Jaspers over de persoonlijkheid van Jezus

Die Auffassung der Persönlichkeit Jesu

Was Jesus nicht war, lässt sich leicht sagen. Er war kein Philosoph, der methodisch nachdenkt und seine Gedanken systematisch konstruiert. Er war kein Sozialreformer, der Pläne macht; denn er liess die Welt, wie sie war, sie ist ja ohnehin am Ende. Er war kein Politiker, der umwälzend und staatsgründend handeln will; nie sagte er ein Wort über die Zeitereignisse. Er hat keinen Kult gestiftet, denn er nahm am jüdischen Kultus in der jüdischen Gemeinschaft teil wie noch die Urgemeinde; er taufte nicht; er hat keine Organisation geschaffen, keine Gemeinde, keine Kirche begründet. Was war er denn?
Der Versuch, Jesus zu charakterisieren, kann drei Wege beschreiten. Man kann ihn psychologisch in seiner individuellen Realität sehen; oder ihn historisch in einem übergreifenden geistigen Zusammenhang wahrnehmen; oder ihn wesenhaft in seiner eigenen Idee erblicken.



(1) Mögliche psychologische Aspekte. Nietzsche hat im Antichrist Jesus als psychologischen Typus geschildert: Eine extreme Leid- und Reizfähigkeit hat in Jesus ihre letzten Consequenzen gezogen. Die Realität ist ihm unerträglich. Er will von ihr nicht berührt werd.en. Sie ist bloss eine Welt von Zeichen, sie hat nur die Bedeutung, Gleichnis zu sein. Daher lebt Jesus nicht mehr in der Realität, sondern in dieser Fülle der Zeichen, einem in Symbolen und Unfasslichkeiten schwebenden Sein.
Der natürliche Tod ist für ihn keine Realität, ist auch keine Brücke, kein Übergang. Auch er gehört zu der bloss scheinbaren, bloss zu Zeichen nützlichen Welt.
Unerträglich ist ihm jede Feindschaft, jedes Widerstreben, jede gegensätzliche Berührung seitens der Realität. Daher widersteht er nicht. Der Satz »widerstehe nicht dem Bösen!« ist für Nietzsche der Schlüssel zum Evangelium. Mit diesem Satz wird die Unfähigkeit zum Widerstand zur Moral erhoben. Jesus zürnt niemandem, er schätzt niemanden gering; er verteidigt nicht sein Recht, nimmt kein Gericht in Anspruch, lässt sich auch von keinem in Anspruch nehmen (Die Forderung: nicht schwören!), er fordert das Äusserste heraus und leidet dann noch mit denen, die ihm Böses tun, wehrt sich nicht, macht sie nicht verantwortlich, liebt sie.
Jesus verneint nichts. Es gibt für ihn keine Gegensätze mehr. Er verneint nicht den Staat, nicht den Krieg, nicht die Arbeit, nicht die Gesellschaft, nicht die Welt, garnichts. Das Verneinen ist ihm das ganz Unmögliche. Er kann nicht widersprechen. Er kann Mitgefühle haben und trauern über Blindheit derer, die nicht mit ihm im Licht stehen, aber er kann keinen Einwand machen.
Nur die innere Wirklichkeit ist eigentliche Wirklichkeit, sie heisst Leben, Wahrheit, Licht. Das Reich Gottes ist ein Zustand des Herzens. Es wird nicht erwartet, es ist überall da und nirgends da. Es ist diese Seligkeit der Lebenspraxis. Es beweist sich nicht durch Wunder, nicht durch Lohn und Verheissung, nicht durch die Schrift, sondern ist sich selbst sein Beweis, sein Wunder, sein Lohn. Seine Beweise sind innere Lichter, Lustgefühle, Selbstbejahung, lauter »Beweise der Kraft«. Das Problem ist, wie man, leben muss, um sich im Himmel zu fühlen, um sich ewig zu fühlen, sich jederzeit göttlich, als Kind Gottes zu fühlen. Die Seligkeit ist die einzige Realität. Der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden. Vorbedingung, um überhaupt reden zu können, ist, dass kein Wort wörtlich genommen werde. Die Seligkeit ist ein Glaube, der sich nicht formuliert und nicht formuliert werden kann.
