutungen, die in die Tiefe des Seins und meines Seins dringen.
Die Wirklichkeit, die wir in der Sprache der Mythen erfahren, wird nur in diesen Chiffern gegenständlich, sie selber ist kein Gegenstand. Daher sind die Chiffern nicht deutbar in dem Sinne, dass wir nun in der Deutung die Wirklichkeit, die Sache selbst hätten. Die Chiffern des Mythos sind nicht Zeichen, deren Bedeutung auf andere Weise besser aussprechbar wäre. Wenn wir Mythen die anschauliche Auslegung dessen nennen, was eigentlich ist, so enthüllen sie das Geheimnis doch nur so, dass die anschauliche Enthüllung, für unser Denken wiederum Geheimnis ist. Daher werden Mythen ihrer Bedeutung nach vertieft in einem forttreibenden Denken in den mythischen Bildern selber und im begrifflichen Denken. Nennen wir den ursprünglichen Mythos eine Auslegung dessen, was ist:, so geschieht weiter die unabschliessbare Auslegung der Auslegungen, sei es in Gestaltwandlungen der mythischen Bilder, sei es im rationalen Denken.
Die unendliche Deutbarkeit Iiegt in der Unendlichkeit des gehaltvollen Mythos. Künstlich gemachte Mythen dagegen sind in ihrer gemeinten Bedeutung endlich und damit erschöpft. Die ursprünglichen Mythen, die der Menschheit in dem, was ihre eigene Schöpfung scheint, zugleich geschenke werden, gewinnen wegen ihrer schöpferischen Deutbarkeit bei ihrem Wandel immer nur im Übergang eines Augenblicks eine geschichtliche Gestalt, nicht im allgemeinen rationalen Deuten eine endgültige Gestalt.
Wir müssen zwei Weisen des Mythenverständnisses unterscheiden. Eigentliches Verständnis kommt den Mythen aus der eigenen Lebenswirklichkeit des Verstehenden entgegen, es dringt in das Innerste, wählt und kämpft. Objektivierendes Verständnis dagegen geschieht in neutraler Distanz zum Gegenstande, wählt nicht aus, ist universal, und dringt nicht in das lnnere. Psychologie und Soziologie beanspruchen solches objektivierendes, für jedermann gültiges Verständnis.
Wird beides verwechselt oder vermischt, so entsteht ein verkehrter Sinn. Die unendliche Deutung aus dem Ernst der Existenz des Verstehenden droht verloren zu gehen im forschenden Verfahren, das in der endlos rationalen Deutbarkeit die Sache selbst zu haben meint. Den Weg des forschenden Verfahrens beschreiten Psychologie und Soziologie. Solange sie ihre Grenzen nicht, überschreiten, sind sie nützlich.
Heute meint man Mythen, Träume, Wahnvorstellungen in den ihnen gemeinsamen Inhalten deuten zu können. Dieses Verfahren ist selber zu einem existentiell verwirrten Leben mit Mythen geworden, zu einem wunderlichen Tatbestand unserer Zeit, der in einer massenhaften Literatur sichtbar ist. Wie beurteilen wir sie?
(1) Die Deutung erreicht keine Wissenschaftlichkeit, weil sie ein hohes Mass von Beliebigkeit nicht los wird. Deutungen und Umdeutungen bringen es hier nur zum Umrühren trüber Massen.
(2) Der Deutungsprozess wird in seiner Selbstauffassung praktisch zu einem pseudowissenschaftlichen Mythos. In seiner Psychifizierung des Menschen und der Welt werden unter dem Namen wissenschaftlicher Theorien intellektuelle Mythen vom Ganzen des Menschen und seiner Welt hergestellt, so in den Theorien von Stufen des Unbewussten und den Archetypen.
(3) Dieser wissenschaftsabergläubische Mythos wird nicht, wie Wissenschaft, zu einer fortschreitenden Erkenntnis, sondern bleibt, in seinem Verzehren des unendlichen historischen Materials, ein immer gleiches Durcheinander. Wir sehen folgende Tendenzen: Entweder bekämpfen sich Sekten mit ihren zum Glauben gewordenen Mythen, oder man nimmt in der Gebärde der wissenschaftlichen Objektivität alles zusammen, um nach Bedarf dieses oder jenes hervorzuheben. Es herrscht das Prinzip der Effektivität, der Sensation. Es ist Inszenierung, nicht Glaube. Es ist Zauberei, nicht Wissenschaft. Die Analogie zu spätantiken Traumdeutern, Propheten und Wundertätern liegt nahe. Der rational-sophistische Fanatismus der Methode und der Zusammenhalt der Beteiligten in ihrer Denkungsart gründet in ihrem praktisch sich zeigenden Nihilismus.
