In der Ausstellung Maria durch ein Domwald ging (2008) war ein Gemälde mit dem Titel Pietà (2007) zu sehen. Sie sind darauf nackt auf dem Boden liegend in einem Gestrüpp von Dornen zu sehen. Dieses Werk wird durch einen Glaskasten mit einem Bleirahmenin eine Distanz gerückt
Fast wie ein gläserner Sarkophag, wie bei Schneewittchen. Die Zwerge tragen Schneewittchen in einem gläsernen Sarg, sie stolpern, der Apfel fallt Schneewittchen aus dem Mund, und sie wacht wieder auf.
An diesem Gemälde hat mich überrascht, dass man als Betrachter eine starke Aufsicht hat. Es ist der Blick hinab in eine finstere Schlucht voller Dornen, in der Sie liegen. Der Titel Pietà ruft die Erinnerung an Jesu Kreuzesabnahme wach.

Die Dornen spielen auf die Dornenkrone an, aber sie schaffen auch Distanz. Sie halten den Betrachter eigentlich auf Distanz.
Das Dornengestrüpp ist auch ein Schutz?
Sicher. Die Dornen habe ich aus Marokko importiert. Bei uns gibt es soIche Domen gar nicht. Die Nordafrikaner benutzen Dornen-Wälle, um ihre Kulturen vor Ziegen zu schützen, die alles fressen ausser diesen Dornen. Die Dornen spielen auch auf das Lied Maria durch ein Dornwald ging an. Alle sieben Jahre blühte der Dornwald wieder, so heisst es in dem Lied. Das ist wie der Fliegende Holländer, der alle sieben Jahre wiederauftaucht.
»Maria durch ein Domwald ging, / der hat in siebn Jahr’n kein Laub getrag’n!«: Mit dem Erblühen des Dornwalds steht der Raum Palmsonntag (2006) in einer inneren Verbindung. Beim Betrachten der Bilder in diesem Raum hatte ich den Eindruck, dass das Ende der Zweige wie ein Skelett aussieht, wie das Rückgrat eines Menschen oder das Skelett eines Fisches.
Durch die abgehenden Sporne kriegt der Palmzweig die Struktur eines Skeletts, einer Wirbelsäule. Die Palmwedel sind an sich Zeichen für Königtum, für Sieg und Fest. Ich habe sie in Gips getaucht. Sie sind verkrustifiziert, sie sind zu Skulpturen geworden.
Und analog dazu – wie beim Sternenfall – gibt es eine Palme, die umgefallen ist.
Diese Palme verkehrt die Bedeutung des Sieges ins Gegenteil, in ein Unglück oder einen Misserfolg.
Gleichzeitig ist in Ihren Palmsonntag-Gemälden, die Form eines Durchbruchs zu spüren, eines Durchbruchs durch eine verfestigte, erstarrte Materie, besonders in den Öffnungen der rotgetönten Struktur.
Manchmal ist das Rot so rot wie ein Vulkan. Die Palme, so wie ich sie benutzt habe, ist durchaus widersprüchlich zu verstehen. Sie ist einerseits durchaus das Symbol für Königtum und Sieg. Andererseits deutet sie aber auch, wenn man an die christliche Mythologie denkt, auf den Tag vor der Niederlage hin, vor der Kreuzigung, vor der Karwoche: Der Palmsonntag ist der Sonntag vor der Karwoche. pag. 32-33

Die Religionssoziologen Peter Berger und Thomas Luckmann haben in ihren Studien dargelegt, dass die mythologische Struktur eine tiefe Sehnsucht im Menschen bedient, nämlich die der Komplexitätsreduktion. Denn die Setzung der mythologischen Struktur ist absolut.
