Das Wesen der Gnade *
Es gibt viele Wege, auf denen man eine Losbindung van der Erde, einen Aufschwung und eine Erhöhung über die blinde Lebenserhaltung erreichen kann. Es gibt aber nur die Gnade, deren Entbindung van der Erde kein Abreißen der Beziehung zu den urgründigen Lebenskräften bedeutet, sondern einen sinnlosen Sprung, einen selbstlosen Auftrieb, in dem der naive Reiz und der untergründige Rhythmus des Lebens ihre heilsame Frische bewahren. Jede Gnade ist Aufflug, emporhebender Freudentaumel.
Die anmutigen Bewegungen mit ihrem Schlängeln erwecken den Eindruck des Schwebens über der Welt, des leichten und immateriellen Fluges. Ihre Spontaneität gleicht der Leichtigkeit des Flügelschlages, der Natürlichkeit eines Lächelns und der Lauterkeit eines Frühlingstraumes. Hat die Anmut nicht im Tanz ihre lebendigste Verwirklichung gefunden? Im anmutigen Lebensgefühl wird sie als unkörperliche Spannung empfunden, wie ein reiner Strom van Lebenskraft, der niemals über die jedem graziösen Rhythmus innewohnende Harmonie hinausgeht. In jeder Gnade liegt ein Lebenstraum, ein selbstloses Spiel, eine Ausweitung, welche ihre Grenzen in sich selbst, nicht in der Außenwelt findet. Deshalb vermittelt die Gnade die labende Illusion der Freiheit, der spontanen und unmittelbaren Loslösung, eines unbefleckten Traums, der im Sonnenschein gedeiht. Die Verzweiflung stellt einen Paroxysmus der Individuation dar, eine schmerzende und eigentümliche Verinnerlichung auf den Höhen, ein Alleinsein des Menschen in der Welt. Alle Zustande, welche aus dem Abbruch der normalen Beziehung zum Leben erwachsen und dich zu den Hohen individueller Einsamkeit emporführen, verstärken den Individuationsprozess und treiben ihn zum Paroxysmus. Des Menschen Gnade führt nicht zum Paroxysmus der Individuation, sondern zum harmonischen Fühlen naiver Erfüllung, wobei das Wesen niemals vom Gefühl der Einsamkeit und der Verlassenheit befallen wird. Die Gnade lehnt die Einsamkeit auch formal ab, weil die Schlangenbewegungen, durch welche sie sich objektiviert, eine Empfänglichkeit fürs Leben zum Ausdruck bringen, einen aufgeschlossenen Elan, nach den Lockungen und dem Pittoresken des Daseins dürstend. Die Gnade stellt einen Zustand der Illusion dar, in dem das Leben seine Antinomien und seine dämonische Dialektik verneint und transzendiert, in dem die Widersprüche, das Irreparable, die Fatalität und das Unheilbare vorübergehend in einer Art sublimierten Lebens verströmen. Es gibt viel Sublimation in der Gnade, viel luftige Lauterkeit, welche aber niemals die tiefen Läuterungen auf den Höhen erreichen, wo das Erhabene verwirklicht wird. Die alltäglichen Erfahrungen und die gemeinen Formen des Erlebens führen das Leben nie bis hinauf zum absoluten Wahnsinn von paroxystischer Spannung oder zum inneren Wirbel, wie sie auch keine Entledigung von der Last, keine zeitweilige Überwindung der Schwerkraft bewirken, die bisweilen ein Symbol des Todes sein konnte. Die Gnade ist eine Erlösung von der Bürde, eine Entbindung vom Druck der unterirdischen Anziehungskräfte, ein Entrinnen aus den bestialischen Klauen dämonischer Urtriebe und den negativen Neigungen des Lebens. Die Transzendierung der Negativität ist ein Wesensmerkmal des anmutigen Lebensgefühls. Es ist nicht verwunderlich, dass in einem derartigen Gefühl das Leben strahlender, lichtdurchfluteter und glanzumwobener erscheint. Denn indem das Leben Negativität und Dämonik durch Harmonie der Formen und wogende Leichtigkeit überwindet, erreicht es eine wohltuende Harmonie eher als auf den verschlungenen Pfaden des Glaubens, wo sie sich erst nach komplexen Widersprüchen und Aufwallungen ergibt. Wie verschieden die Welt doch ist, wenn man bedenkt, dass neben der Gnade eine immerwährende Angst hervorbrechen kann, die manchen bis zur Erschöpfung peinigt. Wer die Angst vor allem, die Furcht vor der Welt, die universale Bangigkeit, die absolute Unruhe, die Qual eines jeden Augenblicks des Lebens nicht erfahren hat, wird niemals verstehen, was das Zappeln der Materie, die Raserei des Fleisches und der