
WEITERE WINDSTRICHE
TRÄUME
Traum.
Vor etwa dreissig Jahren hatte ich diesen Traum:
Ich befand mich auf einem Kai in Rouen, vor einbrechender Nacht. Glühendes, mildes rosafarbenes Licht über dem Fluss, über den Steinen, Kanten und Stegen, über den Bauchungen und Winkeln der ankernden Schiffe.
Aber ich hatte nur eines im Sinn.
Zehn Schritte von mir war ein kleiner Kohlenhaufen. Davon ging eine Macht aus, eine unbestimmbare Kraft, die ich seltsam auf mir lasten fühlte.
Ich fühlte mich angezogen, gelähmt, zum Nachdenken genötigt und in meinem ganzen Wesen von dieser dunklen, funkelnden Masse innerlich gelenkt. Dieser schwarze Haufe, schwarz von Diamanten, kam mir vor wie der Magnetberg in den arabischen Märchen.
Und etwas in mir gab dieser sonderbaren Wirkung, ohne auch nur zu zweifeln, einen Namen. Etwas in mir wusste aus sicherem, unmittelbarem Wissen, da8 das der Blick Napoleons war.
Der Selbstmord ist der verzweifelten Bewegung eines Träumers vergleichbar, der seinen Alptraum beenden möchte. Wer durch eine Anstrengung sich von einem schlechten Schlaf befreit, tötet; er tötet seinen Traum, er tötet sich als Träumer.
Pag. 51
VERLORENE POESIE
Herz der Nacht.
Unterbrochene Nacht, fast zu schön, mit zuviel Schwärze vermischt und zu scharfen Lichtern; Wunder an Besitznahme und Abwesenheit, Nacht ganz aus herrlichen Abständen;
kein Augenblick, der nicht alles oder nichts wäre.
Im Innersten der Nacht, im Herzen der Nacht.
Das Erwachen des Geistes klar entgegengesetzt der Substanz der Nacht:
Bemerkenswert allein, abgehoben, ausgeruht.
Von der Nacht geschieden, ihre Kräfte klar scheidend!
Dann erleuchten ihn die Finsternisse.
Das Schweigen spricht zu ihm ganz nah.
Der Körper dann, gewichtslos in der Stille,
Der sich bis zu den Finger- und Fußspitzen fühlt;
Und die Sprache ganz gegenwärtig,
Das Gedächtnis ganz gegenwärtig,
Alle Bewegungen und Operationen des Geistes
Spürbar und sichtbar;
Die Idole wohlgeordnet
Auf allen Stufen, in jeder Ordnung und Klasse oder Kategorie
Die Erkenntnis selbst erleben, und keine Gegenstände…
Das Gehör.
Merk auf dieses feine, unaufhörliche Geräusch; es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.
Pag. 52
MORGEN
Erwachen.
Wie mild das Licht, wie schon das lebendige Blau beim Erwachen!
Das Wort »rein« öffnet meine Lippen. Dies ist der Name, den ich dir gebe.
Hier, eins mit dem Tag, der noch nie war, sind die vollkommenen Gedanken, die niemals sein werden. Im Keim, der für immer Keim bleibt, der höchste umfassende Grad von Dasein und Tat.
Das Ganze ist Keim – das Ganze, noch nicht in seinen Teilen empfunden-, das Ganze, das beim Erwachen sich golden entwirft, noch durch keine bestimmtere Regung verstört. Ich entstehe von überall her, weit weg von diesem Selbst, in jedem Punkt, wo das Licht funkelt, an diesem Rand, in dieser Falte, auf diesem Faden eines Fadens, in dieser klaren Wasserlache. Noch bist du, mühelos, nur eine köstliche Wirkung des Lichts und des Lärms, ein Wunder aus Feuer, Seide, Schiefer und Dampf, Ineinander zusammenfließender einfacher Laute, Vergoldung und Murmeln, o Morgen!
Warum kann ich den Augenblick nicht hinauszögern, da ich zu mir komme, nicht säumen im umfassenden Zustand? Warum sollte ich diesen Morgen gerade mich wählen? Was zwingt mich, meine Freuden und meine Leiden wieder an mich zu nehmen? Und wenn ich nun meinen Namen, meine Wahrheiten, meine Gewohnheiten, meine Ketten wieder fahrenließe gleich Traumen der Nacht – wie einer, der verschwinden und ein neuer Mensch werden will, am Ufer des Meers sorgfältig seine Kleider und Papiere zurücklässt? Werde ich nicht jetzt von den Träumen belehrt, vom Erwachen ermahnt? Und der Sommermorgen, ist er nicht der Augenblick, nicht der gebieterische Rat, ein anderer zu werden? Der Schlaf hat das Spiel durcheinandergebracht, die Karten gemischt; und die Träume haben alles vermengt, alles von neuem in Frage gestellt…
Das Erwachen kennt eine Zeit der Geburt, der Geburt aller Dinge, bevor irgendeines entsteht. Da ist eine Nacktheit, ehe man sich wieder ankleidet.
