Im Chinesischen gibt es einen Ausdruck, der den Zustand beschreibt, in dem gegen Abend oder in der Nacht die Natur sich in Schweigen zu hüllen scheint.
Der Ausdruck existiert in zwei Fassungen: Wan-laiwu-sheng, «kein einziger Laut ist zu hören», und Wanlai-you-sheng, «alles hat seinen eigenen Laut». Diese beiden scheinbar entgegengesetzten Fassungen bedeuten in den Ohren eines Chinesen dasselbe. Erst wenn alles verstummt, hört man das Wesen jedes Lautes.
Lernen wir also, uns nicht den lieben, langen Tag durch leere Worte betäuben zu lassen, nicht dem Lärm der Welt nachzugeben. Lernen wir, auf den Generalbass zu hören, der den uns eingeborenen Gesang begleitet, welcher im Innersten der Seele ruht. Diese Seele ist fähig, mit der WELTSEELE in Einklang zu sein, und vermag uns durch ihre unvermutete Weite zu erstaunen. Zu wissen, dass man eine Seele hat, oder es nicht zu wissen, läuft nicht auf dasselbe hinaus. Zu wissen, dass man eine Seele hat, bedeutet, eine wache Aufmerksamkeit des Schätzen entgegenzubringen, die sich in der Eintönigkeit des Alltags darbieten können, welche damit beschäftigt ist, alles zu begraben. pag 80-81
Diese Brücke, ganz von Frische und Tosen beherrscht, lädt zu Begeisterung und Geständnissen ein. An diesem Ort verabreden sich die Liebespaare. Mein Herz
klopft, es hegt den verrückten Traum, dass die heimlich geliebte Person mich dort erwarte. Unter all den anwesenden, vom Augenblick entzückten Gesichtern ist eines, einzigartig, ohne das alles Abwesenheit wäre.
Aber gleich einem Spiegel, der sich dem aus uralten Zeiten kommenden Licht entgegenstreckt, ist das geliebte Gesicht da, selbstverständlich da, und es lächelt mich an. Auf dieser Erde also findet das Wunder statt. Als hatten wir uns jenseits all der Sterne hier verabredet und Wort gehalten. Sofort verwandelt sich der Augenblick in Ewigkeit. Genügt mir das? Wird daraus eine dauerhafte Liebe entstehen? Eines ist sicher: Der ganze Rest meines Lebens wird Sehnsucht sein. Nichts wird an Heftigkeit dieses Geschenk übertreffen können, das von einer Brücke gewahrt wurde, die zwei ins Bodenlose stürzende Felswände verbindet.
Ich erinner mich an die Liebesnächte. Der höchste Zustand fleischlicher Ekstase geht über den Körper hinaus. Die Chinesen bezeichnen das mit dem Ausdruck «geschmolzene Seele» oder «in Seele zerfließen».
Dennoch geht alles durch den Körper. «Der Körper ist die Werkstatt der Seele, in der der Geist seine Übungen abhält. » Erinnern Sie sich an diese Formel der grossen Mystikerin Hildegard von Bingen. Die Seele behält in Erinnerung, was der Körper erlitten hat. Diesen Körper, der allenfalls zwei Meter misst, stellt das irdische Leben auf eine harte Probe. Er kann wunderbare Glücksgefühle schenken, aber er muss auch bereit sein, unzählige Übel zu ertragen, wenn ihn Unheil heimsucht: Durst, Hunger, Krankheiten oder Verletzungen, die furchtbare Schmerzen oder manchmal unerträgliche Entstellungen zur Folge haben können. Fällt er unter Umstanden in die Hände von Folterern, muss er sich auf die schlimmsten Qualen gefasst machen, denn menschliche Grausamkeit und Fantasie sind grenzenlos. pag 96-97
Ich glaube eine Stimme zu hören, die mir die erstaunliche Wahrheit zuraunt: Die wahre Erfüllung unseres Begehrens ist in unserem Begehren selbst enthalten. pag 103
Die Tatsache des Gesehenhabens ist unauslöschlich. Man kann dir noch so oft
wiederholen, dass das Universum seit Milliarden von Jahren existiert, du bist zum ersten Mal da. Du siehst den Himmel sich erheben und die Welt erleuchten, als wohntest du seinem Erscheinen bel. Das Universum erscheint m dem Masse, wie du erscheinst. Dieser Moment der Begegnung gibt dir wie dem Universum einen Sinn – ein Moment, der auf die Ewigkeit trifft, ein Ewigkeitsmoment.» pag 107
Zufällig lese ich gberade ein Schönes Buch von Christiane Rancé, das ebene erschienen ist, En pleine lumière, und stosse auf diese Passage: «Wie wird meine Seele meinen Körper verlassen, und was konnte bewirken, dass sie dem zustürmt, ohne sich allzu sehr dagegen zu sträuben? … Die Frage hat mich lange beschäftigt, bis zu dem Tag, an dem ich die Ungarische Melodie in h-Moll von Franz Schubert, meinem Lieblingskomponisten, in der Interpretation von David Fray horte. Endlich hatte ich mein Viatikum gefunden, den Rhythmus der Ablösung zwischen Seele und Körper. Drei Minuten Klavier, die die Seele auffüllen wie ein Luftschiff, ohne Pathos, ohne Aufhebens, ohne grossen Pomp … Genau diese Melodie mögen die Musikerengel spielen, um mich in meiner letzten Stille zu begleiten.»