(4) Die Deutungen dringen nicht in den hohen Sinn der Mythen, der auch noch in der Weise der Auffassung des Niedrigen lebendig bleibt. Sie leugnen vielmehr den Adel und das Göttliche, das im Mythos spricht. Sie haben die Tendenz zur Erniedrigung. Sie kennen die endlose lntellektualität der Argumentation, nicht der Denkerfahrung der Vernunft. Sie lassen das Niedrige, indem sie es als die Wirklichkeit im Grunde behaupten, in sich selber wirklich werden, erzeugen eine Lebenspraxis, in der das Gemeine gerechtfertigt ist. Unter dem Namen der tieferen Wahrheit lassen sie alle Wahrheit verschwinden.
Psychologie und Soziologie zeigen, soweit sie wissenschaftlich sind, objektive Tatbestände der Mythenwelt und reale Zusammenhänge. Aber als wissenschaftlich müssen sie gleichsam von aussen verfahren und bleiben dadurch beschränkt. Lassen sie aber, wie geschildert, sich selber zum Pseudomythos werden, so töten sie den Mythos, liefern den Menschen aus an das Chaos.
In manchen Weisen psychoanalytischer Psychotherapie werden für Kranke, dann für alle Menschen existentiell verderbliche Operationen entwickelt. Hier fallen unsichtbar Opfer der Seelen, die man vergleichen könnte mit den sichtbaren Opfern des technischen Zeitalters durch die täglichen Unfälle. Während diese aber mit Erfolg bekämpft werden, lässt man die seelischen Zerstörungen geschehen. Denn sie beruhen ausschliesslich auf der objektiv nicht kontrollierbaren Verantwortung jedes Einzelnen. Nur die ständige Aufklärung kann diese Opfer auf dem Altar eines Pseudomythos verringern.
Kierkegaard schrieb: »Unsere Zeit ist unermüdlich gewesen, jedes Ding alles bedeuten zu lassen. Wie flink sieht man einen geistreichen Mystagogen eine ganze Mythologie prostituieren, damit nur jede einzelne Mythe durch seinen Falkenblick eine Kapriole auf seiner Mundharfe werde!«



Wir kehren zum Mythos selber zurück. Wie verhält sich in der bisherigen Geschichte das Denken zum Mythos? Der ursprüngliche Mythos ist Einheit von Anschauung und Denken, ohne Frage und Zweifel. Zwei Wege führen weiter. Erstens wird der Mythos rationalisiert, dadurch zu einem Mittel des Götterzwangs durch die Technik magischer Operationen zur Erreichung von Zwecken. Zweitens geschieht das Denken im Mythos. Der Mythos gelangt in klarer Gestalt zu seiner unergründlichen Tiefe wie bei Aeschylos und Sophokles.
Wie aber verhält sich die Philosophie zum Mythos? Sie hat in ihm einen Gegner gesehen, sofern er die Verwandlung aus Erzählung in Begriff durch seine bezwingende Macht lähmt. Er wurde ihr ein Gegenstand, der von ihr begriffen werden will als ein ihr zwar fremdes, aber unersetzliches Kleid der Wahrheit. Er bleibt schliesslich die Grenze der Philosophie: denn wenn die im Denken strandet, hört sie noch die Sprache des Mythos. So wird er ein Moment der Philosophie selber, die im eigenen Denken, wenn auch vergeblich, Mythen erzeugt. Es ist umgekehrt. Der Gehalt des Mythos ist ein Ursprung der Philosophie. Wenn sie ihn in ihr Denken übersetzt, kann sie die mythische Sprache nicht ersetzen.
Wer philosophiert, möchte ein freies Verhältnis gewinnen zu dieser unersetzliche Wahrheit tragenden Welt des Mythos.
Frei wird das Verhältnis zum Mythos, wenn er sich löst vom Kultakt und von der Leibhaftigkeit der Offenbarung und heute von dem Wissenschaftsaberglauben mit seiner Psychifizierung und Soziologisierung der Menschenwelt.
Können die Chiffern der Transzendenz in ihrer Vieldeutigkeit ohne Trug gehört werden? Es kommt auf die Weise unseres Hörens an, darauf, ob wir in ihm eine Verbindlichkeit erfahren.