Es ist eine Vereinfachung, aber ich würde nicht sagen, dass ein mythologisches Bild einfacher ist. Das Bild ist einfacher, aber das, was dahintersteht, ist komplexer als die wissenschaftliche Erkenntnis. Der schwierige Punkt ist nun, dass ein Dogma im Grunde genommen unmöglich ist. Van der Definition her unmöglich, weil man mit Worten nichts für immer festlegen kann. Denn die Sprache ändert sich, schon in zehn Jahren verändert sich die Sprache. Ein Dogma ist also etwas Unmögliches, und diese Unmöglichkeit hat mich vom künstlerischen Aspekt her immer interessiert. Im 19. Jahrhundert zu behaupten, Maria war Jungfrau, als sie empfangen hat, können wir heute gerade noch verstehen, aber dass Maria auch nach der Geburt noch Jungfrau war, ist eine Ungeheuerlichkeit, eine Verrücktheit. Der Gebrauch der Verrücktheit war jedoch nicht als Verrücktheit gedacht, sondern diente dazu, den Menschen eine Illusion zu verschaffen: »Maria, breit den Mantel aus, mach Schirm und Schutz daraus, lass uns darüber sicher stehen, bis alle Stürm vorübergehen« und so weiter. Das ist einfach das Bedürfnis nach Illusion. Nach Geborgenheit und Sicherheit. Jede Sicherheit ist eine Illusion. Als Kind nimmt man dieses Bedürfnis an. Mein Interesse an Maria ist nun kein kindliches mehr. Mein Interesse ist das Künstlerische, das Verrückte in der Behauptung.
Ein Künstler behauptet etwas, die Mythologie behauptet etwas, ohne es beweisen zu können. Ich beschäftige mich mit dem, was ich habe. Ich beschäftige mich mit dem, was ich bin. Ich bin ein Mensch, dem die Gottesmutter Maria erschienen ist. Sie ist mir als Nazarenerfigur erschienen. Ich glaube, ich war sechs oder sieben Jahre alt, vielleicht auch schon acht.
Haben Sie unmittelbar vor der Erscheinung gebetet?
Nein, Maria erschien mir eines Morgens. Es war nicht im Traum, ich war schon wach. Die Erscheinung ereignete sich in dem Zimmer, in dem ich schlief. Ich kann Ihnen genau sagen, wie Maria gekleidet war. Sie hatte ein helles, beiges, blaues Kleid an. Es glich exakt der Erscheinung eines Präraffaeliten oder Nazarener-Bildes. Kitsch würde ich heute dazu sagen. Maria hat nicht zu mir gesprochen, sie hat gelächelt. Ich kann mich noch erinnern, dass ihr Mund sich bewegt hat. Marienerscheinungen sind oft mit der Aufforderung verbunden, eine Kirche zu bauen. Als Maria mir erschien, gab es keine Aufforderung und auch keinen Befehl. Ich wusste als Kind nichts von der Marienerscheinung in Lourdes, hatte weder etwas davon gelesen noch gehört. Vor kurzem habe ich meine Mitarbeiterin gebeten, die Geschichte der Marien-Dogmen zu recherchieren, da ich mich nicht mehr genau erinnern konnte, wann weIches Dogma erlassen wurde. Es sind nur fünf Dogmen von der katholische Kirche verkündet worden, aber es gibt eine grosse Anzahl behaupteter Marienerscheinungen. Die sind natürlich ein psychologisches Phänomen.
Bei den Marienerscheinungen gibt es stets eine strukturelle Ähnlichkeit. Meistens sind sie mit Weissagung verbunden. Als die Gottesmutter Maria den drei Hirtenkindern Lucia dos Santos, Jacinta und Francisco Marto am 13. Mai 1917 in Fatima erschien, sagte sie ihnen die Bekehrung Russlands voraus. Durch eine Marienerscheinung wird immer auch ein Prozess der Heilung in Gang gesetzt. Hatte Maria in Ihrer Erscheinung einen Sternenkranz?
Nein, es war ein Leuchten um ihr Haupt, aber sie hatte keinen Sternenkranz. Das wäre das direkte Abbild einer Darstellung gewesen, denn Maria wird oft mit Sternen dargestellt.
Hat Sie Mariens Anbindung an den Kosmos interessiert? Maria wird durch den Sternenkranz ins Universum gesetzt. In der Lauretanischen Litanei wird sie stella matutina genannt, der Morgenstern. Und im Stundengebet der katholischen Kirche wird sie als stella maris bezeichnet, nach dem Marien-Hymnus Ave maris stella aus dem achten oder neunten Jahrhundert.