Pag. 52-53
BAUM
Der Baum singt wie der Vogel.
Plötzlich ein Windstoß. – Heftiger Wind.
Das kommt, beruhigt sich, kommt wellengleich wieder.
Der Wind bringt dem großen Baum eine Fülle von Gedanken, er überrascht ihn, verwirrt ihn, greift ihn von allen Seiten an, erschüttert ihn. Bekleidet ihn mit der Rückseite seiner abertausend zahlreichen Blätter. Vermählt sich mit ihm, verwandelt ihn in ein Rauschen, das anschwillt und abflaut und ihn zu einem verlorenen Bächlein macht. Das führt zum reinen Traum vom Bach.
Der Baum träumt ein Bach zu sein;
Im Winde träumt der Baum ein frischer Quell zu sein
Und wird, mehr und mehr, zum Gedicht, zum reinen Vers.
Pag. 53-53

WIEDERERLANGUNG I
Vom goldenen Dunst des Horizonts hebt sich das Meer allmählich ab; und von den geröteten Bergen, vom sanften, verlassenen Himmel, vom Gewirr der Blätter, von den Mauern, den Dächern und Dämpfen, von der Welt endlich, die sich neu erwärmt und die ein Blick umfasst – Bucht, Fluren, Morgenrot, bezaubernden Feuern -, wendet mein Auge sich ungern ab und wird wieder zum Sklaven meines Tischs. Eine ganze andere Welt, eine ganz andere Welt ist da, die Welt der Zeichen auf dem Tisch! – Möge die Arbeit mit uns sein! Welche seltsame Verengung des Gesichtskreises, Parenthese im Raum Monolog im Weltall ist diese Seite, bedrängt von Schriftzeichen, mit Streichungen und Zusätzen übersät! Ich sehe Linien zwischen anderen Linien, und endlos einander folgende Versuche sind gleichsam auf dem Papier entworfen. Hier kettet sich der Geist an sich selbst. Die Gaben, die Fehler, die Verbesserungen, die Rückfälle: erscheint nicht auf diesem Blatt, das den Flammen bestimmt ist, der ganze innere Mensch? Er hat sich versucht, sich berauscht, sich befreit, sich erschreckt, sich verstümmelt, er fasst sich wieder, er liebt sich und wird sich zum Gott.
Pag. 54
WIEDERERLANGUNG II
Geist. Reine Erwartung, ungewisse Ewigkeit, Bedrohung all dessen, was ich wünsche. Schwert, das einer Wolke entfahren kann, wie spüre ich sein Nahen! Ein unbekannter Gedanke ruht noch in den fallen und borgen meiner Stirn. Noch bin ich allem Denken entrückt; von allen Wörtern, von allen Formen, die in mir sind, gleich entfernt. Mein unbewegtes Auge spiegelt einen leblosen Gegenstand; mein Ohr hört nicht, was es hört. O meine Gegenwart ohne Gesicht, welcher Blick ist der deine, ohne Dinge, ohne Menschen, welche Macht, unbestimmbar wie die Gewalt in der Luft vor dem Gewitter! Ich weiß nicht, was sich bereitet. Ich bin Liebe und Durst und ohne Namen. Denn es ist kein Mensch im Menschen und kein Ich im Ich. Aber ein Geschehen ohne Sein, eine Wirkung ohne Ursache, ein Akzidens, das meine Substanz ist, naht. Das Ereignis ohne Dauer und Form greift jede Dauer und Form an. Es macht das Unsichtbare sichtbar, das Sichtbare unsichtbar. Es verzehrt, wer es anzieht, es erleuchtet, wen es zerbricht … Da bin ich, bin bereit. Triff mich. Da bin ich, den heimlichen Blick auf den blinden Punkt meiner Erwartung gerichtet . . . Dort bricht manchmal ein großes Ereignis hervor, das mich erschafft.