Jesus ist kein Held, ist kein Genie, eher noch passt das Wort Idiot. Zwischen dem Bergprediger, der solche Lehren bringt, und dem Theologen und Priestertodfeind, dem Fanatiker des Angriffs, ist für Nietzsche ein unvereinbarer Widerspruch. Nietzsche legt daher alles, was in den Evangelien seinem Jesustypus nicht entspricht, der Erfindung der kämpfenden Urgemeinde zur Last, die einen kämpfenden Stifter als Vorbild braucht.
Aber Nietzsches Interpretation wird wohl niemanden ganz überzeugen. Denn es genügt nicht Jesus durch Franz von Assisi zu sehen. Dass aus orten des Evangeliums diese Linien herauszuheben sind, ist nicht zu leugnen. Aber dass sie für die entscheidenden, einzigen, wesenhaften gelten dürften, dagegen spricht die unbefangene Lektüre derTexte.
In ihnen begegnet Jesus als eine elementare Gewalt, in ihrer Härte und Aggressivität nicht minder deutlich als in jenen Zügen unendlicher Milde. Es heisst: er sah ringsherum im Zorn, — er fuhr ihn an, — er schalt ihn, — er bedrohte ihn. Einen Feigenbaum, an dem er vergeblich Früchte sucht, lässt ~ verdorren mit dem Fluch, nie mehr in Ewigkeit soll jemand von dir Frucht essen. Welche den Willen des himmlischen Vaters nicht tun, die wird Jesus beim Gericht verwerfen: ich habe euch nie gekannt; weichet von mir. Sie werden hinausgeworfen in die Finsternis, da wird sein Heulen und Zähneknirschen. Er droht: » Wer aber mich verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor meinem Vater in den Himmeln. Denkt nicht, dass ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich hin gekommen, zu entzweien einen Menschen mit seinem Vater, die Tochter mit ihrer Mutter”. Städte, die nicht Busse tun, schmäht er: »wehe dir, Chorazin, wehe dir, Bethsaida – Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen am Gerichtstag als euch. Und du Kapernaum, wardst du nicht zum Himmel erhöht? Bis zur Hölle solist du hinabgestossen werden«. Als Petrus den Worten Jesu, der Menschensohn werde viel leiden, getötet werden und auferstehen, widerstrebt, da schilt ihnJesus: »weiche hinter mich Satan, du denkst nicht, was Gott ansteht, sondern was den Menschen«. Gewaltsam, rmit der Peitsche, treibt Jesus die Händler aus dem Tempel. Es geht nicht an, aus Jesus eine duldende, weiche, liebende Gestalt zu machen, noch weniger einen nervösen, widerstandslosen Menschen.
Die eigentümliche Doppelheit von Sanftmut und kämpferischer Unbedingtheit ist in der Weise sichtbar, wie Jesus den Glauben fordert. Er kann sagen: »Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht« aber er kann fordern: sogleich, ohne Zögern-und ganz ihm zu folgen. Den Jüngling, der erst noch seinen Vater begraben will, herrscht er an: Lasse die Toten ihre Toten begraben und folge mir nach. Zornig gegen die Schriftgelehrten, dankt er Gott, dass er die Wahrheit verborgen habe vor Weisen und Verständigen und sie mit den Unmündigen geoffenbart. Und die Ungläubigen trifft der Fluch mit den Jesaiasworten: Mit dem Gehör sollt ihr hören und nicht verstehen. Denn es ward das Herz dieses Volkes verstockt.
Wir möchten wohl wissen, wie Jesus ausgesehen hat. In der slavischen Josephusübersetzung fand Eisler eine Schilderung:· Jesus batte dunkle Hautfarbe, war von kleinem Wuchs, drei Ellen hoch, bucklig, mit langem Gesicht, zusammengewachsenen Brauen, mit wenigem nach Art der Nasiräer gescheiteltem schütterem Haar und geringem Bart. Sein Aussehen konnte schrecken, er wirkte durch eine unsichtbare Kraft, durch ein Wort und einen Befehl. – Obgleich die Schilderung alt ist, ist sie als historischer Bericht sehr zweifelhaft. Sie gehört zu den in der Antike üblichen physiognomischen Erfindungen, wie sie in grossem Stil ein Bild Homers hervorbrachte. Die Frage ist, wer die Erfindung gemacht babe, wozu und mit welcher Tendenz. Es ist die früheste der vielen Physiognomien Jesus. Wo solche Erfindung mit der Wirklichkeit koinzidieren könnte, vermögen wir uns dem Eindruck kaum zu entziehen. Dahin gehören die Jesus-Bilder Rembrandts, die ihm aus Wahrnehmungen im Ghetto als Wesensanschauungen erwachsen, von wundersamer Tiefe, kraftvoll und mild, wissend und leidend. Sie zeigen ohne Grossartigkeit eine reine Seele.
