Nelly Sachs: Briefe aus der Nacht

Vorbemerkung

Die “Briefe aus der Nacht” genannten Aufzeichnungen, die hier erstmals veröffentlicht werden, begann Nelly Sachs 1950 nach dem Tod der Mutter (7. Februar). Die letzte Eintragung stammt aus dem Juni 1953. Es handelt sich um ein 30 Seiten umfassendes Typoskript, heute im Bestand der Handschriftenabteilung (Arch. 238), der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek; ein weiteres Exemplar befindet sich im Nelly Sachs-Archiv der Kungliga Bibliothek Stockholm. Der hochkomplexe Text enthält, in einem frühen Stadium ihres Entstehens, poetische Reflexionen und Metaphern, die nicht selten Eingang in die Lyrik und szenischen Dichtungen finden und war von der Dichterin durchaus für die Veröffentlichung vorgesehen: “Dann liegt eine Sammlung neuer Gedichte “Und niemand weiß weiter” da, die zusammen mit den Tagebuchaufzeichnungen “Briefe aus der Mitternacht” eventl. Herauskommen sollen. Aber vorläufig will ich alles noch liegen lassen, bis es mir reif scheint” (Briefe der Nelly Sachs, hrsg. von Ruth Dinesen, Frankfurt a. M. 1964, S. 142).

Zu einer abschließenden Redaktion kam es jedoch nicht. So bleiben regelmäßigkeiten in der Schreibweise. Zumeist findet sich ein doppeltes “s”, wo man “ß” erwarten würde, es gibt jedoch Ausnahmen. In zwei Fällen bleiben bei der Transkiption Zweifel am Gemeinten. Auf S. 11 beginnt ein Satz: “Heraufbeschworen aus dem Verfall Israels”. Im Text stand zunächst “Asrael”, das “A” ist jedoch durchgestrichen und wurde offenbar handschriftlich durch ein nicht mehr deutlich zu sehendes “i” ersetzt. Auf derselben Seite, im vorletzten Absatz, steht: “Das Gehör für das Kreisen der Sphären, die Aussicht zu Ende sehend, sprachen zu Vögeln und Grillen ausweitend -” Man erwartet ein großes “s” (“Sprachen”), es scheint jedoch umgekehrt, als sei dieses mit der Schreibmaschine durch ein kleines überschrieben worden.

Wir bemühen uns, die “Briefe aus der Nacht” in möglichst enger Anlehnung an die   Vorlage zu reproduzieren, also Einrückungen zum Absatzbeginn (die jedoch manchmal fehlen), aber auch mitten in einer Zeile wiederzugeben. Die Seitenzahlen des Typoskript werden in eckigen Klammern wiedergegeben. Die Erlaubnis des Erstdruckes der „Briefe aus der Nacht“ im Nelly Sachs-Schwerpunkt des Marburger Forums gab Dr. Hans Magnus Enzensberger, wofür wir besonders herzlich danken möchten. Außerdem gilt unser Dank dem Diplomarchivar Jens André Pfeiffer von der Handschriftenabteilung der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek, der ebenfalls einer Veröffentlichung zustimmte und darüber hinaus zur Verfügung stand, wenn zweifelhafte Textstellen im Abgleich mit dem Original zu klären waren. 

Max Lorenzen


Briefe aus der Nacht

AUS DEN ERSTEN MONATEN

Welch redendes Schweigen zwischen uns, geliebte selige Seele meiner Mutter. Welch redendes Schweigen.

Fortgefallen ist alles bis auf unsere Bestimmung. Der Tod ist der Aufzehrer des Überflüssigen. Atem, Blut, Fleisch, Gebein, Gehirn, Zähne, Augen, Eingeweide – verzehrt – übrig ist das “redende Schweigen”, die “Sehnsucht”. Tod, du Freikäufer der Sehnsucht. Tod, du Seelengebärer. Seele, du Hülle der gestillten Sehnsucht. Gestillt in der Ewigkeit.

Sehnsucht, wie viele Gestirne haben sich aus deinen ersten Erstlingsschleiern gesehnt; wieviele Rehaugen, wieviele Veilchen für die Hände der Liebenden. Geliebte selige Seele meiner Mutter, gestillte, nach soviel Liebeszeichen!

Dein lächelnder Segen über meinem Haupt. Das sank und sank, und deines stieg und stieg. In der gestillten Sehnsucht stieg es.

Nun gehöre ich zu den Folgeleuten. Nichts weiter. Die durch Salz folgen müssen, untergetaucht im Vorschöpfungswasser der Trauer. Niemand weiss, ob Seesterne, Quallen und Fische und alles, was im Blinden leidet, noch auf dem Hinweg oder schon auf dem Rückweg ist.

Du nahmst mich tief mit in deinen Tod und hast mich wieder entlassen, wo der Säer dein Vollbrachtes in das Randlose eintrug.

In den Nächten, weiter hinausgebettet, reicht sich alles Leid, das unterwegs ist, die Hände. Der Wurm am Angelhaken, der Fisch am Wurm, die Hand, die den Fisch zieht, die steif gewordene Zeit in der Kehle – aus dem Fenster der Unsichtbarkeit, langt schon das letzte Tötende. Wie ein Samenkorn geht das dritte Auge im Traum zuweilen auf und sieht uns an – da wissen wir, dass Tod sich in Leben wendet.

Unser redendes Schweigen. Ach, es geht nur von mir zu dir, denn die Demut verbietet das Hören des Hohen. Und doch Augenblicke, gestreift von der Gnade, weiß ich, wie Lächeln geboren wird.

Und lerne rückwärts. Und die verschlossenen Türen gehen auf; o Zugluft, die blättert in den Büchern, wo die Schulden stehn, die Stunde da, die war nur halb geliebt, und jene krümmt sich wie ein Wurm in Reuequal. Wo sind die Seligkeiten hin, soll da Vergessenheit den Richter spielen? Wo bleibt das Raubgut der Vergessenheit? Und wird in soviel Tränen hervorgeweint.

Du hast aus einer schon zerbrochnen Schale den Lebenswein geliebt in deine Hand – Mutterseele, Eiland und ständiges “Zurück”. Ewige Chiffer, unter der meine Geheimnisse bewahrt sind. Das redende Schweigen. Alle meine Worte sind nur Schilder und Grabtafeln. Du nur weisst, was darunter verblutet ist. Und der Stern dreht sich mit seinen Blindenhöhlen, die weinen und reifen. Und Vogel und Fisch sind vielleicht schon näher, schon über den Tod hinaus verständig und schreiben mit dem Körper schon die neue Sprache.

Unser redender Schweigeweg. Wunderbare Musik der fragenden und antwortenden Übereinstimmung, Gesetze der Sternenbahnen im Puls und Hand in Hand in einem Zimmer, oder auch frei über ein Buch gebeugt oder mit einem Suppenkraut in der Küche.

Und wenn auch der Tod Fenster und Türen ausgehoben hat und nur noch Weltenraum gelassen wie im Schlaf, so bin ich doch umhegt, klein wie eine Mücke, die vom rosa Morgen – ihren rosa Morgenanteil trägt und beginne meine Morgenwanderung zu dir.

Ist der Stern der strenge Wirt, der sagt: Nun geht! Der Sand ist genug fortgeliebt worden. Der Hass kümmert uns nicht. Der macht anderes fruchtbar.

Du hast soviel fortgeliebt, Selige, dass ich nur noch im “Wesen” gehe, wo die Blätter gefallen sind, aber die vom “Lese”-Engel gezeichneten Conturen noch mühsam zu erkennen sind.