Pag. 54-55
MEERE
INSCHRIFT AUF DAS MEER
Einzig Unberührtes, Ältestes auf dem Erdball,
Was es berührt, zerfällt;
Was es verlässt, ist neu;
Das sich zurücknimmt zwischen zwei Zeiten der Hingabe,
Das sich hingibt und zurückzieht meeressalzen.
Wellen.
Der Wind riffelt die große Welle mit kleinen schrägen Wellen. Die Haut der großen Grundwelle wird regelmäßig gefurcht durch die oberflächliche Wirkung der Brise, die die Wasserfläche leicht erregt; und die mächtige rollende Form, die von weit her kommt, vervielfältigt sich, wird eine facettenreiche Masse, eine solide Kristalline Gestalt in ständiger Verwandlung, von wo das Geräusch siedender Materie ausgeht, durch zahllose tiefinnere Schreie, Zerreißen und Zerknittern, Fälteln und Durchwirbeln der Wasser unter sich.
Wiederholte Beobachtung.
Menge bedeutet dem Geist nichts, den Sinnen alles. Dem Geist nichts; der Geometer beachtet sie nicht und lässt sie in den Formen die er hervorbringt, aufgehen.
Aber die Sinne: das Ohr, das Auge, aber die empfindende Seele sind aufgeregt, außer sich, zermalmt von dieser ewigen Wiederholung.
Der Geist verabscheut die unzählbare Wiederkehr, und nun grüßen ihn die Wellen, die immer wieder zugrunde gehen, den ganzen Tag…
Pag. 55- 56
PHÄNOMEN
26. September
Sonnenuntergang. Klarer Himmel, die organgefarbene Scheibe berührt den Horizont.
Die Menschen am Strand schweigen, ohne zu wissen warum. Drei Minuten Stille.
Eindruck des Feierlichen bei diesem Vorüberziehn. Das Gefühl einer Enthauptung liegt in der Tiefe, die dieser Dauer innewohnt. Langsam fällt das Haupt dieses Tages.
Die Scheibe ertrinkt. Als sie deutlich verschwunden ist, ruft ein Kind: » Zu Ende!« Jedermann scheint betroffen, einen seiner Tage enthauptet vor sich zu sehen.
Ich bewahre eine Zeitlang in meinen Augen das Nachbild dieses wunderbaren Vorgangs. Aufs stärkste empfinde ich das Notwendige, das Unabwendbare,, den unbeugsamen Zeitlauf, eine genaue und träge Kraft.
Der seltsame Zustand des Lebenden, der ungeheure Grössenunterschied, der Unterschied in der Natur, in der Dauer, der augenfällig zwischen den beiden Ordnungen besteht, die dem Augenblick beiwohnen und ihn ausmachen, der unmittelbare Eindruck einer ungeheuren Rangordnung drängen sich dem Denken auf und prägen sich eine Zeitlang seinem empfänglichen Stoff ein, wie ein allzu intensives Bild im Auge haftenbleibt und in gegensätzlichen Farbstufen allmählich erlischt. So antwortet das Denken (0der scheint es zu antwortren) diesen allzu starken »Naturerscheinungen « mit blasseb und vornehmen Gegenbildern und entwickelt vertraute Gegensätze. Es besinnt sich auf seinen Eigenwert, auf die Überschreitung der Erkenntnisfähigkeit, und wird den naiven Automatismus dieser Reaktionen nicht gewahr. Das Gegenteil zu äussern mag genügend sein zur Verteidigung, aber auch nur genügend.
Das Denken musste sich ja vor dem betrachteten .Gegenstand schützen. Dessen Fülle von Leben und Erkennen, die der Bewegung eines Körpers gehorcht! Sein Dasein, sein Tod gleichsam mitgerissen, wie ein Stern, der in das Blickfeld eines Fernrohrs gerät; die Vernichtung seines Wesens als unmittelbare und geringfügigste Folge der Forderungen des Zeitplans erkannt und auferlegt! Alles Menschliche herabgewürdigt, entwertet, zunichte gemacht im Augenblick, da das Gestirn die Seele gestreift hat, die Abhängigkeit ohne Widerpart … Ich lasse meinen Satz in der Schwebe. Ich will damit sagen, dass alle diese Subjekte keine Attribute dulden …
Das Meer scheint jetzt eine Masse treibenden und klatschenden grün-violetten Glases zu tragen. Das Kind von vorhin verzehrt eine geröstete, mit Sand bestäubte Brotschnitte, die ich zwischen meinen Zähnen knirschen höre.
Schwimmen.
Ich glaube mich wiederzufinden und wiederzukennen, wenn ich erneut in dieses allumfassende Wasser tauche. Ich verstehe nichts von der Kornernte, nichts von der Weinlese. In den Georgica findet sich nichts für mich.