Todeswahnsinn bedeuten. Wen anmutiges Lebensgefühl durchdringt, kann die Pein höchster Unruhe, die nur einem krankhaften Grunde entspringt, nicht gewahren und nicht begreifen. Alles Tiefe kann in dieser Welt nur dem Siechtum entsprießen. Was nicht dem Siechtum entspringt, hat nur ästhetischen, formalen Wert. Dahinsiechen bedeutet, ob man will oder nicht, auf Höhen leben. Aber die Höhen deuten nicht unbedingt auf Gipfel hin, sondern auch auf Schluchten und Abgrunde. Auf den Höhen der Verzweiflung leben heißt, sich in den furchtbarsten Abgründen walzen. Es gibt nur abgründige Höhen, denn von den wahren kann man jederzeit abstürzen. Und nur durch solche Stürze erreicht man die Höhen. Die Gnade stellt einen Zustand der Zufriedenheit und bisweilen gar der Beseligung dar. Weder tiefe Abgründe noch große Schmerzen. Weshalb sind Weiber glücklicher als Männer? Weil bei ihnen Anmut und Naivität unvergleichlich häufiger auftreten als bei Männern. Gewiss bleiben auch sie nicht von Krankheiten und Unzufriedenheiten verschont; hier geht es aber um das vorherrschende Gefühl. Die naive Anmut der Weiber versetzt sie in einen Zustand oberflächlichen Gleichgewichtes, der niemals zu aufzehrenden Tragödien oder gefährlichen Spannungen führen kann. Die Frau riskiert auf geistiger Ebene überhaupt nichts, weil bei ihr der Dualismus zwischen Geist und Leben eine viel geringere antinomische Intensität erreicht als beim Manne. Das anmutige Lebensgefühl führt nicht zu metaphysischen Offenbarungen, zur Schau der Wesenheiten, zur Perspektive der letzten Augenblicke, wenn du lebst, als lebtest du nicht mehr. Die Frau ist teuflisch verführender Schein. Je mehr du an sie denkst, desto weniger verstehst du sie. Es ist dem Vorgang analog, der dich zum Schweigen bringt, wenn du langer über das grundlegende Wesen der Welt grübelst. Aber während du angesichts einer unergründlichen Unendlichkeit erstarrst, scheint dir die Frau ein Rätsel zu sein, obgleich sie im Grunde nur verblendender Vorwand ist. Neben der Erfüllung geschlechtlicher Bedürfnisse scheint mir der einzige Sinn des Weibes in der Welt darin zu bestehen, dass es dem Manne Gelegenheit gibt, dem marternden Druck des Geistes zeitweise zu entfliehen. Denn die Frau kann eine zeitweilige Rettung für jene sein, die auf Höhen leben: weil sie im Leben kaum zersetzt ist, bedeutet der Verkehr mit ihr eine Rückkehr zu den naiven und unbewussten Wonnen des Lebens, zur leichten Immaterialität der Anmut, welche zwar nicht die Welt, aber die Weiber erlöst.
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Wie kann man denn noch Ideale hegen, wenn es hienieden Blinde, Taube oder Tolle gibt? Wie kann ich mich des Lichtes erfreuen, das der Andere nicht sieht, oder des Tons, den er nicht hört? Ich fühle mich für die Finsternis aller verantwortlich und komme mir wie ein Entführer des Lichtes vor. Haben wir nicht den Blinden das Licht und den Tauben den Ton entwunden? ist unsere Luzidität nicht für die Umnachtung der Wahnsinnigen verantwortlich? Ich weiß nicht warum, aber wenn ich an derartige Dinge denke, verliere ich Mut und Willen; alles Denken dünkt mich sinnlos und jegliches Mitleiden nichtig. Denn ich fühle mich nicht dermaßen normal und mittelmäßig, als dass ich jemanden bemitleiden konnte. Man muss außerhalb der Gefahr leben, am einen andern zu bemitleiden. Mitgefühl ist ein Zeichen von Oberflächlichkeit. Denn entweder da zerbirst angesichts des unheilbaren Jammers, der gebrochenen Schicksale, oder du verstummst für alle Zeit. Mitleid und Trost sind nicht nur unwirksam, sondern auch beleidigend. Und wie sollte man einen andern bemitleiden, wenn man selbst unendlich leidet? Mitleid ist ein unverbindliches Gefühl. Deshalb findet man es bei so vielen. In dieser Welt ist noch niemand am Leiden des Andern gestorben. Und jener, der gesagt hat, dass er für uns sterbe, ist nicht gestorben, sondern getötet worden.
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Cioran, E.M., Werke, Frankfürt am Main 2008 (Suhrkamp)
Auf den Gipfeln der Verzweiflung (vertaling: Ferdinand Leopold)