Die Evangelien sind ein einziges Zeugnis von der ausserordentlichen persönlichen Wirkung Jesu. Wer mit ihm in Berührung kam, war bezaubert in Hingerissenheit oder Feindschaft. Seine Krankenheilungen (die Dämonenaustreibungen) sind nur ein beiläufiger Effekt »alle waren bestürzt und sagten: so haben wir noch nichts gesehen«. Die begegnenden Pharisäer waren betroffen. Der römische Hauptmann ist ergriffen. Jesu Rede überwältigte, er sprach, »wie einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten«.



(2) Historische Aspekte. – Jesus ist eine spätantike Erscheinung am Rande der hellenisch-römischen Welt. In einem Zeitalter heller Geschichte lebt er im Dunkel kaum bemerkt. In einer realistischen und rationalisierten Welt berechnender Macht kann er, garnicht berechnend, sich nicht einpassen. Er irrt sich in Bezug auf alle materiellen Realitäten und muss als Dasein scheitern.
Verglichen mit der archaischen jüdischen Prophetie, die ehern wirkt, ist er unerhört vertieft, vieldeutig und beweglich. Verglichen aber mit der ihm fremden hellenistisch-römischen Welt ist er ursprünglich, wie erster Anfang.
Man hat versucht, Jesus zu verstehen als den Fall einer der in seiner Zeit verbreiteten Typen religiös und politisch erregter Menschen und Gruppen. Man hat gesagt: er ist ein Vertreter der in Vorderasien allgemeinen apokalyptischen Bewegung; er steht den stillen, in Reinheit und Brüderlichkeit um das Heil besorgten Sekten, wie den Essenern nahe; er steht unter den Volksbewegungen, die im jüdischen Lande damals immer wieder den Messias, den König und Wiederhersteller des Judentums erwarteten; er gehört zu den Wanderpropheten, von denen Celsus berichtet, Leuten, die bettelnd, in Städten, Tempeln, Kriegslagern weissagen, sich für gottgesandt erklären vorgeben die andern zu reuen, und sie verwünschen, wenn sie sie nicht ehren; man hat die Lebensart in der Wüste wandernder Handwerker in ihm wiedergefunden, die in völliger Armut heiter und sorglos unter den Beduinen lebten, unbeteiligt an ihren Kämpfen Zuschauer sind, die nachher die Verwundeten beiderseits ärztlich versorgen, friedfertig, gewaltlos, nicht widerstehend, sich mitten unter Kämpfenden erfolgreich durchbringen.
Mit allen diesen aufgezählten Typen mag Jesus ein wenig zusammen treffen. Deren Leben und Denkweise gibt Kategorien her, unter denen irgendwo auch Jesu Dasein sich vollzog. Aber wer dies wahrnimmt, für den bricht die Wirklichkeit Jesu durch sie alle hindurch als ein Ereignis aus anderm Sinn und Ursprung, von ganz anderem Rang, Weiten und Tiefen offenbarend, die diesen Typen fremd waren. Alle, die als Messias auftraten, sind hingerichtet und vergessen; weil sie gescheitert waren, waren sic nicht mehr glaubwürdig. Alle die religiös erregten Typen verloren sich in Besonderheiten und Äusserlichkeiten. Dass auf Jesus von so vielen, untereinander heterogenen Typen ein Licht fallen kann, zeigt, dass er zu keinem gehört.
Man hat, vielleicht mit Recht, gesagt, dass Jesus in allen lehrbaren Inhalten garnicht neu sei. Er lebt im Wissen seiner Umwelt. Er bedient sich der überlieferten Gedanken und Formeln. In ihm kommt der jüdische Gottesgedanke zu einer seiner Formen. Er hat nie daran gedacht, sich von diesem jüdischen Glauben zu trennen. Vielmehr steht er in ihm wie die alten Propheten, in Opposition zu priesterlichen Verfestigungen. Er ist historisch der letzte der jüdischen Propheten. Daher bezieht er sich ausdrücklich und oft auf sie.