Diese liegt nicht im ästhetischen Genuss, weil solche Freiheit ohne Ernst ist. Sie liegt noch weniger in der Neugier auf das Seltsame. Sie liegt noch nicht im gebildeten Verstehen der Wissenschaft von Dichtung und Kunst. Denn dieses prüft sich, solange es Wissenschaft bleibt nur auf die Richtigkeit im Treffen des vom Dichter und Künstler gemeinten Sinns. Was aber diese Wissenschaft, die heute zu einer unumgänglichen Voraussetzung geworden ist, an die Hand gibt, bedarf einer zweiten Prüfung: ich will nicht hängen bleiben in meiner Ergriffenheit als solcher und nicht eine jede auf ihre Art bejahen, vielmehr will ich die in mir erweckten Emotionen und Leidenschaften durchleuchten, um sie als wahr zu eigen zu machen, so dass ich mit ihnen zu mir selbst komme, oder um sie als falsch zu verwerfen, so dass ich sie in mir selbst als verführend abstosse.
Die Freiheit des Verstehens bedeutet daher erstens: in wissenschaftlicher Neutralität die eigenen Emotionen nur als Mittel der Erkenntnis zu benutzen. Dann ist die Freiheit das unbegrenzte Versuchen im Verstehen, in das ich mich selbst nicht hineinziehen lasse. Verführend ist bei diesem Versuchen ein unumgängliches Schauspielen um mit mir vor mir, in dem ich selbst nichts bin, und wenn ich es nicht durchschaue, als ich selbst verschwinde. Zweitens ist die Freiheit des Verstehens die Freiheit des Selbstwerdens im innern Handeln durch Aneignen und Verwerfen der Chiffern von Mythen.
Der schwebende Mythos, als solcher ausgesprochen, ist kein Bekenntnis. Sein erhellendes oder bestätigendes Wort ist ein Spiel, in dem, wo es wahr ist, tiefer Ernst liegt. Dieser Ernst bliebe ohne Sprache, wenn er sie nicht im Spiel der mythischen Bilder und Ereignisse fände. In den Chiffern, indirekt, sie in der Schwebe haltend, und nichts behauptend, gewinne ich vielleicht die Helligkeit existentieller Gegenwart.
Vorbild für das freie Verhältnis zum Mythos ist der griechische Geist. Er hat das mythische Denken zu reinsten und reichsten Gestalten gebracht und schliesslich die Mythen überschritten.
Die Religion der Griechen kannte die grosse Wahrheit des Polytheismus und nicht weniger den reinen Monotheismus. Sie hat die äussersten Gedanken gedacht und die tiefsten. Sie hat ihre Gipfel in den Kulten und Festen der Polis und in den Mysterien, in der Philosophie der Vorsokratiker, des Sokrates und abschliessend der des Plato. Die Ansätze von Offenbarungsreligion blieben auf begrenzte Kreise beschränkt (Orphiker, Pythagoreer). Darum haben die Griechen keine heiligen Bücher zur Herrschaft kommen lassen. Sie kannten keine Glaubens- und Bekenntnissätze , die für alle gültig wurden. Sie haben die Welt ihres in sich kämpfenden freien und erfüllten Geistes nicht einsargen lassen in ein Ganzes, das Kirche und ausschliessliche Autorität geworden wäre.
Die Griechen wurden politisch frei, weil sie zugleich innerlich frei wurden. Diese Freiheit vermochte es, bei Marathon und Salamis dank dem politischen Genius des Themistokles, das übermächtige Perserreich abzuwehren durch den Kampfgeist der geistigen Freiheit, die nur wirklich ist, wenn sie auch den Mut der Selbstbehauptung hat. Weil die Griechen innerlich frei waren, vermochten sie, den tödlichen Gegner, statt ihn nur zu hassen, auch noch zu verstehen, wie Äschylus, der Dichter, und Herodot, der Erzähler. Die delphische Priesterschaft dagegen hatte in dem Freiheitskampfe mit den Persern kooperiert. Bei einem persischen Siege wäre die griechische Freiheit in einer Theokratie erstickt, wie — im Dienste persischer Politik — Esra in Palästina es mit der prophetischen Religion machen wollte. Die Griechen sind uns ein grosses Symbol. Das politische Verhängnis hat sie später als Dasein untergehen lassen. Sie selber aber bleiben bis heute neben der prophetischen Religion der einzige geistige Halt unserer Freiheit, lebendig so lange als es freie Menschen geben wird. Nach den Perserkriegen haben sie auch in Freiheit ihre uralten Mythen zu schönster und tiefster Gestalt gebracht. Wer nicht mit den Griechen zu leben vermag, weiss nicht, was Freiheit ist. —
Die Freiheit im Verhalten zum Mythos erfahren wir, für unsere Welt näher, durch Shakespeare. Diese Gehalte, die nicht auszudenken sind, hat keine Philosophie erfunden. Wie bei den Dichtern ist es bei den Künstlern, Pheidias, Lionardo, Michelangelo, Rembrandt. Es ist das Wunder des Geistes, seine Schöpfung, die ihm gegeben wird in der von Transzendenz erfüllten Anschauung dessen, was ist.