Berlioz seinerseits schreibt in seinen Mémoires: «Wenn sein Herz bei der Berührung mit der poetischen Melodie erschauerte, wenn er diese innerste Hitze gespürt hat, die das Glühen der Seele ankündigt, ist das Ziel erreicht, steht der Himmel der Kunst ihm offen; was bedeutet dann noch die Erde!» Berlioz spricht hier als schaffender Kunstler. Seine Äusserung erinnert uns daran, dass das künstlerische Schaffen im Allgemeinen dem gleichen Prozess unterliegt. Kunstwerke sind die sprechenden Gestalten des empfindenden Universums, durch eine menschliche Seele verinnerlicht und von ihr mit Hilfe des Geistes neu erschaffen. Horen wir Kandinsky: «Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmässig die menschliche Seele in Vibration bringt. […] Cézanne verstand es, aus einer Teetasse ein beseeltes Wesen zu schaffen oder richtiger gesagt, In dieser Tasse ein Wesen zu erkennen» (Über das Geistige in der Kunst). Nicht alle Menschen sind zwangsläufig Künstler, aber jede Seele hat ein Lied. Sie ist imstande, anderen Liedern zu antworten, die zu ihr sprechen. Zu allen Zeiten, in allen Kulturen hat jede Seele eine Musik, die sie gern in dem Moment hören mochte, da sie die irdische Wiege verlasst. Die Seele wird immer mit einem Lied in Einklang sein, das umfassender ist als sie selbst.
Ich vergesse keineswegs, dass nicht nur die Freude zum Teilen aufruft, sondern auch das Leiden. Angesichts des rätselhaften oder empörenden Schweigens erhofft der Leidende Hilfe und Verständnis. Ihm offenbart sich eine grundlegende Wahrheit: Die Tatsache,
dass jeder Mensch einzigartig ist, isoliert ihn keinesfalls in einem außergewöhnlichen Schmuckkästchen.
Ein Mensch konnte nicht einzigartig sein, wenn die anderen es nicht auch wären. Der betreffende Mensch wäre sonst nur ein bizarres Exemplar. Die Einzigartigkeit jedes Menschen setzt voraus, dass sie eine universelle Tatsache ist. Wir müssen folgendes Paradoxon feststellen: Die Einzigartigkeit ist an die Universalität gebunden. Dieses Paradoxon ist keines, im Gegenteil, es liegt in der Logik der Dinge, denn je einzigartiger man selber ist, desto mehr Sinn muss man für die Einzigartigkeit des anderen haben, desto fähiger muss man sein, dem anderen Achtung und Wert beizumessen.
Das ist sogar die Grundlage, von der aus die Möglichkeit der Liebe entsteht. Derjenige, der im Bewusstsein seiner Einzigartigkeit sich in eigensüchtigem Stolz einschliesst, ist nur ein widernatürliches Ungeheuer. Allein das Leiden kann ihn eventuell seiner illusorischen Eitelkeit entreißen. Auf moralischer Ebene kann das Leiden uns eine weitere Lehre erteilen. Im Laufe eines Lebens kann man Verletzungen empfangen, so wie man, absichtlich oder nicht, anderen Verletzungen zufügen kann, wie man auch schwere Fehler anderen gegenüber begehen kann. Verletzungen oder Fehler mit bisweilen schrecklichen, nicht wiedergutzumachenden Folgen, die uns in die Reue oder das Bedürfnis stürzen, um Verzeihung zu bitten. Im Allgemeine ist es dann dazu zu spät, oder es liegt ausserhalb der menschlichen Macht. Auch hier wieder stehen wir vor einem Paradoxon: Derjenige, dessen Seele derart gezeichnet und versucht ist, Vergebung zu erbitten, ist in der Lage, in das Reich von universeller Grosse vorzudringen, in das Reich des grenzenlosen Erbarmens, in dem die Seelen aller unschuldigen, in Schrecken totaler moralischer Verlassenheit verschwundenen Opfer eins sind.