Da und dort eine Nachtwache, wo die Dämmerungskämpfer den Hahnenschrei noch überleben, die verrenkten Sehnen in die Richtung des Erwachens gestellt. Wer weiss, vielleicht schliesst sich der Kreis bald. Der Apfelkern liegt wieder bei der Wurzel, zwischen Blüte und Sturm. Vorbei. Am Abend kommen die Engel. Umzug. Verwandlung. Gute Nacht.

Es gibt nur eine Lehre, sagt der Traum. Die Lehre vom Samenkorn. Anfang und Ende ist eine Lehre ohne Samenkorn. Sich schlafen legen können, tief hinein, in die Erde der Trauer, die Erde der Liebe, der Sehnsucht, der Reue, in die Qualen des “anders” gerenkt Werdens.

Die so tief sich in den Schlaf gelegt haben. So tief. Wie Abraham in der chaldäischen Nacht unter allen Mondsüchtigen ertrunken, aufgesogen wurde durch die magischen Schalen der Pentagramme, die sich öffneten, um ihn zu entlassen. Wie schläft der Stein tief unter der Mooshülle, so tief, dass er mit Feuer wie mit Blut umgeht zuletzt.

Meine Sehnsucht springt wie Freiwild in den Nachthimmel. Geliebte Selige, die Zeit des redenden Schweigens ist da. Du weisst!

Das schwere Werk: Erde in Liebe verwandeln. Dafür trägt der Mensch Scheuklappen.

Gebückt und im Schweisse und das Ohr ein Krug für Lerchensang – am Horizont Saatkrähen, eine Eule, der Geier unterm Regenbogen, die untergehende Sonne, der aufgehende Mond – Wunden am Wege – im Geruche des Thymians, im Ysop, der da wächst an der Wand des Paradieses, “Tränenkrüge der Erinnerung” – dein letztes Wort – verklärte Seele, du weisst – und ich bin überwältigt –

Gestern an deinem Grabe, wo deine heilige Arbeit ruht. Das Licht hast du mitgenommen, und ich kann nichts mehr sagen. Mein Augenblick ist noch auf die Marienkäfer eingestellt, die auf den rosa Herbstastern wandern. Auch ein Stückchen Zeit auf dem Wege.

Nicht die Müdigkeit im Schlaf. Nicht das Verlassen aus Müdigkeit. Dieses Loslassen des schwachen Fleisches, dieser Treueverrat. Dieses Müdewerden an der eigenen Liebe, dieses Erkranken der Hilfsbereitschaft, dieses Schliessen des Seelenauges vor dem Leidens-, Eingangs-Wort der Ewigkeit.

Nicht dies, nicht dies. O Erde, die mit vergessenen Blumen gedüngt wird. Die Reue geht ein in dein Leben zum Tod. Ferment der Verwandlung? Wer weiss!

Das Geheimnis legt wieder an zwischen denen, die hineinspringen, wo das Zeichen für “Untiefe” steht, und den Tanzenden. Die Motte tut beides. Und Niemand weiss, wessen Blutgeld an Wert zunahm. Tauchen oder Blumenpflücken. Für Beide geht der Abend zu Ende.

Du sahst die Urformen in den Wolken. Auch die Urformen zu unserer Liebe, soweit sie im Körper dastand, im Händedruck dem Abend zusagend, der mit den Vorhängen so gross tat, als wäre er mehr als ein Gleichnis mit seinen rosa Küssen Mutter und Kind in der Wiege spielte. Mutter und Kind

Amen!

Versöhnungstag. Tag der Lebensgefahr, der Lebenserrettung. Keine Schonung. Kein Aufheben des Leibes. Schwarzer Kristalltag für die honigsaugende Biene. Schuld und Versöhnung. Die Sternenwaage wiegt im Gebet. Israel ist das Volk mit der Waage. Es wird als erstes gewogen und wiegt weiter bis in den Wurm hinab. Israel hat Sterben gelernt. Darum wurden seine Sehnen anders gestreckt. All seinen Honig muss es lassen an diesem schwarzen Kristalltag. Aber wenn es sein furchtbares Gebet gesprochen hat bis in den Weltenschoss hinein, dann steht der Engel mit dem Ginsterzweig vor seinem Ausgang und sagt: Geniesse, denn du lebst!

Das “Haar” ist ein Traumgeschenk. Was wird damit geschehen. Viele Jahre vorher geschah im Traum, was später der Welt geschah. Geschah im Runden Zelt aus Spielkarten. Geschah in grüner Farbe, und Lanzen in den roten Herzen. Geschah im mittelalterlichen Tournier, wo die Luft mit Masken bemalt war – hinter dem Gesicht ist noch ein Gesicht –

Die Propheten standen bis zu den Hüften im Glutkern der Schöpfung – aber dann wussten sie nichts mehr und empfingen nur wie Verdurstende.

O du wahrsagendes Blinzeln durch des Todes Hand. Deine Gespräche mit den Toten.

Der Himmel am Mittag rosa. So nahe nach vorn sucht nur sterbendes sternloses Land. Aber wir sehen Krankheit.

Hiob: Der Herr gab,

der Herr nahm,

gesegnet sei “ER”.

Welche Wanderung von der Bitte zum Dank. Dank, wenn das Liebste verwandelt wird aus den Augen heraus.

Abraham dankt zuerst sichtbar. Dann Hiob – Rembrandt dankt mit dem Pinsel. Nach 5000 Jahren hat sein Licht immer noch ein Dunkel zu besiegen, das Blutdunkel der Dämonengötter Babyloniens, die arbeitende Beschwörung in den Nachtmasken der Elfenbeinküste.

Rembrandt wusste von dem “rechten” Segen Jakobs. Er, der alle Morgendämmerungskämpfe mit Blut aus seinem Augenhimmel schrieb.

Das Übersinnliche ist im “Haar” immer seiner Haut verhaftet, darin Alchemie das unsichtbare Gold aus Staub wandelt. Ein Kind wird gemartert – die Lehrersfrau reibt sich einen Fleck aus dem guten Kleid heraus. – Heinz jagt im Krankenzimmer Fliegen, während sein Liebstes das Seligwerden erleidet. Die gutmütige Scheuerfrau, die den Tod riecht – bewundert doch den Kriegslieferanten um seiner Schwäne willen u.s.w.

So bleibt die “Sehnsucht”, die auszog von ihrem Schöpfer durch die Nebulosen, durch die Rosen, um im “Dank” ein wenig verhaftet zu sein bis zum neuen Aufstieg. –

Gegängelt werde ich in deinen Fußspuren, geliebte Seele! Irdische Augen gehen zu, andere auf. Auf Tisch und Stuhl nimmt Wolke und Gesichtsloses Platz. Gnade. Gedächtnisse  tauschen. Das Schlafen-gelegt-werden beginnt. Natürlich segelt Krankheit. Ist Fahrzeug. Feuriger Wagen. Sie lässt die Bilder in der Enge sich stossen und der Stimmen geballte Ameisenhügel am Zwielicht arbeiten. Zuweilen ist es, als hätte ich im Schlaf eine Begegnung gehabt.

Das ist auch der Zeitpunkt, wo die Menschen, die im Vorraum sprachen, ihre Mäntel nehmen. Blumen bleiben und Kranke. Und man kann Frieden-Samen streuen. Der geht in Augen und Blättern auf. Deine braunen Augen. Die ersten 5 Jahre sagten ihr Gute-Morgen-Gedicht zu ihnen. Auch das Letzte wird dir Gute Nacht sagen. In der Zwischenzeit lebte der geliebte Vater und wurde so begrüsst, fast heilig er, in der Musik – und der eine, der mich im Sterben untertauchte. Durch ihn bekam ich Übung.

