Suprematie des Unlösbaren
Gibt es auf dieser Erde noch irgendetwas, das nicht dem Zweifel unterworfen werden konnte, außer dem Tod, der einzig gewissen Sache hienieden? An allem zweifeln und dennoch leben ist ein Paradoxon, welches allerdings nicht zu den tragischsten gehört, weil der Zweifel bei weitem weniger inbrünstig und gespannt ist als die Verzweiflung. ist die Tatsache denn nicht bezeichnend, dass die häufigste Art des Zweifelns vom Verstand ausgeht, wobei der Mensch nur mit einem Tell seines Wesens teilnimmt, im Gegensatz zur rückhaltlosen und organischen Anteilnahme der Verzweiflung? Selbst bei den organischen und ernsten Formen des Zweifels kommt die Intensität niemals derjenigen der Verzweiflung nahe. Ein gewisser Dilettantismus und eine eigentümliche Art von Oberflächlichkeit charakterisieren den Skeptizismus im Unterschied zu einem derart komplexen und seltsamen Phänomen wie dem der Verzweiflung. Ich kann an allem zweifeln und der Welt ein verachtendes Lächeln zuwerfen, was mich indessen keineswegs hindert zu essen, ruhig zu schlafen oder mich gar zu vermahlen. In der Verzweiflung – von deren Abgründigkeit man sich nur überzeugen kann, indem man sie erleidet – sind diese Tätigkeiten nur noch unter Mühe und Schmerzen möglich. Auf der Hohe der Verzweiflung hat niemand mehr ein Anrecht auf Schlaf. Deshalb kann auch kein echter Verzweifelter irgendetwas von seiner Tragödie vergessen: er bewahrt die schmerzende Gegenwärtigkeit seiner Not bis an die Grenze des Erträglichen im Bewusstsein.
Der Zweifel ist eine Unruhe, welche sich auf Probleme und Dinge bezieht, und ergibt sich aus der Unlösbarkeit aller bedeutsamen Fragen. Wenn sich die großen Probleme lösen ließen, würde der Skeptiker mühelos zum Normalzustand zurückfinden. Wie verschieden hingegen ist die Lage des Verzweifelten, der nicht weniger unruhig wäre, wenn alle Probleme gelöst waren, weil seine Ruhelosigkeit der Anlage seines subjektiven Daseins entspringt. Im Zustand der Verzweiflung sind Angst und Unruhe dem Dasein immanent. Niemand wird in der Verzweiflung von Problemen gemartert, sondern von den Zuckungen und Branden im eigenen Wesen. Dass hienieden nichts gelöst werden kann, ist bedauernswert. Es hat keine gegeben und wird auch keinen geben, welcher aus diesem Grunde Hand an sich legen wurde. So wenig beeinflusst die intellektuelle Unruhe die unser ganzes Wesen umbrausende Ruhelosigkeit. Deshalb ziehe ich ein dramatisches Dasein, gepeinigt ob seines Schicksals in der Welt und von den verzehrendsten Flammen durchwütet, einem abstrakten Menschen vor, der nur von abstrakten Problemen aufgewühlt wird, von Problemen, welche den Urgrund unserer Subjektivität unangetastet lassen. Ich verachte bei dieser Denkungsart den Mangel an Tollkühnheit. Wie fruchtbar ist doch ein lebendiges, leidenschaftliches Denken, durch welches der Lyrismus wie Blut in den Adern fließt! Äußerst interessant und dramatisch ist der Vorgang, durch den Menschen, die ursprünglich von rein abstrakten und unpersönlichen Problemen bewegt und objektiv bis zur Selbstvergessenheit waren, in fataler Weise zur Grübelei über ihre eigene Subjektivität und über Probleme des Lebens und der Erfahrung genötigt würden, als Schmerz und Krankheit sie heimsuchten. Die objektiven und aktiven Menschen finden nicht genügend Wesenheiten und Quellen in sich selbst, um ihr Los bedenkenswert zu erachten und es in Frage zu stellen.
Um dein Geschick in ein subjektives und universales Problem zu verwandeln, musst du alle Stufen einer innerlichen Hölle hinabsteigen. Wenn da noch nicht zu Asche verglüht bist, kannst du lyrisch philosophieren, dich also einer Philosophie hingeben, in welcher die Idee genauso organische Wurzeln hat wie die Poesie. Erst dann erfährst du eine höhere Form persönlicher Existenz, in der diese Welt mitsamt ihren unlösbaren Problemen nicht einmal mehr der Verachtung wert ist. Nicht etwa wegen deiner Vortrefflichkeit oder deines besonderen Wertes in der Welt, sondern weil dich Außer deiner persönlichen Agonie nichts mehr beschäftigen kann.
Cioran, E.M., Werke, Frankfurt am Main 2008 (Suhrkamp)
Auf den Gipfeln der Verzweiflung
(vert.: Ferdinand Leopold)
pag. 51-52
