Religiöse Gewissheit

Meine religiöse Gewissheit

Da ich immer wieder von »religiöser Gewissheit« und vom »Tathāgata« spreche, möchte ich in diesem Essay kurz definieren, was ich unter »religiöser Gewissheit« und »Tathāgata« verstehe.
Religiöse Gewissheit bezieht sich auf den Geist, der auf den Tathāgata vertraut. Es konnte den Anschein haben, als waren Vertrauen und Tathāgata zweierlei, doch meiner Meinung nach ist das nicht der Fall. Sie beziehen sich auf ein und dieselbe Wirklichkeit.
Was ist meine religiöse Gewissheit? Mein Vertrauen auf den Tathāgata. Was ist der Tathāgata, auf den ich vertraue? Das ursprüngliche Grundwesen, das meiner gläubigen Existenz zugrunde liegt. Würde ich konventionelle Ausdrücke wie »der Glaubende« (nōshin) und »geglaubt« (shoshin) bzw. »einer, der glaubt« (ki) und »zu glaubende Wahrheit« () verwenden, dann würde ich sagen, dass Vertrauen sich auf den »Glaubenden« oder »einen, der glaubt« bezieht und Tathāgata auf »geglaubt« oder »zu glaubende Wahrheit«. Doch vielleicht würde die Verwendung dieser Termini die Diskussion eher verdunkeln als erhellen, deshalb verzichte ich auf sie.
Ich mochte drei Fragen beantworten: 1. Was meine ich, wenn ich sage, »ich vertraue«? 2. Warum vertraue ich? 3. Welchen konkreten Nutzen hat Vertrauen? (Zur Vereinfachung der Diskussion wollen wir mit der dritten Frage beginnen und uns dann zur ersten zurückarbeiten.)

  1. Der konkrete Nutzen des Vertrauens besteht für mich darin, dass ich eine Erleichterung von Kummer und Leid erfahre, wenn ich Vertrauen habe. Ich konnte dies vielleicht den Nutzen der Erleichterung nennen. Sobald in meinem Geist dieses Vertrauen entsteht, vertreibt es jedenfalls all meinen Kummer und all meine Leiden und lässt mich sofort ruhig und friedvoll werden.
    Wenn dieses Vertrauen in meinem Geist entsteht, erfüllt es ihn so restlos, dass kein Raum bleibt für Täuschungen und falsche Vorstellungen. Wie quälend die Umstande auch sein mögen, in denen ich mich befinde, solange dieses Vertrauen in meinem Geist gegenwärtig ist, verspüre ich weder Kummer noch Leid. Als der extrem empfindliche und irritierbare Kranke. der ich bin, wurde ich ohne dieses Vertrauen nie eine Linderung meiner immer größer werdenden Kummernisse und Leiden erfahren.
    Ich bin überzeugt, dass dieses Vertrauen auch für gesunde Menschen, denen großer Kummer und großes Leid widerfahren, unentbehrlich ist. Ich habe bisweilen von meiner religiösen Dankbarkeit gesprochen. Unter »religiöser Dankbarkeit« verstehe ich die Freude, die ich erlebe, wenn ich aufgrund meiner religiöse n Gewissheit tatsächlich eine Linderung meines Kummers und meiner Leiden erfahre.
  2. Die Gründe für mein Vertrauen in den Tathāgata: Ein guter Grund ist der oben erwähnte Nutzen, aber es gibt noch einen anderen Grund. Von konkretem Nutzen kann man ja nur dann sprechen, wenn bereits Vertrauen vorhanden ist. Vorher kann man einfach nicht wissen, ob sich daraus ein konkreter Nutzen ergibt oder nicht. Wenn wir hören, was andere darüber sagen, können wir natürlich an seinen Nutzen glauben.
    Aber meistens vermittelt uns das nur eine vage Vorstellung von der Art des Nutzens. Wenn wir wissen mochten, ob Vertrauen wirklich etwas nützt oder nicht, müssen wir mit uns selbst religiös experimentieren.
    Ich vertraue auf den Tathāgata, aber nicht nur des konkreten Nutzens wegen, sondern auch aus einem anderen wichtigen Grund. Ich vertraue auf den Tathāgata, weil ich realisiere, dass mein Intellekt begrenzt ist. Abgesehen von einer Zeit, in der ich das Leben nicht ernst nahm, hatte ich immer den brennenden Wunsch, den Sinn meines Lebens zu ergründen. Das Ergebnis dieser Suche war die Einsicht, dass ich den Sinn meines Lebens nicht zu ergründen vermochte. Und diese Einsicht hat dazu geführt, dass ich dem Tathāgata vertraue. Doch nichtjeder macht dieselbe Entwicklung durch, um religiöse Gewissheit zu erlangen. Man konnte also einwenden, dass das, was ich tat, nicht nötig gewesen wäre, um dem Tathāgata zu vertrauen. Ich bin jedoch anderer Meinung. Für mich war dieser Weg nötig. In meiner religiösen Gewissheit bin ich mir nun der völligen Nutzlosigkeit meiner eigenen Anstrengungen sicher. Um das einzusehen, musste ich immer wieder alle möglichen intellektuellen Untersuchungen anstellen, bis ich endlich den Punkt erreichte, an dem ich die völlige Vergeblichkeit derartiger Anstrengungen erkannte. Es war ein äußerst schmerzhafter Prozess. Bevor ich diesen allerletzten Punkt erreichte, hatte ich manchmal den Eindruck, ich hatte ein paar [eigene] Gedanken zur religiöse n Gewissheit entwickelt. Doch sie wurden einer nach dem anderen restlos widerlegt. Derart bittere Erfahrungen waren unvermeidlich, solange ich religiöse Gewissheit auf logische oder wissenschaftliche Forschungen zu gründen gedachte. Nach diesem schwierigen Prozess realisierte ich endlich, dass ich außerstande bin, Gut oder Böse, Wahrheit oder Unwahrheit, Glück oder Unglück zu definieren. Im Bewusstsein meiner totalen Unwissenheit vertraue ich nun alles dem Tathāgata an. Innerhalb meiner religiöse n Gewissheit ist dies der entscheidende Punkt.
  3. Wenn ich von meiner religiösen Gewissheit spreche, meine ich damit mein Vertrauen auf den Tathāgata. Tathāgata ist das zugrundeliegende Urwesen, auf das ich nicht nur vertrauen kann, sondern auf das zu vertrauen ich nicht umhinkann. Mit dem Tathāgata, dem ich vertrauen kann, meine ich das Urwesen der Kraft, durch das ich mein Leben, so wie es ist, leben kann, weil meine eigenen Anstrengungen dazu nicht ausreichen und nicht imstande sind, mich als unabhängiges Seiendes zu erhalten. Ich kann nicht zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Unwahrheit, Glück und Unglück unterscheiden. Und in dieser Welt, die Entscheidungen verlangt, vermag ich nicht zu entscheiden, ob ich nach links oder nach rechts, ob ich vorwärts oder rückwärts gehen soll.
    Dank dem Urwesen der Kraft, die ich Tathāgata nenne und der ich vertraue, kann ich in dieser Welt ruhig und in Frieden leben. Ohne dieses Vertrauen kann ich weder leben noch sterben. Ich muss dem Tathāgata vertrauen. Ich kann nicht anders als dem Tathāgata zu vertrauen.