Aber sich stürzen in die Masse und Bewegung· noch mit den äussersten Gliedern spielen, vom Nacken bis zur Zehe; sich drehen und wenden in dieser reinen und tiefen Substanz· die göttliche Salzigkeit trinken und ausatmen, dieses Spiel gleicht für mich der Liebe, die Tätigkeit, bei der mein Körper sich ganz in Zeichen und Kräfte verwandelt, wie eine Hand sich öffnet und schliesst, spricht und handelt. Hier gibt sich der ganze Körper der Wassermasse hin, holt sich zurück, begreift sich, verausgabt sich und will seine Möglichkeiten erschöpfen. Sie rührt er auf, sie will er fassen, um armen, er überbordet an Leben und liebt sie in seiner freien Beweglichkeit, sie besitzt er, mit ihr erzeugt er tausend seltsame Gedanken. Durch sie bin ich der Mann, der ich sein will. Mein Körper wird das unmittelbare Werkzeug des Geistes und dabei der Urheber aller seiner Gedanken. Alles erhellt sich mir. Ich verstehe bis ins letzte, was Liebe sein könnte. Übermass an Wirklichem! Die Liebkosungen sind Erkenntnis. Die Gebärden des Liebenden wären die Vorbilder für Werke.
Also schwimme! wirf dich kopfüber in diese Welle die zu dir rollt, mit dir, sich bricht und dich trägt!
Während einiger Augenblicke habe ich geglaubt, ich könnte niemals wieder aus dem Meer emportauchen. Es warf mich zurück nahm mich wieder in seine unwiderstehlichen Windungen auf. Der Rückzug der ungeheuren Welle, die mich auf den Sand ausgespuckt hatte, verschluckte den Sand wieder zusammen mit mir. Ich konnte noch so sehr meine Arme in diesen Sand tauchen, er versank mit meinem ganzen Körper. Wie ich noch ein wenig kämpfte, kam eine viel mächtigere Welle, die mich wie ein Wrack an das goldene Ufer der kritischen Region auswarf.
Endlich betrete ich den ungeheuren Strand, fröstelnd, den Wind trinkend. Es ist ein Schlag aus Südwesten deer die Wellen von der Seite erfasst, sie streift, zerknittert, mit Schuppen bedeckt, mit einem Netz von Zweitwellen belädt, die sie vom Horizont bis zum Streifen des Bruchs und Schaums transportieren.
Ich glücklicher Mensch mit nackte Füssen schreite trunken vom Schreiten auf dem von der unendlich dünnen Flut stets wieder geglätteten Spiegel.
Pag. 56-58
Psalm
Der freie und rege Gang singt von selbst. Es ist unmöglich, beim Gehen nicht zu schaffen. Im Gehen zu schaffen ist so einfach und natürlich, wie in der scheinbaren Freiheit des Rhythmus der Glieder voranzukommen. Man soll diese gänzlich individuellen Schöpfungen nicht festhalten. Ich habe diese nur festgehalten, mit einigen andern zusammen, um sie als Dokumente zu nutzen.
Pag. 59

WIE AM UFER DES MEERS…
Wie am Ufer des Meers
An der trennenden Front,
An der Grenze des Pendelschlags
Die Zeit gewahrt und entzieht,
Anstößt, ausbreitet,
Auswirft und verschluckt,
Ausliefert, beklagt,
Anrührt, fällt, küsst und stöhnt
Und wieder zur Masse,
Wieder zur Mutter kehrt,
Und immer neu sich besinnt!
An der gepeitschten Front des Meers
Verliere ich mich im Tal zwischen zwei Wellen
Diese Zeit, ach, begrenzt
Und unendlich . . .
Was umschließt diese Zeit?
Was verengt, was brüstet sich?
Was bemisst und verweigert und entzieht mir diese Zeit?
O Welle, wuchtige,
Zu überfluten machtlos!
Der Verlauf deines Gangs: immer neu dich gewinnen,
Noch einmal hinabrollen, nicht zu zerschellen
Den unversehrten Leib des Wassers!
Das Meer bleiben, niemals verlieren
Die Macht der Bewegung!