Nun ist nur noch Weg. Abraham ist der Held, der erste, des Opfer-könnens. Die den Weg nicht freiliessen vor Elohim. Aber der kleine Sohn wurde vor dem letzten Augenwimperschreck in die Höhe gehoben. So sah Abraham Elohim.

Den Schwachen hilft der Tod heben. Aber ich sehe noch nichts in den Staubwolken.

Ich weine.

Helfe ich denn der Liebe. Ich sage nur Abschied. Und wenn ich das Zimmer festlich putze, sage ich Abschied. Im Munde das Brot weiss schon Staub.

Aber Israel, sagt schon Dank. Das ist seine neue Quelle. Und wir Abschiednehmenden ziehen wie kleine Flüsse fort. Und Israel streut Samen. Es weiss noch nicht, dass wir aus Träumen gemacht wurden, aber wenn man Samen streut, lernt man schnell.

7. Oktober. 8 Monate. Jeder hat so seine eigene Zeitrechnung von Untergang und Auferstehung. Die kleine private Engelrechnung. Schon bete ich Dank. Denn von der Marter bin ich ins Leiden gerettet. Und in der Gnade ist das Martyrium meines Volkes. Wieviel Wagen über ein Herz fahren können. Wieviel Stricke ein Herz aus der Brust reissen können. Der Wahnsinn sitzt wie ein Auge mit verbogenen Strahlen in der untersten Nacht. Will das weinende Universum der Liebe in falsches Kreisen zwingen. Die Wohnung der Seele zum Fixstern der falschen Aussichten machen. Vieles springt leuchtend ab von rasenden Kometen. Sind aber nur Steine. Bekannte Stoffe. Ich danke Dir, weil Sehnsucht wieder Sehnsucht ist.

Gutes Narrenwort. Die Dinge so zu betrachten, ist sie zu nah zu betrachten.

Sündenregister. Schuld hinter dem Kuss. Verrat hinter dem Geäder des Rosenblattes.

Scheinwerferlicht macht blinde Augen.

In der Erlösung werden die Rosenadern anders schön gelegt, vielleicht in die Fußspitze des Cherubin oder unter der grünen Wachstumfeder des Flügels. Auch in die Segenskraft, die das Leuchten auswirkt in einer Sternenwiege. Erlösung ist Quelle und Meer. Und ich war falsch geordnet und bis in die Quelle getrübt.

8. Oktober.

Ich habe etwas zum freuen. Lerne lächeln. Redendes Schweigen. Du weisst!

Vielleicht muss man sich, um zu leben, festhalten lassen. Von den Religionen, den kleinen auch schöpferischen, nach-schöpferischen Kräften in der Kunst – oder Lebenslust.

Aber erst, wenn man Land verlassen hat, beginnen die Begegnungen.

Zu Tode sehnen, zum Leben! Aus solcher Sehnsucht muss etwas “werden”! Die geht von Schöpfung zu Schöpfung. Erst schafft sie Tod – Leben!

Wäre ich Maler, würde ich das Steinerne des Steines malen. Das Rosenhafte der Rose.

Die Demut bis in die Weidenzweige hinein, die Angst in einem rauchenden Rehhaar. Hingabe ist der neue Pinsel. Das Wesen des Leidens in einem Fischauge zwischen Leben und Tod. Die geschundene Kehle bezahlen. Namenlose neue Kunst! Jeder gibt mit geschlossenen Augen ein Stück Einsamkeit her. Bald reicht es zum Mantel, der mit ins Grab gelegt wird.

Alle Flüsse sind fort, in denen man sich ergiessen konnte, nun zeigt euch würdig dem Meer, ihr Tränen!

Wer stirbt, hat soviel Neues zu bewältigen. Wir aber haben noch Altes zu tun.

Letzte, geliebte Seele, es vergeht keine Zeit, in der du mir nicht hinter das Datum ein Licht stellst. Gewiss sehe ich trübe, aber ich weiss, dass es klar brennt.

Ob nicht Elia durch den verzweifelten Tumult des Blutes erst “Lautes” vernahm und dann mit vergehendem Herzen das “Leise”? Ewiges steigt vielleicht nicht ab auf hoher See – aber im gestillten, letzten Sehnsuchtslauf?

Eine Versagende bin ich. Ich lasse los. Und ich bitte um die Loslassung. Ich schlafe nicht. Meine Augen sind weit offen, wie die des Hasen, die immer aufs Ende gerichtet sind.

Die chassidische Legende vom fastenden Jünger des Balschem. Er kommt an einer Quelle vorbei. Verdurstet. Das Werk des Fastens ist fast vollendet. So ist es gut, es nicht mit einem kleinen Schluck Wasser aus der Fassung zu bringen. Das grosse Schmuckstück eines Lebens. Er wendet plötzlich und trinkt. Die Demut darf nicht auf Vollendetes schauen.

Dies sei kein Trost für die, die losliessen. Der Seitenwunden werden immer zwei sein.

Im “Haar” spielt das Mimische, der Körperausdruck im Vorspiel und im Marionettenakt die verbindende Rolle durch 5 Jahrtausende. Zuerst das blinde Suchen des Blutes, das in Nimrod seinen Blutausgang, in Abraham seinen Wesensausgang findet, im Marionettenakt zur grausamen Spieltechnik geronnen ist und sich ganz in die Materie zu wandeln droht. Jene feinen Töne einer fast zerstörten Klaviatur der Menschlichkeit werden nur noch in wenigen Stimmen gehört. Das uralte Mimentum wurde hereingeholt. Der Tanz war bei den Babyloniern kosmisch. Sie gingen durch die Nachtwachen Sins, des Mondgottes, im Reigen hindurch.

Heinz steht, wo die Menschen heutzutage zu stehen scheinen: Ahnend aber Angst vor der letzten Hingabe, vor dem Verlassen des Ufers, vor dem Schritt aus dem Gesicherten heraus. Er grüsst in Ehrfurcht dorthin, wo Anila sein kann, sie, die eine der dunkel Gebogenen ist. Doch hat er sich eine Art irdischen Frieden erkauft. Schalom!

Der Schiffbruch eines Sterns. Der Maler hält fest: Gedächtnisstellen verschwindender Formen. Der Dichter taucht in die Blindentiefe.

Der Wahnsinnige ordnet sein “zu Hause”. Der Kaufmann besteigt das Raumschiff.

Der heilige Balschem in der Glorie. Zu unterst rot, dann gelb, dann blau um das Haupt, aber darüber weiss wie nichts. Dies sind die suchenden Farben der babylonischen Türme. Am  nächsten der Erde rot. Am höchsten blau. Aber wo Göttliches wohnt – die Farbe “Nichts”.

Es muss wohl eine tiefere Teilhaftigkeit geben als die moralisierende Formel: Ein Jeder ist für Alle verantwortlich! Wie ist es wohl mit jenen unterirdischen oder irgendwo wesenden Übereinstimmungen des “Gegenwärtigen”?

Die alte Frau im “Haar” fühlt, dass ihre Jugendliebe zum “Rohen” den bösen Geist der Zeit mit herauf beschworen hat. Heraufbeschworen aus dem Verfall Israels Hassausdünstungen, vergrabene Wünsche des Blutes schaffen sich das Medium ihres Auslaufes. Sind auf ihre Art schöpferisch.

Und wer benachrichtigt die Künstler an allen Ecken der Windrose, wenn die Uhr neu aufgezogen wird?

Und wie zaubert die Seele ihre Heiligen? Die Bedrängungen, die der Glaube ausführt, mögen manchen erloschenen Stern ins Brennen gebetet haben. Und die Rosen auf den Waffen der Unrecht-Besieger? Und der Schritt hinter dem Schritt des Mörders?