Maria steht auch auf dem Mond. Die Einbindung in den Kosmos ist natürlich interessant, sie ist auch bei lsis schon vorhanden, die mit Osiris den Sohn Horus zeugt. Bei Maria tritt eine Unterbrechung in Kraft. Das Zeitalter, das bis dahin gewirkt hat, wird abgeschlossen, und ein neues beginnt. Zum ersten Mal wird dadurch die Erbsünde überwunden. Darin ist ein utopisches Potenzial enthalten. Die Erbsünde war nötig, weil man in der christlichen Theologie die Übel der Welt nicht erklären konnte. Das war unmöglich. In der jüdischen Mystik wird die Welt anders erklärt. Natürlich konnte die Jungfrau Maria, die Gott gebiert, nicht die Erbsünde haben. Das war eine Ausserkraftsetzung der Theodizee, der Erklärung der Welt.
Die Frage der Theodizee lautet; Wenn Gott gut und allmächtig ist, woher kommt dann das Leid in der Welt?
Das ist die Frage überhaupt: die Linie von Adam bis zu Christus, der diese Linie überwindet – von der Geburt in der Erbsünde bis zu ihrer Überwindung. Es ist eigentlich eine doppelte Unterbrechung, denn die alttestamentliche Theologie ist eine abstrakte: Ich bin, der ich bin.
Oder wie es in einer anderen Übersetzung heisst: Ich bin, der ich sein werde. Die Übersetzung mit der in die Zukunft weisenden Dimension hat mich immer stärker angesprochen und berührt.
Diese Übersetzung ist jedoch weniger radikal. Denn »Ich bin, der ich bin« ist eine zynische Antwort. Jemand fragt, wer bist du, und erhält die Antwort: »Ich bin, der ich bin.« Das ist absoluter Zynismus. Eine Selbstherrlichkeit, ein Zynismus, der die Menschen gegen eine Wand laufen lässt. Und gleichzeitig ist dies hoch interessant, weil daher das Bilderverbot kommt. Es hat mich immer sehr beschäftigt, gerade dagegen zu arbeiten, mit diesem Verbot zu arbeiten, in dieser Abstraktion zu arbeiten. Die Herabkunft des Gottessohnes ist eine Verkörperlichung, die es davor nicht gegeben hat. Und auch in der Eucharistie – hoc est enim corpus meum – ist es eine absolute Verkörperlichung.
Durch die Transsubstantiation werden Brot und Wein zu Leib und Blut Jesu Christi. In der Eucharistie wird ein anderer Körper geschaffen. Die Frage, wie eine Materie in einen anderen Seinszustand übergeht, spielt auch in Ihrem Werk eine zentrale Rolle.
Ja, die Verwandlung. Maria wurde ab dem fünften Jahrhundert oder noch später in die Theologie eingeführt. Man hat gemerkt, dass man noch etwas anderes braucht. Das Ganze wurde sehr vermenschlicht, vor allem in der Volksfrömmigkeit.
Maria wurde anfänglich als eine sehr sinnliche Frau dargestellt, mit vollem Busen und gelösten haar. Ab den 19. Jahrhundert setzt in den Darstellungen der Gottesmutter ein Prozess der Entsexualisierung ein. Um auf einen anderen Themenkomplex zu sprechen zu kommen: Maria überwindet das Gesetz der Welt, setzt es ausser Kraft. Sie stellt sich gegen die Herrschaft der Mächtigen und nimmt sich der Armen und Sünder an. So heisst es im Magnificat: »Hoch preist meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heilande. Denn er hat niedergeschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd. Denn siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter. (…) Gewaltige hat er vom Throne gestürzt und Niedrige erhöht. Hungrige hat er erfüllt mit Gütern und Reiche leer davon geschickt. «
Maria ist auch interessant in Bezug auf die Wanderung zwischen zwei Welten. Durch die Verkündigung gehört sie einer anderen Welt an. Es gibt viele Geschichten über Maria, eine davon lautet, dass sie mit Leib und Seele in den Himmel aufsteigt und nach drei Tagen wieder heruntersteigt: ihre Herabkunft. Ich habe ein Bild über den Aufstieg und eines über den Abstieg gemacht. Der Wiederabstieg von Maria ist sehr interessant.
