Muziek en natuur

Aus der Tiefe der Erde. Musik und Natur
Toshio Hosokawa

in B. Labs-Ehlert (Hrsg), Das Künftige hat ein Morgen. Texte zur VII. Literaturbegegnung, Detmold 1998, pp. 117-120

Mein Interesse ist: Wie höre ich die Klänge der Natur? Die Frage weist auf meine Beziehung zur Natur hin. Sie scheint eine andere zu sein als zum Beispiel die Haltung, mit der Beethoven, ergriffen von der Natur, seine Pastorale schrieb oder Messiaen Vogelstimmen in Noten setzte und die Musik zur Vollendung brachte.
Wie man Töne hört, weist sehr deutlich auf das Leitbild der Kultur eines Volks hin und weiter auf die Art und Weise der Beziehung dieses Volks zur Natur. Selbst wenn es die gleichen Töne sind, werden sie von jedem Volk anders rezipiert. Ich frage, wie diese Rezeption beschaffen ist. Und wie kann ich sie weiter entwickeln? Ich finde, daß es die Rolle des Komponisten ist, in einer engen Beziehung zur Natur über Konventionen hinaus eine Entwicklung dieser Rezeption zu bewirken.
Bisher habe ich in einigen Vorträgen über meine Musikanschauung, über die Art und Weise, wie ich Klänge höre und wie ich die Musik begreife, im Zusammenhang mit Haikus von Bashö gesprochen. Auch diesmal möchte ich wieder als Beispiel ein Gedicht bringen, in dem Bashö über den Klang gesprochen hat.

Shizukasa ya
iwa ni shimiiru
semi no koe

Stille –
tief in den Felsen dringt
das Sirren der Zikaden

ln diesem berühmten Gedicht werden die Laute der Zikaden als bezeichnet. Bekanntlich ist das Sirren der Zikaden etwas sehr Lautes und eigentlich kein Klang, den man als äußerste Stille empfindet.
Jedes Jahr veranstalte ich in Akiyoshidai in der Präfektur Yamaguchi das Internationale Akiyoshidai-Seminar mit Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. So gibt es jeden Sommer Ende August in dem von Natur umgebenen Ort Akiyoshidai das Seminar und Konzerte im Austausch mit vielen Gästen aus dem Ausland. Was die
Gäste aus Übersee aber jedesmal zuallererst bemerken, wenn sie Akiyoshidai betreten, ist die Klangfülle von verschiedenen Zikadenarten draußen in der Natur. Bei einer besonders seltenen japanischen Zikadenart wie der Tsukutsukubôshi fragte ein Teilnehmer aus Frankreich, der diesen Sommer gekommen war: und sagte weiter: , um ihn aus einer anderen Dimension zu betrachten. Der Klang der Welt, der über die Erde schallt, befindet sich im innern der großen Stille.

Ich kann mich von meiner Jugendzeit her an den weithin schallenden Klang der Zikaden erinnern. Unter blauem Himmel, wenn die Sonne im Hochsommer fast schmerzhaft brennt, ertönen die Zikadenstimmen.
Ich selbst, klein, mit einem Strohhut als Kopfbedeckung, werde von der hochsommerlichen Sonne beschienen und werfe einen dunklen Schatten auf den Erdboden. Wenn ich eine solche Landschaft in das Wort hineinzulegen versuche, lassen die Stimmen der Zikaden den mythischen, tiefen Klang noch stärker empfinden.
Vermutlich komponiere ich, indem ich nach einem solchen suche und nach .
Als Beispiel gebe ich noch ein weiteres Gedicht von Bashö:

Yagate shinu
keshiki wa mienu
semi no koe

Bald werden sie sterben
ohne die Landschaft zu sehen
‘Stimmen der Zikaden

Hier wird durch die Zikadenstimmen auf die Welt nach dem Tod, die Welt der Dunkelheit angespielt. Es wird eine Welt angedeutet, die das Sehvermögen übersteigt, das heißt, die Landschaft ist nicht zu sehen, eine Welt am Ende der Zeit, das heißt, baldiges Sterben.
Nicht diese Welt wird durch den Klang, das heißt, das Sirren der Zikaden, angedeutet, sondern die jenseitige Welt, eine Welt, in der die Grenzlinie von Diesseits und Jenseits verschwindet. Natürlich sind meine Kenntnisse der japanischen Literatur nicht vollkommen, und zu meiner eigenwilligen Interpretation gibt es sicher Einwände von seiten der Spezialisten. Nur lese ich die Gedichte von Bashö auf diese Weise. ln Bashös Werk gibt es viele Gedichte, die ich durch mein Komponieren in der Musik verwirklichen möchte.

ln meiner Musik möchte ich in erster Linie gehaltvolle, das heißt tiefe, gute Töne hören. Wenn ich tiefe, gute Töne sage, ist das eine ganz undeutliche Redewendung, aber beim Erleben dieser Töne können wir akustische Erfahrungen machen, wie sie nicht alle Tage möglich sind. Diese Töne von universeller Tiefe besitzen einen Klang, der das Alltägliche übersteigt und noch weiter reicht. Solche Klänge möchte ich hören. Ich wünsche mir, daß ich das Zeiterlebnis einer Musik, die solche Töne besessen hat, für mich gewinnen kann.
Bashö hat den Klang der Zikaden durch das Wort aufgenommen, das vielleicht wie ein Gegenpol zu den wirklichen Stimmen der Zikaden existiert. Und dann dringt dieser Klang tief in den Erdboden ein. Die Stimmen der Zikaden als Muster der Weit dringen in den Erdboden als Hintergrund, als Gewebe der Weit ein. Dann ertönt das ganze Universum. Mit den Zikadenstimmen, die hier als ein Muster der Weit vorgebracht werden, und durch den Ausdruck , als Hintergrund und als Gewebe der Welt, verlöscht die Grenzlinie zwischen Muster und Gewebe.
ln einem weiteren Gedicht weist uns Bashö noch auf ein anderes Land als Ziel einer entfernteren Weit hin, wobei er den Klang der Natur, die Zikadenstimmen, für diese andere Weit sprechen läßt. ln Bashös Weit werden die Töne als etwas äußerst vieldeutig Existierendes aufgefaßt. Sie sind Klang und Schweigen. Erklingend sind sie von einer tiefen Stille. Sie sind das Muster der Weit, aber auch das Gewebe. Wie es heißt, sind Töne der Klang dieser Weit und außerdem auch der Klang der jenseitigen Weit.