Und die Wissenschaft hinter der Blindenbinde mit Händen greifend und greifend. Die Sternendistel auszupfend und dem Kinderauge den Kelch hinter dem Kelch lassend?

Und immer Eines in der Verklärung. Mit den grossen Erinnerungen des Anfangs. Das Gehör für das Kreisen der Sphären, die Aussicht zu Ende sehend, sprachen zu Vögeln und Grillen ausweitend -?

Und wie weit werden die Saaten in den Träumen geworfen? Und Tod vielleicht das grosse Lächeln über endlichem Finden?

Abraham, das liegende Auge in lauter Schlaf.

Orpheus – Christus – die Berge-Versetzenden. Moses, Licht aus dem Stein schälend.

Sinai.

Ein so spätes Auge, wie das des Balschems sah noch den Stein als drehende Töpferscheibe bis er fort war – Kraft und Nichts! Und den Stern als gedrehten Stein. Und wir Staub, mit dem Kopf in die Schmerzen gedrückt tief, tiefer bis in die Grenzen der Welt aus kaltem Metall. Blei, Blei das drückt bis zum Sterben. Die Liebe ist der Sprengstoff der Seele, der gleich Brücken baut. Löcher in der Luft und die Stelle, “Selig” beginnt. “Du” sahst mich schon soviel weiter.

In einem verfrühten Wiedersehn. Ich bin in Sehnsucht gebettet. Jede Wand ist meine Klagemauer!

Auch im Traum versagend. Im leichten Kleid, du meine geliebte Mutter, warst schon bereit, und mein Vater gab mir eine Lesearbeit. Aber ich konnte nicht, ich weinte und konnte nicht. Was hab ich nur getan?

Ich sah daraus, dass wir unsere zukünftige Gestalt mit jeder Seelenregung aufbauen.

Ihr wart so schön!

Am Grab heute. Vereinigung. Das fromm gewordene Abbild der Liebe bis in den Staub geliebt. Die geliebten Umwege sanft gebettet. Soviel Segen in der Luft eingeatmet. Nun

ist das “Haar” ganz nach innen eingegangen. Alle grossen Worte nach aussen fort  genommen.

Die reifgewordene Zeit im Leib des Volkes lässt auch Abraham unsichtbar herausstürzen.

Kein Geschichtsdrama. Der Schlaf ist der Mutterleib.

Der Weg geht immer von aussen nach innen. Auch in der Kunst. Am Ende ohne Leib, nur Kraft, nur Wesen. Nie leicht machen, nie spielen, nie schöne Worte, lieber alle Worte zerreissen.

Sonnenuntergang. Herzzerreissend. Das war unsere letzte Vereinigung. Hand in Hand.

Vorahnung schon als Kind. Marterlicht. Dahinter Segen.

Geliebte Seele – nur wieder redendes Schweigen von dir zu mir – von mir zu dir – was hier steht und überhaupt mit Fingern niedergeschrieben wurde – ist doch immer das Gleiche: die kleinen fliegenden feurigen Steinabwürfe des großen Rede-Schweigen-Kometen. Aber Einer hat gewußt das Rätsel meiner kleinen Leide-Seele – das warst du!

Welches wirre Gespinnst ist der Traum am Morgen und der Tag am Abend, und nur die Nacht ist undurchdringlich klar. Nach dem Tourniertraum der zweite Traum: Säugling blumenhaft, den Kopf an meine Brust gelegt. Seine Füsse sind eisig – ich habe die Strümpfe vergessen – ich halte den Tod. Welches Labyrinth der Fäden – welche Urwälder der  Verwirrung im Taumelkelch des Erdenweines. Welche Schuld, grade da, wo die Liebe die Grenzen des Atems überstiegen hat. Der dritte Traum: alte, gebrechliche Brücke über dem Fluss. Das Holz unter dem Schritt tickt wie eine Uhr. Drüben ist es grün, so grün, wie nur in Kinderträumen sonst. Da wartet der Mann mit der weissen Maske, in weisse Laken gehüllt. Er will, dass ich über die neue Brücke gehe, aber ich muss über die alte – (es ist wie mit der Leseaufgabe – ich vermag das Neue nicht). Dann sinke ich den weissen Laken entgegen – hindurch – glücklich.

Diese Lücken in der Liebeshandlung. Ausgehobene Fenster, durch die Schuld eingeladen wird. Während die Liebeshand das eigensinnige Haar streift. Nach Süden eilend, wenn der Norden mit dem Lichtreiter prunkt – die blaue Ferne mit der Apfelbaumallee in Sehnsucht verzehrend – wenn die Träne der Weihe die Hand netzt. Du weisst, wieviel Schritte ich gebrauche zu dir, durch die Tage der Krankheit, durch das schwarze Glas der Nächte, das wie Zwiebelschalen das Geheimnis verbirgt – du hast schon das Fähnlein Mut herausgehängt.

Keine Signale, nicht das Echo eines Rufes. Kein Wegweiser, der Offenbarung durch ein Nadelöhr zeigen könnte – nichts – nichts! Ich kann nicht den Kaffeesatz aus Worten lesen – und die Spielkarten sind seit der sumerischen Zeichenschrift völlig unleserlich geworden.

Alles ist alt, schwach – vergessen – nur zuweilen duftet es von früher. Ysop und Thymian, auch Lebensbaum, sind nur Vergessensdüfte über den Erinnerungen. Keiner deutet. Gesang?

Das Wort “Elohim”!

Alle Ausmessungen in Chaldäa zwischen den Geburt-Leerräumen der Gestirne bis in die Weckeruhr, die “Abraham” sang – haben Beziehungen. Dieses Ausloten – in den Meeren der Sehnsucht! Hinter den Kabala-Rechenexempeln sind noch schwache Wurzeln im Grünen zu ahnen – aber dann schwächer, schwächer – krank – wohin?

Die Heiligenwurzeln sichtbar. Moses – Orpheus – Christus – saugen aus Steinen Blut – Stern und Qualle in Geburtswehen zu ihren Füssen – und die Hände am Türgriff der Luft – und die Menschen in Gut und Böse wie Ameisen –

mystiek

14.1. 51.

“Deine Seele ist wie die ganze Welt”. Upanishaden des Samaveda.

Erinnerung duftet. Präexistenz der Seele vor dem Sein. Alle Seelen werden selig! Kabala. Warum in den Religionen Christus als Schatten vor Gott? Warum nicht ein Licht an Grösse, die Lichter der früheren Propheten übersteigend, den einsamen Weg zu erleichtern. Auch die Schnecke geht! Im Tod wird alles schön! Der Ocean ist offen für die Schwimmer. Die “Ideen” schalenlos stehen vor Ihm aufs Neue!

Wo fasse ich die rechten Seile, dass die Geliebten ziehen können. Und stolpere täglich eine Marmortreppe hinab, wo drei Millionen  Jahrurwälder silbern blinzelnd grüssen, nichts verratend – was wollte der Schicksaltragende als er mich verstellte, dass ich stehen blieb, gerade da, wo meine Füsse in die Liebe gerenkt worden waren – müde Dienstverweigerer – werde ich dies zuerst wissen im Tod? Von Dir? O!

d. 22.1.51.

Noch etwas mehr als zwei Wochen zum Jahrestag. Die letzten Monate waren so krank von Sehnsucht, dass mit jedem Wort die Hülle durchgebrochen wäre. Sie hat auch überall Löcher bekommen. Wo ist das hin, das durch die Löcher floss. Es ist vorausgegangen….