Es gibt wunderbare Zeichnungen von Tiepolo, auf denen Maria beim Wiederabstieg in Begleitung der drei ersten Ordnungen der Engel zu sehen ist, der Seraphim, Cherubim und der Throne. Diese drei Engel begleiten sie bei ihrem Abstieg zu den Menschen – dieser Wandel, diese Grenzwanderung von oben nach unten.
Mariens Wanderung zwischen den Welten ist vom Licht durchdrungen. Maria wird als eine Lichtfigur oder als ein Lichtmensch gesehen, der ins finstere Erdental Licht bringt.
Ja, Maria bringt das Licht – im Gegensatz zur Gnosis, die das Licht aus der Erde herausnimmt, um die Erde endlich ihrem eigenen Dunkel und Sumpf zu überlassen. Die Manichäer vertreten vor allem diese Idee.
Dem Herabsteigen von Maria folgt kein endgültiger Aufenthalt auf Erden, es folgt danach wieder ihr Emporsteigen zum Himmel. Maria steigt mit der geretteten Menschheit empor.
Ich sehe Maria immer auf- und absteigen, ich sehe sie immer auf einer Wanderung um die Grenze herum. Maria steigt hinauf, sie steigt herab. Sie durchleidet alles, was man auf der Erde durchleiden kann. Als Hilfsgöttin steigt sie mit der erlösten Menschheit wieder hinauf. Bei Maria ist es ein ständiger Auf und Abstieg.

Bis die endgültige Erlösung einsetzt.
Im Christentum hört die Geschichte irgendwann auf, es kommt einfach zur Eschatologie, zur Endgeschichte. Ich empfinde nicht, dass es ein Ende der Geschichte gibt. Ich glaube, dass es immer auf und ab geht, es ist ein ständiger Kreislauf. Ich habe den Kreislauf vom Auf- und Absteigen zum ersten Mal bei Tiepolo gefunden, in den im Louvre aufbewahrten Zeichnungen, es sind wunderbare Zeichnungen. Ich fand es phantastisch, dass Maria aufsteigt und wieder absteigt, sie bleibt nicht im Himmel, sondern geht wieder auf die Erde hinab. Ich sehe darin einen Rhythmus, wenn man so will, einen kosmischen Rhythmus. Ich glaube nicht an einen endgültigen Aufstieg, ich glaube nicht an das Ende der Geschichte.
Das ist ein Geschichtsbild, wie es der Philosoph Giambattista Vico entwickelt hat, die corsi und ricorsi wechseln sich ab und schreiten voran.
Ich glaube nicht an ein Voranschreiten. Ich glaube, dass es einfach immer weitergeht. Wir sind nicht die letzte Erfindung oder die letzte Entwicklung, die die Welt sehen wird. Wenn es eine Katastrophe gibt – und irgendwann wird es eine Katastrophe geben, das ist vorhersehbar -, werden wir nicht mehr sein. Es wird dann eine neue Evolution mit irgendweIchen Bakterien in Grönland im 3000 Meter dicken Eis geben.
Eine Evolution mit einer höheren Intelligenz als die der Menschen?
Das glaube ich nicht. Die Evolution fängt vielleicht wieder von vorne an. Ich kann nicht sagen, wo die Intelligenz bleiben wird. Die Intelligenz ist nichts, was an einen Ort gebunden ist. Sie ist nicht nur in unseren Köpfen, sie ist allgemein. Sie ist in jedem Gen-Partikel, in jeder Zelle. Es gibt ein Feld von Intelligenz, das weiss, was überall geschieht.
Diese Intelligenz hat keine teleologische Dimension?