Schon die Umwelt bedingt einen Unterschied zwischen den alten Propheten und Jesus. Jene lebten in einem noch selbständigen Staat der Juden und erlebten dessen Untergang. Jesus lebt in der politisch abhängigen, seit Jahrhunderten stabilisierten jüdischen Theokratie. Er gehört in jene Zeit von fünfhundert Jahren zwischen der politischen Selbständigkeit und der endgültigen Diaspora nach der ZerstörungJerusalems, jenen Jahrhunderten, in denen viele der frömmsten Psalmen, der Hiob, der Koheleth entstanden sind. Die jüdische Theokratie hat Jesus ausgestoßen, wie früher das Tempelpriestertum der Königszeit es den Propheten gegenüber versuchte. Das Gesetzesjudentum der Diaspora, das mit dem Kanon die alten Propheten akzeptierte, konnte Jesus nicht mehr akzeptieren, denn er war inzwischen durch andere zum Mittelpunkt einer Weltreligion geworden.
Historisch ist der Gottesglaube Jesu eine der grossen Gestalten der biblischen jüdischen Religion. Der Gott Jesu, der Gott der Bibel, ist nicht mehr einer der orientalischen Götter, aus denen einst Jahwe stammte, der langsam das orientalisch grausame und opfersüchtige verlor in dem tiefen Opfergedanken der Propheten, die in Jesus ihr letztes Wort sprachen. Dieser Gott ist auch nicht eine der herrlichen mythischen Gestalten, die die Urmächte des Menschseins versinnlichen, dadurch steigern und führen, wie Athene, Apollo und all die anderen, sondern der Eine, Bildlose, Gestaltlose. Dieser Gott ist auch keine blosse universale Macht, nicht die Weltvernunft griechischer Philosophie, sondern wirkende Person. Er ist auch nicht das unergründliche Sein, mit dem der Mensch in Meditation zu mystischer Einigung kommt, sondern das schlechthin Andere, das geglaubt, aber nicht geschaut werden kann. Er ist die absolute Transzendenz, vorder Welt und Ausser der Welt, Schöpfer der Welt; im Verhältnis zur Welt und zum Menschen ist er Wille: »er gebietet, dann geschieht es; er befiehlt, dann steht es da.« In seinem Ratschluss unbegreiflich, ist er Gegenstand absoluten Vertrauens und Gehorsams. Er ist der Richter, vor dem der Mensch offen liegt bis in seine verborgensten Gedanken, und vor dem er Rechenschaft abzulegen hat. Er ist der Vater, der liebt und vergiebt, vor dem der Mensch sich als Gottes Kind weiss. Gott ist eifersüchtig und hart und zugleich voll Gnade u nd Erbarmen. Er herrscht von fern her, unnahbar fremd; er ist ganz nah, spricht und fordert im Herzen. Er ist der lebendige Gott, der persönlich ergreift, nicht wie das spekulativ gedachte Eine ungreifbar und stumm.
Es ist der Gott des Alten Testaments, an den Jesus glaubt, es ist die alte prophetische Religion, die Jesus verwirklicht. Jesus ist, wie Jeremias, der reine, durch keine Bande der Gesetzlichkeiten, der Riten, des Kultus mehr gefangene Jude, der doch all diese Formen nicht verwirft, sondern unter die Bedingung von Gottes gegenwärtigem Willen stellt. Jesus verwirklicht noch einmal den prophetischen Glauben, der durch die Jahrhunderte überliefert ihn trug und Menschen bis heu te zu tragen vermag.



(3) Die Wesensidee. — Jesu Leben in Gott bestimmt alles, was er sagt und tut. Sein Wesen scheint wie durchleuchtet von der Gottheit. In jedem Augenblick Gott nahe, gilt ihm nichts als Gott und Gottes Wille. Der Gottesgedanke steht unter keiner Bedingung, aber die Massstäbe, die von dort sprechen, stellen alles andere unter ihre Bedingung. Von dort her kommt das Wissen um das allbegründende Einfache.