Daniel, der die Scherben zusammenfügt, die Dinge an den rechten Platz setzt. Die begonnenen und verendeten Träume wurzeln in ihm. Die Zwischenfragmente haben sich aus unserer Sehnsucht heraus sichtbar gemacht. Anila ist am Sterben mit Gedächtnis begabt worden. Auf Erden hatte sie alles vergessen. Daniel gebraucht solche Sammelbecken. Mit der Befestigung des scheinbar verlorenen werden die Sternenbahnen gehalten. Nur Intensität hält die Welt.

Heinz versucht seine Schuld fruchtbar zu machen (Oasen). Indem wir sie durchleben, erlösen wir dies Stück Welt. Natürlich ist es richtig, wenn R. sagt: Wunder ist Zeichen.

Voraussage, nicht Abweichen am Gesetz. Nein, Erfüllung. Magie will Gewolltes abtrotzen, Prophet enthüllt voraussehend das himmlisch vorsehend Gewollte. Wie wäre es sonst möglich vorauszusehen, wenn nichts vorgesehen wäre? R. beiseite gelegt. Möchte nur noch an Quellen trinken. Sohar erlöst das Wesen hinter den Worten.

Nachdem die Elegien und das Haar geschrieben sind, darf ich an dieser Quelle ruhen und trinken. Finde so tiefe Bestätigung für alle Träume. So tiefe. Ich war so ängstlich, nun ist das gut.

Umkehr ist mehr als der Heilige von Beginn. So muss der Sohar auch an die  dynamischen Kräfte glauben, die dadurch frei werden. Denn wozu sonst alle Umwege.

Lilitu ist das unschuldige Ferment, das den Elementen beigesetzt wurde, das Scharfe.

Appetitanreizend zur Erlösung. Erst, wenn die linke Seite zur anderen Seite wird, sagt der Sohar, wenn das Böse sich selbständig gemacht hat, ist es das Böse.

Warum liess ich eigentlich Abrams Mutter ihren Sohn linkshändig nennen, vielleicht?

Damals wusste ich noch nichts von der linken Seite. Ich wollte ihn auf kleine  menschliche Art ein bischen herausfallen lassen, wahrscheinlich. Aber er bleibt mit allen Möglichkeiten ausgestattet, heil in Ihm. Bis auf den Blutzipfel, der böse durch die Menschheit rinnt. Da ist die Umwendung.

Damit sie nicht ausgelassen wird. Alle Liebe geht in den Sternenraum, den innerlichen.

Im Traum ging der dunkle Briefträger durch die Tür hindurch. Die Buchstaben des Briefes konnte ich nicht lesen. Spiegelschrift? Bin zu sehr mit Staub bedeckt, um aufnehmen zu können. Trage alles nach innen. Versuchte zuerst ein menschliches Ohr zu gewinnen, aber zog alles zurück nach dem Milchblick der Verständnislosigkeit.

Es soll so sein, dass ich nicht mehr tun darf, als schlimme Finger zu verbinden oder einem schreienden Kind einen Bonbon zu geben.

Und das Andere, das Unendliche zieht in sein Randloses hin. So bricht sich Leben aus dem Erz der Sterne aus.

18.2. 51.

Welches Geblätter in den Geheimnissen. Am siebenten Februar nach dem Mondjahr war es ein Jahr. Aber das Herz hat keine Zeit für die Zeit. Jeder Verstand wurde übersprungen.

Nie besass ich ihn. Immer gleich Sonnenuntergang gelebt. Immer, und darum so unendlich müde. Von Kindheit auf in die Pupille der Liebe gesehn und soviel geweint. Du weisst. Du weisst. Nur Du weisst! Nach innen geweint. So wie du! Ich bin ein rückgängig Wesen. Aber vielleicht sind wir das Alle. Alle nach der Mitte. Immer das Gefühl: die Deutungen umfliegen uns – aber der Staub hindert. Das Abram-Spiel hat immer eine Mitte im Runden. Steigt  immer aus dem Grab. Aus dem Inneren, Auferstehung der Mitte. Das ewige Zeichen!

Die kleine Kinderhölle der Einsamkeit. Die goldenen Eingeweide der Nacht. Diese runden Sonnen mit den schwarzen Kreuzen. Diese schrecklichen Vorbereitungen auf den Todesbiss des Lebens. Nur du hast gelöscht mit einem Wiegenlied.

Siehe Daniel

der hinter schwarzem Efeugeranke

nachtdurchwachsen sucht,

was von Träumen verloren –

Wie Fischmäuler atmet Verlorenes,

aber der Seligen Sprache

ist vielleicht

denen verwandt –

3.3. 51.

Hier ist kein Bleiben mehr. Liebes Leben. Alles verbrannte hat das Feuer geliebt. Mit jedem Schritt wird die Seligkeit angerührt. Bald ist die Menschheit vor der reinen Liebe  aufgestanden, und alle Felle, mit denen die Opfer bekleidet sind und die zum Morden  aufreizen, sind verschwunden. Die Henker wissen endlich den Anlass ihres Durstes und küssen Tau von einem dunklen Efeublatt. Alle Fische strahlen, und die Schuppen sind eine heilige Schrift. Aus Staub Gemünztes immer abgegriffener. Bald ist jede Deutung verloren. Dafür erscheinen Nationen, Rassen, Religionen. Aber nicht mehr das Äusserste und Innerste. Der goldene Kelch der Rose hat soviel Blätter bekommen, so ist er verhüllt. Das haben die Gärtner getan.  Der kleine Feldthymian weiss mehr von der Verwandlung des Sandes. Israel hat einmal viel gesehen, gehört und geahnt. Auch sein Geheimnis ist vergriffene Münze. Zuweilen prägt Einer neu aus Altem. In der tiefsten Tiefe des Meeres sollen blinde Fische leben. Im Meeresspiegel erkennt nicht die Koralle ihr fliederfarbenes Sterben, ihre rote Geburt, nicht die Qualle weiss, dass sie ein Urbild ist, aber die Seelen nach dem Tode? Sprachlos, bewusstlos, und doch die alte Sternenverwandtschaft wieder anknüpfend – wir schrecklich Verfahrenen mit den Haaren im Winde – Angst vor dem Abstossen ins Ungesicherte – in die stubenwarmen Gebete zurückkehrend, Franciskus und Mohammed haben der Tiere gedacht. An irgend einem Punkt standen sie selbst mit ihnen tiefer im Flammentopf der Erde. Diese Gischt des Schmerzes aus den Mäulern – Engel machen Abstriche –

7.3. 51.

Alles ist im Runden hier beschlossen, Ausbrechen ist Sterben oder die Gezogenen an der Inbrunst. Auch die Einsamkeit ist eine Welt, in der man sich dreht. Immer wieder sprachlos, dass man Notwendiges und Unnötiges tut auf eine Stern, der sich dreht und weiter wandert. Weiter, weiter wie alle Wesen. Auch der Tod ist Knospe.

mystiek

13.3. 51.

Welches Wunder auf Erden. Jeder Schritt ein Wunder. Die Arbeiter drüben auf der Werft ein Wunder. Ihre Geräte, das auf Meeren behaust Gewesene zu bergen. Wunder der Gehirne und Hände. Das Korallenschiff-Berührte, das Delphinen berührte, das vom magnetischen Meerboden bedroht-gewesene, das von Schaumzungen beleckte, alles wieder heimisch zu machen auf dem Lande.

Geliebte Seele meiner Mutter, du siehst durch das geschlossene Auge dieser Welt hindurch.