Ich würde dazu nicht teleologisch sagen, sondern sie ist etwas, das alles mit allem verbindet. Sie ist überall vorhanden, insofern kommt sie sehr nahe an eine Theologie heran, ist aber keine. Ich kann nicht sagen, was sie ist. Ich kann nur sagen, dass alles miteinander verbunden ist. Ich fühle mich mit Menschen verbunden, die schon viel früher gelebt haben. Ich fühle mich mit Gedanken von Ingeborg Bachmann oder mit Gedanken von anderen Menschen verbunden, die noch früher gelebt haben. Das ist eine Verbindung, die nicht geistig, aber auch nicht rein materiell ist, eine Verbindung, die man schwer bestimmen kann, aber dass es sie gibt, fühle ich.

Wás bedeutet für Sie der Name Maria?
Maria ist für mich wie ein Land, in dem ich aufgewachsen bin, wie ein Land, das ich einmal besucht habe, in das ich einmal gereist bin. Es ist für mich eine Erinnerung, die ich aufsuchen kann. Ich habe Bilder und Empfindungen auf allen sinnlichen Ebenen, was die Fruchtbarkeit und die Kreativität betrifft und auch was den Kreislauf im Jahr betrifft. Ich weiss nicht, ob es heute noch Maienandachten gibt. Sie werden im Frühling abgehalten, wo wieder alles neu anfängt und später wieder stirbt. Der gesamte kosmische Prozess ist in dieser Erinnerung enthalten.
Das Ave Maria ist zwischen Geburt und Tod eingespannt. Es heisst Gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes( .. )«, und am Ende wird gebetet: »Bitte far uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen«. In diesem Gebet sind die beiden Pole des menschlichen Lebens benannt.
Geburt und Tod, Sünde und Rettung und Fürbitte.
Die Sünde hat in Ihrem zyklyschen Denken keine Funktion. Sie hat nur in einem eschatologischen Denken einen Sinn?
Ja, später als Redemption. Die Sünde hat für mich keinen Sinn. Die Sünde ist der Grund, warum ich die katholische Kirche ablehne. Das Drohen mit der Sünde, das Drohen mit der Verdammnis, das Drohen mit der Hölle und dem Zähneknirschen war bei mir als Kind vorherrschend, heute vielleicht nicht mehr. Das war oder ist noch immer, das kann ich nicht beurteilen, eine Perversion der christlichen Religion. Sünde ist für mich ein sehr schwieriges Wort, weil es Sofort Schuld impliziert.
In der Ostermette wird von einer felix culpa gesprochen, von der glücklichen Schuld, die einen soIchen Erlöser gefunden hat. Ist Ihnen der Zugang zu einer glücklichen Schuld verschlossen geblieben?
In meiner Kindheit habe ich die katholische Religion als eine absolute Bedrohung erlebt, als eine Androhung und Bedrohung.
Der Vernichtung?
Ja, der Vernichtung und der ewigen Hölle. Die gesamte Theorie der Schuld ist sehr schwer fassbar. Bei einer Schuld oder einem Vergehen kommen sehr viele Momente zusammen. Die gesamte Vita entscheidet, wie jemand aufgewachsen ist und so weiter, das ist unheimlich kompliziert. Das weiss ich noch von meinem Rechtsstudium, denn wir waren oft bei Gerichtsverhandlungen anwesend. Der Schuldbegriff ist sehr komplex. Judas müsste an sich heiliggesprochen werden, denn er hat die gesamte Heilsgeschichte vorangebracht (lacht). Ohne Judas’ Verrat gäbe es Golgota und die Erlösung nicht. Judas ist vernichtet worden.
Er hat sich erhängt.
Er hat sich erhängt, und wer sich erhängt, kommt gleich in die Hölle. Die Selbstmörder wurden früher nicht einmal auf dem Friedhof begraben.
Diese Verdammung der Selbstmörder kenn ich. Der russische Filmregisseur Alexander Sokurow sagte einmal, Gott liebe besonders die Selbstmörder.
Das ist eine andere Meinung, nicht die offizielle Theologie. Der Selbstmord ist natürlich eine Ohrfeige für die katholische Lehre. Pag 122-130
Bron: Kiefer, Anselm, die Kunst geht knapp nicht unter. Anselm Kiefer im Gespräch mit Klaus Dermutz, Berlin 2010, (Suhrkamp)