Aber wie Freiheit kein gesicherter Zustand, so ist auch das freie Verhalten zum Mythos voller Gefahr. Da der Kampf der Mächte, die in Mythen sprechen, im Raum der Freiheit stattfindet, zeigt sich die Unheimlichkeit der Mächte und der Freiheit selber. Aus dem Grund des Menschseins wird etwas offenbar. Der Mensch ist- so erfahren wir im Mythos – das Wesen, das für sich selbst die grösste Gefahr ist. Wohl glaubt der Einzelne, wenn es ihm vergönnt ist, im Grund des Seins Fuss zu fassen, wenn sein Entschluss ihn trägt im Meer der unendlichen Freiheit des Möglichen. Aber er wird sich ungesichert, weil er die Sprache der von ihm abgewehrten Mächte hört. Er will ihnen nicht folgen. Er ist sich gewiss, dass er im Erliegen sein grösstes Unheil sehen würde, aber er kann nicht mit Selbstgerechtigkeit ausschliessen, dass in sein Leben fremde Götter einbrechen.
Wenn er in Treue zu seinem Ursprung den gefährlichen Weg geht, den die Griechen gezeigt haben, dann gibt es für ihn nicht den objektiv bestimmbaren Standort, sondern das geschichtliche Ergreifen. In der Freiheit für alles offen, kann er ins Nichtige gleiten und die Freiheit selbst verlieren, oder er kann zu sich selbst kommen in der innern Kontinuität seines Lebens. In dem von mythischen Gestalten erfüllten Raum sieht er sich bedroht und verführt von Mächten, aber auch gehalten und geborgen von anderen Mächten. Seine Lebenspraxis entscheidet.


Wie steht es heute? In unserer geistigen Verwirrung gibt es vielleicht eine grossartige Freiheit, aber noch die zersetzende Willkür, gibt es das umgreifende Band der Vernunft und mehr noch die zufälligen Meinungen, die dann mit Recht nur noch Gegenstand der Psychologie und Soziologie werden. Ist Mythos heute überhaupt noch lebendig? Gibt es moderne Mythen?
An die Stelle der Mythen scheinen die Ideologien getreten, intellektuelle Gebilde, aber mit der Energie eines Glaubens vertreten, der unter Führung staatlicher Gewalt in gleichsam heiligen Schriften und deren Auslegungen zur Analogie der Theologie wird. Hier ist das Ende des Lebens im Mythos.
Können wir noch leben in der griechischen Mythenwelt, mit Zeus, Athene, Aphrodite und mit Prometheus, mit Ödipus auf Kolonos? Diese Mythen sind für uns losgelöst von ihrem Boden, haben keinen Zusammenhang mehr mit einem Kultus, mit Feiern, mit Gebeten. Sie sind — schrieb Hegel— »für uns vom Baume gebrochene schöne Früchte, ein freundliches Schicksal reichte sie uns … Es gibt uns mit den Werken jener Kunst nicht deren Welt … sondern allein die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit … « Aber »der Geist des Schicksals, der uns jene Kunstwerke darbietet, ist die Erinnerung in unserem als Geist seiner selbst bewussten Geist«.
Dieselben Fragen sind: Können wir noch leben mit dem Sinai, mit Hiob, mit den Propheten? Können wir noch leben in der Mythenwelt der grossen Kunst in Shakespeare (Lear und Hamlet), in Lionardo, Michelangelo, Rembrandt?
Dass die überlieferten Mythen eine uns erleuchtende, uns prägende Wirkung haben können, ist mir zweifellos, aber unter Voraussetzungen: es bedarf des Ernstes in der Weise der Aneignung, — des Blickes für die Rangordnungen, die wir anerkennen durch das, was wir mit dem Mythos selbst werden, — des Eintritts in den Kampf der Mächte, an dem wir teilnehmen.