Du siehst meine Müdigkeit. Sie kommt von dem Leben am Ende der Inbrunst; jeden Augenblick am Ende der Inbrunst vor dem Abstossen ins Ungesicherte. Da warst du, und ich fiel in deine Arme zurück. Werden deine Arme mich auffangen, wenn ich die Augen geschlossen habe? Oder werden die immer dünneren Kreise der Verwandlungen mich fortreissen in das durchsichtig, immer durchsichtiger werdende, mein Gedächtnis löschen vor dem Übergang?

War ich der hiesigen Liebe nicht gewachsen. Damals, als sie mich in Stücke riss und nur du mich heiltest. Und ich zuletzt an deinem Bett fast den Schritt in die letzte Minute mittat, die atemaufhörende und wo neu beginnende? Das kann nicht vergehen. Wir sind Eines geworden durch die Inbrunst, wie die Sterne am Himmel nur aus Inbrunst wandern. Ohne Geleise fest an der Inbrunst.

Eben kommt die blinde Greisin aus dem Hause, der ich gestern den Brief nach Egypten an den Sohn schrieb und bringt mir einen alten Talmud und ich lese: Achte Niemand gering und halte nichts für unmöglich: jeder Mensch hat seine Stunde, jedes Ding hat seinen Ort. Wer bei Nacht weint, mit dem weinen die Sterne am Himmel.

Welche Verbindungen. Die alte Frau kommt mit dem alten Buch grade in mein Herz hinein.

Welche merkwürdigen Verbindungen. Ich glaube an einen inneren Kreislauf. Und wenn die Menschen diese Welt zerstören: der innere Kreislauf geht weiter. Es sind auch nicht die Menschen. Wir sind es alle. Ich selbst tat dies und das. Ich liess aus und versagte. Das kommt in den inneren Kreislauf. Eine kranke Stelle da und dort. Wer weiss?

d. 2.4. 51.

Das “Haar” ist fertig. Fertig kann nichts sein – alles geht weiter. Aus Asche blüht die Knospe Inbrunst. Die Dynastien der Sehnsüchtigen ziehen aus Ur bis an Anilas  Sterbezimmer.

Die Juden sind ein eigensinniges Volk. Sie lehnen alle Erleichterungen ab, die ihnen Christus anbot. Buber sagt vom heiligen Juden: Ich muss mir die Wahrheit erkämpfen. Also selbst erkämpfen. Christus ist die glühende Intensität. Er ist so überreich göttlich ausgestattet, dass er überfließt und miterlösen kann. Aber das jüdische Volk muss seinen Weg der Erlösung noch einmal gehen in allen Variationen. Christus ist aus der Verborgenheit des Köchers ausgetreten (Jesaja. 49.2), der heilige Jude ist darinnen verborgen. Aber die Nacht sank, als Christus starb, und auch Er war verborgen. In unserer Zeit wird alles ins Helle geredet. Ins künstliche Licht. Wohl, daß wir Buber haben. Die Ungläubigen haben heute die erleseneren Begabungen. Die Gläubigen kommen mit wurzellosen Blumen, die sie in alte schöne Vasen stellen. Aber Buber weiss um die Geheimnisse. Vielleicht auch Bernanos. Die Geheimnisse, die nur in äusserster Hingabe mit dem Leib aus der Haut der Verzweiflung geschlüpft, in der Sekunde “Nichts” zu träufeln beginnen.

Um den runden Tisch des Experiments sitzen die Heutigen. Bomben haben Jericho gestürzt.

Aber im Tonscherben wächst etwas. Welche Inbrunst wächst da? Und Venus ist jetzt im April der Abendstern und steht im Widder. Im Schall des Widderhornes wohnt der  Kosmos.

Auch im Atemzug. In allen Sprachen ist Atem ein weites Wort. Das weiteste. Und reicht in das Geheimnis. “Er macht Finsternisse zu Seinem Versteck!” Schechina wandert im Staub.

Schechina kniet am Strassenrande mit der verlorensten Seele. Sie erlöst uns nicht. Wir müssen sie erlösen. Sie ist unser ewig Teil.

Auch die Götzen haben die ewigen Eigenschaften der sie Anbetenden angenommen. In Ur, aus den weissen Fäden des Mondgottes Sin, löst Abram leise die Ewigkeit aus. Alles dies ist “unheimliche” Arbeit. Geliebte Seele, welche “furchtbare” Sehnsucht, eine Ritze im Staub zu haben. Nur eine Blinzelritze. Der Seher von Lublin sagt in Martin Buber’s Gog und Magog zum heiligen Juden: Man darf sich nicht erlauben, s o zu leiden. Das ist ein Wort! Ein Wort raucht wie Sinai!

Konnte lange nicht schlafen mehr seitdem. Manches muss schwer bleiben. Und die Seelenbehandler wollen alles leicht machen. Seinem Leiden Einhalt gebieten, wie der Seher verlangt, ist das Schwerste! Und Gut und Böse. Diese Zwillinge, dieses schreckliche Todesgemisch mit dem Sänger Sehnsucht. Von Ihm gewollt. Aber wir sind zu Ende da. Warum so, warum?

Warum? Warum?

d. 5.4. 51.

Nichts weiss ich. Nur Liebe. Der religionsgeschichtliche Vortrag war Abgrenzung.

Und da weiss ich eben nichts.

Christus in christlicher und jüdischer Beleuchtung.

Geliebte Seele, Du weisst! Aber ich weiss nichts und verstehe immer weniger. Leide und  liebe und sehne mich. Zu welcher Religion gehört das? Religion, dieses menschliche Gebäude um einen Glutkern. Um einen Seelenkern. Die einzelne Seele beginnt ihren leidenden Glaubensweg grade an der Grenze, wenn der Religionsforscher die Tür zumacht, den Riegel vorschiebt.

E r im Feuer des Sinai und der Erwählte durch die Gluten fast auf dem Gipfel. Und das Volk am Fusse, immer am Fusse. Und dann die einsame Seele den leidenden Weg bergauf bis in die Flamme. Und ist den Anderen der Weg erspart, weil sie miterlöst wurden? Miterlöst,

wie kann diese Erleichterung, dieses kühlende Wasser gemeint sein? Diese Nacherlösten, Heiligen, Märtyrer. Ist Sinai und Golgata eine andere Himmelsrichtung? Du weisst! Und der Tod lächelt. Wegweiser aus der Mitternacht zeigt – und die Kinderschuhe dieser Erde sind ausgetreten –

Ist es Anmassung, seinen Seelenweg zu gehen? Nur die Leiden, diese furchtbaren Leiden, diese Tigerzähne aus Sternenlicht, die an der Kehle sitzen, immer bereit durchzubeissen, die wagen zu bitten: um Dieses willen –

d. 16.4. 51.

Nicht das Ende bedrängen. Aber wenn die Sehnsucht das Licht an beiden Enden entzündete – was dann?

Immer an der Inbrunst Spitzen gelebt. Als Kind in den Nächten mit den schrecklichen goldenen Sonnen. Schwarzgekreuzigten. Die Eltern, die Geliebten in Angst gesucht die ganze Nacht. Tiergartenspaziergänge in der Abendsonne. Marterlicht. Plötzlich eine Wiese wiedererkannt.

Von woher? Ein Lied, ein Duft. Immer äusserstes erlebt. In der Schule Angst, das Anderssein erkennen zu geben. Immer versteckt. Der Liebling sang. … da ziehen Schwäne …so sanft das dunkle Wasser der Ruhe des Kinderschlafes sang sie herbei – Du meine Mutter!