Hinabrollen,
Knirschend, wider Willen,
Sich begrenzen, sich sammeln,
Sich vereinen mit unveränderlicher Zahl,
Also kehrt die Idee in den Körper,
Also sinkt der Gedanke zurück
Von dem Punkt, wohin wagend sein Grund
Ihn heimlich erhoben hat,
Er kann nicht anders, er muss zuweilen
Zurück zur reinen, einfachen Gegenwart,
Zu allen Dingen außer ihm selber,
Obwohl er’s nicht selber ist,
Nie lange Zeit er selbst,
Nie Zeit genug,
Mit den Dingen allen zu Ende zu kommen,
Und nicht, eine neue Zeit zu beginnen …
Nur immer ein anderes Mal,
Das nächste und wieder das folgende Mal,
Unendliche Male!
Unübersehbare Male!
Unendlich vernimm und horche
Auf das Leid der Erwartung, den Ruck der Zeit,
Das ständige Wiegen der Zahlen,
Die Einheit, die Größe,
Vergeblich und heftig die Schattenstimme,
Die wuchtige Stimme des Meers,
Sie wiederholt nur immer:
Mein Gewinn und Verlust, mein Verlust und Gewinn.
Oh! Wirf eine Zeit aus der Zeit!’
Mehr als einsam am Ufer des Meers
Wie die Welle geb’ ich mich hin
Eintöniger Verwandlung
Von Wasser in Wasser
Von mir in mich.
Pag. 59-60
Wallfahrt
Kapelle auf der Insel C
…Zuhinterst in der Kirche, wo etwas undeutliches sich abspielt. Geheimnis, Albernheit; Nichts oder Wunder.
Ich fühle mich von einem Andern überwältigt. Man umhüllt mich mit einem Urschauder. Ein Wehen fahrt mir über die Haut, und ich fühle, wie ein Entsetzen sie heuchlerisch bedeckt und eine Wand zwischen Kalt und Warm aufrichtet.
Der Priester, der den Messkelch hält und die rätselhafte Nahrung von Mund zu Mund trägt, erinnert mich unweigerlich an ein ungeheures goldenes Insekt, das eintönig immer neue Reihen von Weibchen befruchtet. Mit einem kleinen, flackernden und zittrigen Licht besucht er die vielen dunklen, gereihten Gestalten, die sich bei seinem Durchgang gewiss öffnen, empfangen und sich wieder schliessen; wenn der Deckel geschlossen ist, erdrücken sie sich und vernichten sich, stellen sich tot, kommen wieder zu sich und gehen fort, ganz verwandelt, verschlossen, vertieft; kehren schweigend zurück, erstarrt, blicklos, jede mit ihrem Geheimnis, das für alle dasselbe ist.
Alle vereinigt und in sich verkapselt. Ich muss an jenes ganz einfache Meerestier denken, das sich wie ein Handschuh umdreht, das Innere nach aussen wendend.
Was also liegt diesem Reflex zugrunde?
Welches ist im einzelnen der Plan und welches sind die Gestalten, die Zeitmasse, das physische Zusammenspiel dieses Grauens und dieser heiligen Vertraulichkeit?
Denn ich selbst gewahre und stelle in mir den Durchgang einer kühlenden Welle fest, die an meinen Schultern spürbar wird, als wäre ich ein Wellenbrecher, an dem die Flut sich überschlägt, weiss und brausend wird und sich anzeigt. Ich spüre und beobachte es an meiner Haut, wie es aufsteigt, verweilt, vorübergeht; ich entwickle daraus keinen Gedanken, setze es keinem entgegen, verknüpfe es auch mit keinem. Es ist eine Tatsache. Für mich: eine vereinzelte Tatsache … Lehne ich damit die Gnade ab?
Ist es die Gnade, der Geist, die innere Fremdartigkeit? Oder wirken die Stille, die Schatten, die Stätte und die von Vergangenheit durchtränkte Gegenwart zusammen auf mich ein?
Ich trete hinaus. Plötzlich wird alles von Nebeln umhüllt, ausser den ersten Spitzen, den Felsköpfen.
Alles Gefühlshafte ist stumpf, dachte ich. Gefühlshaft ist alles, was uns auf einfachen Wegen erreicht, mit Hilfe von Organen, denen die Feinheiten und die vielfältigen Verknüpfungen der einzelnen Sinnesorgane fehlen.
Aber wir suchen diese groben, mächtigen, undeutlichen Werte mit den klaren Erkenntnissen und den geordneten Wahrnehmungen zu vergleichen. Dies gelingt uns nicht, wir stehen davor wie der Mathematiker vor den irrationalen oder transzendenten Grössen, wenn er das Kontinuum in Zahlen auszudrücken versucht.
Pag. 60-62
Valery, Paul, Windsriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Franszösischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)