Das Wesen dieses Glaubens ist die Freiheit. Denn in diesem Glauben, der von Gott spricht, wird die Seele weit im schlechthin Umgreifenden. Während sie Glück und Unglück dieser Welt sieht, erwacht sie zu sich selbst. Was nur endlich, was nur Welt ist, kann sie nicht gefangen halten. Aus der Hingabe in dem nicht mehr begreifenden Vertrauen erwächst ihr die unendliche Kraft: denn in der grössten Weichheit des unbefestigten Herzens, in der vernichtenden Erschütterung, kann ihr das Bewusstsein werden, sich von Gott geschenkt zu sein. Glaubt der Mensch, so wird er wirklich frei.
Solche Gottesgewissheit Jesu ermöglicht eine Haltung der Seele, die seit her unbegreiflich ist. Der Mensch bleibt in der Welt, nimmt als Zeitdasein an ihr teil, erschüttert, aber in der Betroffenheit an einem tiefen, nicht mehr welthaften Grunde unbetroffen. Er ist in der Welt über die Welt hinaus. In der Verlorenheit seines Daseins an die Welt ist er irgendwo, unbeweisbar, unfeststellbar, in der Aussage schon dies bezweifelnd, unabhängig von der Welt. Diese Unabhängigkeit in der totalen Welteinsenkung bewirkt die wundersame Unbefangenheit. Einerseits können die weltlichen Dinge nicht mehr zu endlichen Absolutheiten, die weltlichen Gehäuse des Wissens nicht mehr zum Totalwissen, die Regeln und Gesetze nicht mehr zu Verfestigungen des Errechenbaren führen. Die Lockungen scheitern an jener Freiheit aus der Gottesgewissheit. Andrerseits wird das Auge offen für alle Realitäten und besonders für die Seele der Menschen, die Tiefe ihres Herzens, die der Hellsicht Jesu nichts verbergen kann.
Wenn der Gottesgedanke, wie unfasslich auch immer, in die Seele gedrongen ist, dann ist jene Unruhe, Gott zu verlieren, und der unablässige Antrieb, das zu tun, was Gott nicht verschwinden lässt. Daher das Wort Jesu: Selig, die rein in Herzen sind, denn sie werden Gott schauen.
Aber nun geschah in Jesu etwas, was im Alten Testament nur in Ansätzen da ist (etwa im Opfer Isaacs durch Abraham). Der Ernst des Gottesgedankens hat bei Jesus zur Folge die vollkommene Radikalität. Der Gott, der für Jesus doch nicht leibhaftig da ist, nicht in Visionen und nicht in Stimmen, vermag alles in der Welt in Frage zu stellen. Es wird vor seinen Richterstuhl gebracht. Wie Jesus das aus seiner Gottesgewissbeit getan hat, ist erschreckend. Wer das bei den Synoptikern zu lesen vermag und dabei in ruhiger Verfassung bleibt, zufrieden mit seinem Dasein, eingesponnen in dessen Ordnung, ist blind. Jesus ist aus allen realen Ordnungen der Welt herausgetreten. Er sieht dass alle Ordnungen und Gewohnheiten pharisäisch wurden, er zeigt den Ursprung, von dem her ihre Einschmelzung erfolgt. Aller weltlichen Wirklichkeit wird endgültig, ohne Einschränkung, ihr Boden genommen. Schlechthin alle Ordnungen, die Bande der Pietät, der Satzungen der vernünftigen Sittengesetze brechen ein. Gegen den Anspruch, Gott zu folgen in das Gottesreich, sind alle anderen Aufgaben nichtig. Arbeit für den Unterhalt, Schwüre vor Gericht, Selbstbehauptung des Rechts, Eigentum, alles ist nichtig oder wird verworfen. Zu sterben durch die Mächte dieser Welt, in Leid, Verfolgung, Misshandlung, Entwürdigung zu Grunde gehen, ist das Gehörige für den, der glaubt. »Nirgends ist so revolutionär gesprochen worden, denn alles sonst Geltende ist als ein Gleichgültiges, nicht zu Achtendes gesetzt«(Hegel).
Weil Jesus im Äussersten der Welt steht, schlechthin die Ausnahme ist, wird die Chance alles dessen offenbar, was an Massstäben der Welt als verachtet, niedrig, krank, hässlich, als von den Ordnungen ausgestossen und auszuschliessen gilt, die Chance des Menschseins selbst unter allen Bedingungen. Er zeigt dorthin, wo dem Menschen in jeder Weise des Scheiterns das Zuhause offen ist.