Mein Vater brachte Birnen in das Fieber hinein – mein Vater und Musik – Menuett von Rameau. Tanz – Tanz die Augen geschlossen, viel Weinen war darin und Israels  Wüstenaugen – diese furchtbare Liebe, ein Haar vom Tod entfernt – viel Krankheit – Krieg – mein Vater, dein Leiden und die vielen Geheimnisse deiner letzten Tage – Kräfte, die zu mir gehen sollten –

Dein Segen – dann die Zeit des Entsetzens – still – hier in Schweden mit dem Liebsten  gerettet und wie oft mitgestorben. Immer auf der äussersten Grenze gelebt – Sterben geübt. Lieben ist Sterben üben.

22.5. 51.

Sehnsucht, Totengräber des Leibes. Einziger Schlüssel der in der Nacht schliesst. Schmerzen überall, bis ins Wort. Darum Schweigen. Gräber liegen ganz aussen am Rand. Träume wie Abziehbilder. Zähne ausgefallen, Hyänen Möwen gelacht. Wie Scherben gelacht. Alles zerbrochen.

Sind Träume Anfang der Prophetie?

Faden der Gnade zieht durch alle Verlorenheit!

(Sohar).

Ätherische Leibesgestalt vor Geburt, nach dem Tode? Beginnt es rot in der Nebulose – endet blau?

Liebling – tut meine Liebe etwas? Stärkt sie, und meine Schuld mindert sie? Aber die Sehnsucht scheidet die Wasser – ist vor Gut – Böse – bauen wir mit? Wie sehnt sich der  Stein?

Oder ist er vorläufig ausgesehnt? Auch Ezechiel sah nur Spiegelbilder? Das Oben spiegelt sich in einem hiesigen Ereignis, das “entspricht”! Erreiche ich Dich? Habe ich Einfluss? Etwas Verwandtes in den Wolken gesehn. Du? Schechina geht auch in die Schuld mit, übersteigt  also alle anderen Glaubensbegriffe! Blindes Ende – Vergessenheit. Ein Anderer kann die Erinnerung heraufholen. Lächeln des Kindes, das ins Feuer geworfen wurde. Dieses Lächeln holt Anila – Du – hinauf!

Bin so unruhig – wer reift in Ruhe? Ausbrechen aus dem Runden. Du weisst. Wenn ich ein bischen Leiden überspringen könnte. Meine Augen sind krank vom Salz.

Flattere in meiner Stube, putze und erwarte. Am Nachmittag mit sinkender Sonne beginnt die Erwartung. Ich spare die feine Wäsche auf. Ich nehme nichts, was so schön ist, dass du es haben könntest. Das Warten überdauert die Müdigkeit. Immer stosse ich an Wände. Die Gedanken sind Opfer einer Hetzjagd. Warum vergesse ich alles? Großer Düngerhaufen, wo das Vergessene sich fruchtbar macht. Muttererde wieder in den Garten gestreut. Duft, Duft vom Lebensbaum.

Die Zeit stirbt sichtbar in den Schatten.

Ob die Sonne anders musiziert als der Mond?

Sterbende haben Musikkrüge in den Ohren.

Es ist Abend, die Sonne wirft Zeit ins Meer,

die zerschellt blutend.

Es ist Abend, und keine Form

hält den Schmerz länger aus.

Die Inbrunst steigt aus den Gräbern

und zerreisst alle Häute.

Es ist Abend,

das grosse Heimweh bricht aus den Falten

der ältesten Gestirne,

Feuer schreibend,

und die Tränen, der Seele

sichtbare Sehnsuchtsmeteoren,

suchen in der Luft ihr irdisches Nest.

Es ist Abend,

und alle Überschüsse der Liebe

bauen musizierend

neue Welten –

die hängen an der Inbrunst –

Vom 9. Juni 1951

Dein Geburtstag am Grabe. Zwei blaue Säulenwachholder bewachen den Errinerungsstein für Winde und Vögel. Zwei Erdenengel mit dem Saft der Schöpfung.

Die Sehnsucht ist das Einzige, was über meinen Staub hinausgeht. Die Liebe liebt sie,was soll sie anderes tun. Das “Andere” ist in der Knospe, da liebt blinde Liebe hin!

Ihr Geliebten, fühlt Ihr die Vorbereitung? Grosses Warten über den Gräbern. Singen die Vögel anders? Näher, näher zu Dir!

Ich warte in meinem Zimmer. In meinem Kleid, mit meiner Alltagshand, die immer wieder den Staub von den Geräten wischt. In jeder Minute werden die Leitern höher bestiegen, die Jakobsleitern, aber immer wieder in der Sisyphuskrankheit taumle ich hinab in böse Gründe. Wer weiss, was ich mit meinen Atemzügen quäle, du und du im Rausch bist besser als ich, ihr alle. Warum sollte die Demut nicht auch im Tanz sein, eher als im schlechten Gebet. Mein Vater, meine Mutter, ihr hattet mich in vieles weiter hineingeliebt. Meinen Abend soweit fortgesteckt in der Trauer. Euer beider Tränenbrunnen laufen mit meinem Blut in die Sehnsucht. Kein Tod wartet – aber Ihr –

Ich kann nicht das Drama der Sehnsucht schreiben. Immer wieder versucht, ich kann nicht. Die Sehnsucht reisst mir das Fleisch fort. Immer so leben, immer so atmen. Niemals stehn, immer eilen, niemals anderes als die Unruhe “Dahin”. Das soll Abram dartun, aufgehalten vom bösen Durstgeist, der doch nötig ist und zu den Engeln schliesslich alles wirft. Immer fühlen, dass diese Erdkruste dazu da ist, durchbrochen zu werden, immer die Sterne ansehn als den nächsten Wegweiser, der “weiter” zeigt. Ein und aus tritt das Geheimnis in den Leib, in die Gebärde, in den Augenaufschlag, in den Atemzug ein und aus und brennt heftiger.

Darum kann sich nichts ründen, nichts im Gedicht ruhen, nichts im Drama sich vollenden, nichts sein, nur weiter, weiter. Einmal haben die Propheten ihre Worte geschleudert.

Meteore, die vielleicht siedeln im scheinbar leeren Raum zwischen den Sternen. Und Niemand unter ihnen stand auf und malte ein Bild oder schuf etwas den griechischen Statuen gleich. Das Festhalten ist wie sterben. Mein Kopf ist krank. Die gleiche Krankheit wie du meine Mutter. Es beginnt mit Vergessen. Es wird Platz gemacht für das “Neue”, und darum welkt hier alles dahin. Die Engel sind stark in den Schwachen. Wie Bienen sammelten sie bei dir. Hier ist kein “Fertigwerden”. Die Steine der Unruhe pflastern den unendlichen  Weg.

“Schaue auf das Urbild, das dir auf dem Berg gezeigt worden ist und führe es aus”. So sagt Er zu Moses. Und da Moses nicht weiss, denn er ist ein Mensch, wenn auch die Ritzen seines Leibes sich weiten, um Licht zu saugen – so zeigt Er ihm den Leuchter aus Feuer. Das Gesicht hinter dem Wort. Auch du “sahst”, weil du nicht mehr verstandest. Und ich wusste es nicht. Der Beginn wird auf Erden Krankheit genannt.

Und warum? Warum verwirft der Erdgeist alles und pflanzt die Atombombe anstelle des Brotbaumes?

Und warum vergisst er das Lächeln des Kindes, das in die Flamme geworfen wurde und dachte, es sei ein Spiel?

Und warum bedarf es des Würgers, um den Heiligen “Ah” sagen zu lassen?

Zuweilen gehe ich in meinen Küchenschrank wie in ein Ruhegebiet ein. Ordne das blaue Glas und die Teller, die ich für wenig Geld in einem Warenhaus kaufte. Auch nähe ich eine Schleife auf ein altes Kleid. Pflanze eine Blume. Und oft sprechen wir alle Freundliches über unsere Wunden hinweg.