Aber sind wir allein auf Überlieferung angewiesen? Gibt es nicht längst neue, moderne Mythen, die Mythen unseres Zeitalters? Ich beschränke mich auf zwei Hinweise.
lm 19. Jahrhundert sind Menschen eines neuen Typus aufgetreten: Hölderlin, Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche, van Gogh u.a. Sie waren Ereignisse von einer Art, die es früher nie gegeben hat, Schöpfer von Werken, deren Gehalte noch nie gehört und gesehen waren. Ihrer Umwelt waren sie fremd. Sie verwarfen ihr Zeitalter, aber so, dass sie im Nein die ergreifendsten Gedanken, Bilder, Gestalten hervorbrachten. ihr Gedankenwerk und ihre Gestalten sind mit einem Maximum von Reflexion die Sprache der abendländischen und der Weltkrise. Sie sind nicht, wie die massgebenden Menschen (Sokrates, Jesus) die substantielle, unendlich deutbare Kraft des Ursprungs. Daher wirken sie nicht unerschütterlich und nicht einheitlich. Sie haben die Kraft, sich diesem bodenlosen Zeitalter mit ihrem ganzen Wesen auszusetzen. Aber ihre Kraft reicht viel weiter: sie vermögen ihren Blick auf das Menschsein überhaupt zu richten. Sie machen in einem nie gesehenen Umfang sichtbar, fühlbar, erfahrbar, was Menschen möglich ist. Sie entwerfen in anschaulichen und durchdachten Gestalten, was sie selbst nicht sind. Aber nicht eine gewaltige Zusammenfassung dessen, was Menschen zu sein vermochten und hervorbrachten, wie Hegel sie versuchte, sondern ein Aufbrechen des Menschseins zu nie geahnten Möglichkeiten ist ihr Werk.
Es waren Menschen, die, als Dasein krank, die Fragwürdigkeit dieses Zeitalters und des Menschseins durch das nicht gewollte Opfer ihrer selbst offenbar machten. Sie zahlten, was sie taten, mit ihrem Leben, mit Krankheit, Wahnsinn, Untergang. Sie haben einen Zug der Gewaltsamkeit, den sie selber bekämpfen.
Für uns sind sie Vergangenheit. Wie sie es erfuhren, erfahren wir es heute schon nicht mehr. Sie waren zeitweise Sensationen, die Form, in der ihre Unheimlichkeit oberflächlich gespürt wurde. Heute erkennen wir ihre Realität mit der Rücksichtslosigkeit moderner Wissenschaft, aber als diese Realität werden sie langsam zu eigentümlich mythischen Gestalten, zu Menschen als Sprache der übergreifenden Wirklichkeit, in die wir eingeschlossen sind.
Es ist als ob das Menschsein in ihnen eine Explosion vollzogen habe. Die Frage, oh sie das Ende bedeuten, oder den neuen Anfang frei gemacht haben, ist bis heute unbeantwortet. Sie wird beantwortet werden nicht durch ein dunkles Geschehen, dem wir ausgeliefert wären, sondern durch die Freiheit des Menschen selbst, jedes Einzelnen.
Ein weiterer Hinweis: Kennzeichnend für unser Zeitalter sind die Vorstellungen vom Ende, die modernen Eschatologien. Jesus, die ersten Christen, Paulus glaubten an das nahe bevorstehende Weltende. Ihr Leben, ihre Urteile, ihr Sinn wurde von diesem Weltende bestimmt, in dem das Reich Gottes erwächst. Ihre eigene Generation würde diese kosmische Katastrophe und den Anbruch des Gottesreiches noch erleben. Es war ein Irrtum. Aber aus diesem Irrtum wurde der wahre Anspruch an den Menschen erfahren: die Umkehr, um — in der Sprache dieser Chiffern — am Reich Gottes teilzugewinnen. Heute ist es ganz anders: Die Wahrscheinlichkeit des Endes der Menschheit und allen Lebens auf der Erde wird ständig grösser. Das ist kein Irrtum. Aber die Umkehr, die allein auch die Vernichtung abwehren könnte, erfolgt bisher nicht.
Der seit Hiroshima klaren Realität entsprechen die modernen Untergangsmythen, die längst vorher da waren. Sie waren leibhaftig gemeint und als eine Erkenntnis vorgetragen. So war es mit den Untergangsmythen des modernen Gnostikers Ludwig Klages. So war es in anderer Gestalt bei dem Engländer Wells.