Jesus ist durchgebrochen zu diesem Ort, von dem her nicht nur alles, was Welt ist, in den Schatten tritt, sondern der selber nichts als – im Gleichnis – Licht und Feuer, als Liebe und Gott ist. Dieser Ort, wie ein Ort in der Welt gefasst, ist in der Tat kein Ort. Jeder muss ihn an seinen Massstäben des Gehörigen in der Welt missverstehen. Von der Welt her gesehen, ist er Ausnahme und unmöglich.
Wenn aber, was hier Ursprung, Mitte, Bindung ist, sich in der Welt durch Jesus und sein Wort zeigt, so kann das nur indirekt geschehen. Es geschieht so, dass noch der Wahnsinn in der Welt zu befragen ist nach seiner möglichen Wahrheit. Es geschieht so, dass Erscheinung und Wort am Masse rationaler Wissbarkeit absolut widersprüchlich erscheinen. In Jesus liegt der Kampf, die Härte, die erbarmungslose Alternative und die unendliche Milde, Kampflosigkeit, Liebe, das Erbarmen mit aller Verlorenheit. Er ist der herausfordernde Kämpfer und der schweigende Dulder.
Die Radikalität der Gottesgewissheit gewann durch Jesus eine bis dahin unerhörte Steigerung durch die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes. Die Naherwartung war im Sinne des kosmischen Wissens ein Irrtum. Wenn aber die Wirklichkeit des Weltuntergangs ausbleibt, ist der Sinn des Grundgedankens nicht aufgehoben. Ob jetzt gleich oder nach sehr langen Zeiten: dies Ende wirft Licht und Schatten, stellt an alles und jedes seine Frage, ruft auf zur Entscheidung. Der Irrtum in Bezug auf das leibhaftig Gegenwärtige des Weltendes hat durch den Zwang dieser Leibhaftigkeit die Wahrheit an den Tag gebracht, dass der Mensch in der Tat vor dem Äussersten lebt, das er sich ständig verschleiert. Die Welt ist nicht das erste und letzte, der Mensch ist dem Tode verfallen, die Menschheit selber wird nicht endlos dauern. In dieser Situation ist das Entweder Oder: für Gott oder gegen Gort, gut oder böse. Jesus erinnert an das Äusserste.
Zur Wesensidee Jesu gehört das Leiden, das schrecklichste, uneingeschränkte, grenzenlose Leiden, das im grausamsten Tod vollendet wird. Jesu Leidenserfahrung ist die jüdische Leidenserfahrung. Jesu Wort am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« der Anfang des 22. Psalms spricht mit diesem Psalm das äusserste Leiden aus, nicht das Hinnehmen des Leidens in Geduld, sondern ein Aufschrei zu Gott, aber auch des Vertrauens im Leiden allein auf Gott, auf das, was vor aller und nach aller Welt ist.
In jenem Psalm spricht ein Mensch in höchster Bedrängnis: Ein Wurm bin ich, kein Mensch, verachtet, Gespött der Leute. Die Bösen umkreisen ihn. Sie sperren ihren Rachen wider ihn auf wie ein Löwe. “Wie Wasser bin ich hingegossen, alle meine Gebeine sind auseinander gegangen, mein Herz ist wie zu Wachs geworden, mein Gaumen ist ausgetrocknet”. Er wendet sich an Gott, denn »es gibt keinen Helfer«. Aber: »Mein Gott, rufe ich tagsüber, doch du antwortest nicht.« In dieser Stummheit und Stille, diesem Verlassensein in der Hilflosigkeit, erfolgt der Umschlag: »Und du bist doch der Heilige, auf dich vertrauten unsere Väter.« Er hat die Elenden, die zu ihm schrieen, gehört. Auch diesem Dichter des Psalms wird gewiss: »Jahwe ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, auch wenn ich in dunklem Tal wandern muss, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.«
Das Wesentliche dieser Weise des Leidens und der Geburt der Gottesgewissheit aus dem grenzenlosesten Leidensbewusstsein ist zunächst.: das restlose Sichaussetzen dem Leiden, der Mensch ein Wurm, nicht in der Behauptung seiner Würde und Unerschütterlichkeit, — dann des Bewusstseins des absoluten Alleinseins, vom Volke verlassen, nicht geborgen in einem nationalen oder anderen kollektiven Gedanken, – schliesslich das Bewusstsein der Gottverlassenheit. Es ist nicht möglich, das Leiden des Menschen weiter treiben zu lassen. Aus diesem äussersten Leid, und erst aus ihm folgt der Umschlag: der Aufschrei zu Gott ist möglich, das Sagen der Unerträglichkeit seines Stummseins, dann der Anruf: du bist doch der Heilige; und schliesslich statt des Volkes wenigstens die Väter: sie vertrauten ihm, und am Ende die Ruhe des Vertrauens zum unantastbaren Grund.