Ich laufe noicht Gefahr, all diejenigen aus meinem Gedächtnis zu verbannen, die diese Welt verlassen haben, die Menschen, die ich kennengelernt habe, die mir lieb geworden waren, wie auch die mir unbekannten Menschen, von deren Existenz ich erfahren habe. Allen ist die glühende Liebe zum Leben gemein. Nachdem sie mit Begeisterung gelebt haben, haben sie diese Welt verlassen, die einen in versöhnlichem Einverständnis oder mit einem an die Ihren gerichteten, herzzerreissenden Lächeln, die anderen in furchtbarer Verlassenheit oder in entsetzlichem Leid. Alle rufen bei ihrem Weggehen in den Lebenden Kummer und ein unbezähmbares Bedürfnis nach Einssein hervor. Es geschieht etwas Seltsames: Der Tod grabt nicht nur eine gewaltige Brache der Trostlosigkeit, er eröffnet gleichzeitig eine gewaltige Flur des Elnsseins, so wirklich wie der Sternenhimmel. Einssem liebender und magnetisierender Seelen, Einssem der Heiligen. Ja, Einssein der Heiligen, diese angemessene Formulierung enthalt wahrscheinlich den geheimnisvollen Schlüssel des LEBENS, denn inmitten dieses grenzenlosen und unendlichen Einsseins hat sich der Tod aufgelöst, abgeschafft. pag 112-115
Die wahre Freiheit gründet auf der Befolgung der Gesetze des WEGES, die das Erlangen des wahren Lebens sicherstellt. Aus diesem Blickwinkel räumt die Philosophin der Seele eine Vorrangstellung ein. Ihrer Ansicht nach kann die Seele vielfältige Formen der Verirrung und Perversion erfahren, aber in dem von ihr so genannten «unveränderlichen Teil» der Seele – der an den «Seelengrund » bei Meister Eckhart erinnert – wohnt das Versprechen des Göttlichen. Neben der Seele ist der Geist als Instrument der Erkenntnis von gross ter Bedeutung; doch er steht im Dienst der Seele, die den natürlichen und unauflösbaren Nährboden jedes Wesens darstellt. pag 131
So macht Laozi einerseits deutlich, dass der HIMMEL, indem er sich an das EINE halt, seinen klarsten Zustand erreicht und die ERDE ihren stabilsten, und andererseits, dass die beiden Teile der Seele eines jeden Menschen, indem sie das EINE umschließen, getrennt werden und dennoch zusammenbleiben werden. Denn nach daoistischer Auffassung kehrt nach dem Tod eines Wesens seine po, «körperliche Seele», auf die ERDE zurück, wahrend seine hun, «geistige Seele», zum HIMMEL aufsteigt. Der Vorrang wird der geistigen Seele eingeräumt. Sie garantiert das «Sterben ohne umzukommen», weil sie dem HIMMEL untersteht und der HIMMEL fähig ist, sich all dessen anzunehmen, was von der ERDE kommt.
Die Seele zeigt, dass sie mehr ist als das Kennzeichen der Einzigartigkeit jedes Wesens. Unsichtbar und unauflösbar sorgt sie letztendlich für die grundlegende Einheit des betreffenden Menschen. In der Tat kann jeder von uns, indem er sich auf das Atmen und das Streben unserer Seele stutzt, eine offene Sicht des WEGES genießen, wobei unser individuelles Schicksal dort einen Ausgang findet. Darin liegt in Wirklichkeit die Bedingung für unsere wahre Freiheit. pag 154
Der körperliche Tod, unsere «Schwester, der körperliche Tod», wie Franz von Assisi sagte, ist unausweichlich. Er ist ein Entreißen und somit schmerzlich. Aber die Bewegung des LEBENSHAUCHS findet unendlich weit jenseits des Todes statt. Sie wird nie aufhören, ihren WEG weiterzugehen, gemäss der von chinesischen Denkern formulierten Lebensweisheit Sheng-sheng bu-xi, «Das LEBEN erzeugt das LEBEN, ohne Ende». Im gesamten Universum, in der gesamten Ewigkeit gibt es nur ein einziges Abenteuer, das des Lebens, und wir sein Teil davon. Um mit einer wirklich offenen Inkarnation fortzufahren, hat der WEG wahrscheinlich nicht zu viel an all den Seelen, die, nachdem sie gelebt haben, nach dem wahren LEBEN streben.
Aum-Anima, Anima-Aum.
Amen.
pag 156
bron: Cheng, François, Über die Schönheit der Seele. Sieben Briefe an eine wiedergefundene Freundin, München 2018, (C.H. Beck)
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