Dieser berühmte Historiker und Romancier hat eine gnostische Untergangsvision im Kleide wissenschaftlicher Begründung entworfen, während er in seinem ganzen Leben vorher eine aufklärerisch-optimistische Ansicht vertrat. In beiden Fällen wirkt er mit seiner Darstellungsweise verblüffend, aber auch platt. Die sonderbare kleine Broschüre erschien 1945 in London, offenbar geschrieben vor Hiroshima. Sie scheint fast unauffindbar, ist nicht ins Deutsche übersetzt.
Wells will aus der Entwicklung der Materie, des Lebens, des Menschen, der Wissenschaft beweisen, dass ausserhalb unseres Universums eine Macht liegt, die gegen uns kämpft. Diese Ausdrucksweise verwirft er wieder, spricht aber vom Antagonisten ( das heisst dem Widersacher, dem Teufel), will damit das Unbekannte und Unversöhnliche ausdrücken. Hören wir einige Sätze:
Hinter dem Antlitz des normalen Seins wurde ein paradoxer Aspekt
nach dem anderen entdeckt. Das Uranium-Blei-Rätsel ist nur unter den letzten dieser absurden Fragen. In der gegenwärtigen seltsamen neuen Phase des Universums wird es evident, dass Ereignisse nicht länger wiederkehren. Sie gehen fort und fort in eine stumme grenzenlose Dunkelheit. Die Kehrichtwagen der Zeit rollen den Kehricht zur Verbrennungsstätte, um dort ein Ende mit ihm zu machen.
Unsere Welt ist wie ein Konvoi, der in der Finsternis an einer unbekannten Felsenküste verloren ist, mit zankenden Piraten im Kartenraum, Wilden, die an den Seilen der Schiffe hinaufklimmen, um zu plündern. Es ist kein Weg heraus oder herum oder hindurch. Das Ende von allem, was wir Leben nennen, ist unausweichlich. Wir werden untergehen mitten in unseren Ausflüchten und Albernheiten. Ich sehe bei Wells eine charakteristisch moderne Endvorstellung, in der keine Philosophie zur Geltung kommt, vielmehr Lieblosigkeit und daher Blindheit, dramatisches Berühren entstellter Wahrheit, daher geistreicher Unsinn.1


Zum Abschluss fasse ich die möglichen Weisen des Umgangs mit dem Mythos zusammen:
(1) Man verwirft alle Mythen als Fiktionen. Sie gelten als Unsinn oder als dekorative Spielerei. Die Wissenschaft hat die Welt entzaubert. Es gibt nichts anderes als das, was durch Wissenschaft erkannt wird. Bei dieser Verabsolutierung der Wissenschaft verfalle ich auch dem, was durch Pseudowissenschaft behauptet wird. Mich verschlingt die Bodenlosigkeit des blossen Verstandes.
Aber es gibt eine neue Redlichkeit. Die Reinheit der echten Wissenschaft entzaubert mit ihren Erkenntnissen die Welt nur in dem ihr erreichbaren Umkreis, nicht die Welt und den Menschen in ihrer ganzen Wirklichkeit. Wir leben, ob wir es wissen oder nicht, in einer Welt von Bildern und Symbolen. Wir hören in ihr die Sprache der Chiffern. Es wäre ein Leben in der Verlorenheit des Nichtseins, wo solche Sprache ganz ausbliebe. Unser Umgang mit dem Mythos hört nicht auf.
(2) Wenn ich aber unredlich die Chiffern des Mythos zu gewussten Erkenntnissen oder zu leibhaftigen Objekten werden lasse, dann gerate ich in die Befangenheiten fiktiver Endlichkeiten und falscher Bindungen. Ich lebe im Aberglauben. In ihm behaupte ich mich, der Kritik Antwort verweigernd, eigentlich stumm. Gewaltsam entziehe ich mich der Bewegung der in Mythen und Bildern denkenden Vernunft.
(3) Aus Freiheit erfahre ich Wahrheit im Ergriffensein durch Mythen. Dann verwehrt die Gewissheit des ewigen, in der Zeit erscheinenden Grundes die Realisierung der Chifferngehalte zu Leibhaftigkeiten. Die Vieldeutigkeit der Chiffern ermöglicht die nicht sagbare Eindeutigkeit geschichtlicher Treue der Existenz in der Lebenspraxis.
Schwebend im Raum der Chiffern kann der Mensch den Boden erspüren, in dem er über alle Chiffern hinaus den Anker zu werfen sucht.

1 H. G. Wells: Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten. Zürich 1946.

Bron:

Jaspers, Karl, Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie. Herausgegeben von Hans Saner, München Zürich 1996, (Piper), p. 342-355