Diese Leidensfähigkeit und Leidenswahrhaftigkeit ist geschichtlich einzig. Das Schreckliche ist nicht gelassen hingenommen, nicht geduldig ertragen, nicht verschleiert. Auf der Wirklichkeit des Leidens wird bestanden, es wird ausgesprochen. Es wird erlitten bis zur Vernichtung, in welcher aus der Verlorenheit und Verlassenheit dieses Etwas gesehen, dieses Minimum des Bodens gespürt wird, das dann alles ist, die Gottheit. In der Stummheit, der Unsichtbarkeit, der Bildlosigkeit ist sie doch die einzige Wirklichkeit. Mit dem ganzen rückhaltlose Realismus der unverdeckten Schrecken dieses Daseins ist verbunden der Halt an dem ganz Unfasslichen.
Am Massstab eines heroischen und eines stoischen Ethos liegt in der Weise dieses zunächst haltlosen Preisgegebenseins, seines Aussprechens und in dem dann wie ein Wunder sich fühlbar machenden Halt keine Würde, vielmehr eine Schamlosigkeit. Aber jenes andere Ethos der Würde versagt entweder in der äussersten Realität oder versinkt in unbetroffener Starre. Dieses dagegen in seiner Wahrhaftigkeit ist dem Menschen bis in letzte vernichtende Erfahrungen möglich.
Jesus ist ein Gipfel dieses Leidenkönnens. Man muss jüdisches Wesen sehen in den Jahrhunderten, um Jesu Wesen zu erblicken. Aber Jesus hat nicht passiv erlitten. Er hat gehandelt, Leid und Tod provoziert. Sein Leid ist nicht zufälliges, sondern echtes Scheitern. Er setzt seine Unbedingtheit der Welt aus, die nur Bedingtheit zulässt, der Weltlichkeit der Kirche (damals in Gestalt der für die folgenden Kirchen prägend wirkenden jüdischen Theokratie). Seine Wirklichkeit ist das Symbol des Wagens von allem, der Erfüllung der Gottessendung: die Wahrheit zu sagen und wahr zu sein. Das ist der Mut der jüdischen Propheten: nicht im Spiegel des Ruhms grosser Taten, des Ruhms tapferen Todes für die Nachwelt, sondern allein vor Gott. lm Kreuz wird die Grundwirklichkeit des Ewigen in der Zeit angeschaut. Jesu Tod ist Symbol geworden für die jederzeit gegenwärtige Wirklichkeit. In dieser vorgebildeten Gestalt, im Kreuz, geschieht die Vergewisserung des Eigentlichen im Scheitern alles dessen, was Welt ist.
Die jüdische Leidenserfahrung ist ein Moment der alttestamentlichen biblischen Religion und diese ist der Kern aller christlichen, jüdischen, islamischen Religionen in der Fülle ihrer historischen Kleider, ihrer Verkehrungen und Abgleitungen, so dass keine sagen kann, sie sei im Besitz der wahren biblischen Religion, die doch alles trägt. Von dieser biblischen Religion ist ohne gefährlichen Anspruch nicht geradezu zu reden. Vielleicht aber darf man sagen: Nicht Christus, diese Schöpfung der Urgemeinde und des Paulus, ist der biblischen Religion gemeinsam, sowenig wie das jüdische Gesetz, wie der nationale Charakter der jüdischen und vieler protestantischer Religionen. Gemeinsam ist der Gottesgedanke und das Kreuz. In Jesus ist die letzte Gestalt der jüdischen Idee des leidenden Gottesknechts wirksam.


Bron:

Jaspers, Karl, Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie. Herausgegeben von Hans Saner, München Zürich 1996, (Piper), p. 318-327