So will Israel auch verweilen nun in seinem neu – gewonnenen Land. Gräbt und sät und schläft und wacht. Und bald werden die Quellen rieseln in den Wüsten. Und viele Kinder wachsen auf. Braune und Weisse und geben sich die Hände und singen.

Aufenthalt. Und da reibt es sich zwischen den Steinen: der Funken Weiter! “Aus der

Erlösung des Alltags wächst der Alltag der Erlösung”. Das war der Balschem. Und kein bestimmtes Handeln bewirkt die Erlösung, nur die allgemeine Weltverbundenheit. Die

Gottesknechte sind geheim. Ihr Leidenswerk in der Verborgenheit.

Er, der Daseiende in seinen Kreaturen Gegenwärtige. Die Waage wiegt. Geheimes Gesetz des Ausgleiches. Unschuldiges leidet um des Ausgleiches willen. Wie die Gesetze der Sternenbahnen, sind die Gesetze des inneren Universums alles Lebens. So kann Geschehenes nicht unwirksam bleiben. Furchtbar.

Als Er mit Abram sprach, fühlte der einen knospenden Frühling in sich aufbrechen und brannte mit den Armen ausgebreitet, wie ein Feuerkreuz auf der Sintflut. So sieht ihn das Kind. Vielleicht kann ich morgen weiter schreiben.

Ob ich zu den “furchtbaren Tagen” in den Tempel gehe. Beruhigung zwischen Wänden. Das “Quellschloss” der Verwandlungen nur leise murmelnd, von sanften Wiegenliedern bezwungen. Ruhe auf der Flucht.

13. Juli 52

Inzwischen alles verloren, was erkämpft war, scheinbar erkämpft. Dies ist nichts. Alle Finger geöffnet, und der Reichtum stürzte dahin. Zurückgeboren in die Verzweiflungen.

Aber Ruhe ist nicht bestimmt für mich. Wer weiss, wozu diese Turnübungen im Unsichtbaren.

Ein Kind in der Strassenbahn hat mich gestreichelt. Einmal, zweimal, dreimal. Ein kleines Kind mit grossen ernsten Augen. Sonst nichts, stieg aus mit der Mutter. In seinen Augen hast Du geleuchtet. Winken einer Fahne. Zuversicht. Das Schreiben ging schlecht. Den Traum verloren und im Wachen versucht zu erinnern. Falsch. Abraham leuchtet noch nicht.

Muss wieder versuchen. Einsamkeit ist der unruhigste Ort. Ort der Geburten und des Todes.

Ich kannte diesen Ort nur von einer Seite. Aber es gibt viele Eingänge, alle Seiten der Windrose.

Wohl steckt darinnen die Materie, von der die Heiligen sich nährten. Aber – aber -!

Immer wie die Brieftauben das Heimatziel finden, immer jede Minute der Heimat zuschweben – immer – blitzgebrochen, in der Abendmarterröte – in den Albumschlingungen der Nacht –

Die Wolke vor meinem Fenster spielt Sterben. Soeben noch ein Haupt im Profil, darin eine Frauengestalt, alles fort, und bildender Anfang wieder im Gold des Abends. Das Sein beginnen und wieder nichts. Und doch und doch – nicht die Religionen – aber ein Seufzer, ein Untergehn in Liebe, aber die Sehnsucht – Scham des Schlechtwerdens – Geburten aus Tod –

Alles offen – keine Gebäude – Näher zu Dir –

5. August

Nach Dalarna zur Erholung in acht Tagen.

Wozu lebe ich noch? Aber die Reife für den neuen Eingang hängt nicht mit dem Altwerden des Körpers und nicht mit den zerreissendsten Seelenqualen zusammen. Übungen im Sterben haben noch nicht die Reife gebracht, die der Apfel gebraucht, um zu fallen. Schwer von Ihm. Alle Kräfte gehen ins Leiden, nichts mehr in die Kunst.

Drüben auf dem Wasser angelt ein Knabe. Jetzt zappelt etwas Silbriges. Was hält das Silbrige aus, während ungeschickte Finger Kiemen blutig reissen? Dies würde schon genügen, um mir den Tod lieblich zu machen. Welche Gnade die gesunden Beine. Armer Krüppel. Wie soll ich mir die gesunden Glieder verdienen. Aber etwas reisst mich durch wie mürbes Leinen. Die Puppe meines Leidens eingehüllt. Wann fliegt der Schmetterling, der Überwinder der Schwerkraft?

d. 14.9. 52.

Es reden wahr die Scheidenden, verjüngen sich noch einmal.

Abrahams Gott ist verborgen, zeichenlos, aber gefühlt im Atemzug als wirkliches

Leben –

Ohne Beweise zu lieben schwer. Christus strahlt Beweis aus. Alle Traurigkeit und die schneidenste Qual sind Versuche, die unwirkliche Haut zu zerreissen, auszufahren. Zuckungen der Auferstehung.

In der Krankheit beginnt schon das Hiesige sich zu lockern. Die Sehnsucht des Sterbens –

Aber wenn das Leiden sich so steigert, so wird doch nichts anderes gefühlt als angenagelt sein im Sand; was nützt es, dass Sand rieselt – aber eine Schmerzensminute kann ein Leben übersteigen –

Ihr Geliebten, bin so vermummt in Krankheit, wann werde ich das schöne Sterben spüren?

Fallsucht Tod, Epilepsie des Sterbens.

Endlich weich fallen, ahnungslos wohin.

28.9. 52.

Heute Abend beginnt der Versöhnungstag. Jede Minute auf Erden währt dieser Tag. Er beginnt nur und endet für alle die, welche Angst vor der Wirklichkeit haben. Ich habe auch Angst. Vielleicht mehr als Alle. Aber ich muss doch immer in das Leiden blicken. Am meisten dann, wenn gesungen und getanzt wird.

Und das “Mitleiden” aus Graham Greens “Herzpunkt”. Das von Gott fortführt und beim Menschen haftet. Und erst beim geliebtesten Menschen. Und das für die Gegenwart, für den Augenblick des Leidens lebt und nicht auf lange Sicht. Das habe ich getan. Nur der Haut Erleichterung gebracht. Wenn ich nur schnell sterben dürfte. Alles, was ich mir wünschte auf Erden, ging in Erfüllung. Aber auf eine geheime Weise so, wie ich es nicht meinte, grade so, wie ich es am meisten fürchtete, grade auf dem Höhepunkt der Qual. Vielleicht endet dort die Spitze des Gebetes. Sind unsere Geheimnisse die Bausteine der Welt. Gut – Böse, die ausgestrahlten Kräfte, die das Universum immer neu schaffen. Und Er lässt gewähren, bis Er im Tod eingreift, bei der Geburt eingreift oder sich die Verwandlung in Seine Hände spielt. Aber da ist Er immer.

27. Mai 53

Operation. Endlich. Etwas Qual herauslassen.

Juni 53

Zurückgekehrt. Wir haben soviel geredet im Schweigen. Trafen uns. Jetzt singt mein Gebein. Eine Muschel, die verrauschte Meere hielt.

Een gedachte over “Nelly Sachs: Briefe aus der Nacht

  1. Ja, es ist eigenartig, verstörend dass die (geliebten, nahen, wichtigen) Toten zu uns klarer sprechen, als sie es im Leben je taten. Schon klar, der Alltag, ihr Alltag, ihre eigenen Gedanken kommen nicht mehr dazwischen sondern es spricht nur noch unser Erinnern. Holt manches aus verschüttetem Erinnern hervor.Aber auch wenn wir das wissen, wie tief rührt es uns an!

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