Damit habe ich die drei Fragen, die ich zu Beginn stellte, kurz beantwortet. Der erste Punkt – dass das Vertrauen in den Tathāgata für mich den Nutzen der Erleichterung [von Kummer und Leid] hat – bedeutet, der Tathāgata ist unendliches Mitgefühl. Der zweite Punkt – dass Vertrauen Realität wird, wenn meine intellektuellen Bemühungen an ihre Grenzen stoßen – bedeutet, der Tathāgata ist unendliche Weisheit. Der dritte Punkt – dass das Vertrauen in den Tathāgata mir ermöglicht zu leben – bedeutet, der Tathāgata ist unendliche Kraft. Meine religiöse Gewissheit bezieht sich also auf meine Gewissheit hinsichtlich der Wirklichkeit des unendlichen Mitgefühls, der unendlichen Weisheit und der unendlichen Kraft.

(1) Da der Tathāgata unendliches Mitgefühl ist, schenkt er mir Frieden und Ruhe, wenn meine religiöse Gewissheit fest gegründet ist. Ich muss nicht auf die Welt nach dem Tod warten, weil der Tathāgata, dem ich vertraue, mir bereits in diesem Leben das größte Gluck geschenkt hat. Das heißt nicht, dass andere Dinge mich nicht auch glücklich machen. Sie können mir durchaus ein gewisses Maß an Gluck bescheren. Doch nichts schenkt mir solch unermessliches Gluckwie meine religiöse Gewissheit. Deshalb ist das Glück, das mir die religiöse Gewissheit beschert, in diesem Leben das größte. Es ist das Glück, mit dem ich tagein, tagaus konkrete Erfahrungen [Experimente] mache. Ober das Glück in der Welt nach dem Tod kann ich nichts sagen, weil ich damit noch keine konkreten Erfahrungen [noch nicht experimentiert] habe.

(2) Da der Tathāgata unendliche Weisheit ist, beschützt er mich unablässig, indem er mich erleuchtet, das Dunkel meiner Unwissenheit vertreibt und mich von Täuschungen und falschen Ansichten befreit. Der Macht der Gewohnheit folgend, lasse ich mich versehentlich immer wieder auf sinnlose Tätigkeiten wie wissenschaftliche Recherchen oder Untersuchungen ein. Manchmal versuche ich sogar, mit Hilfe meinesendlichen und naiven Denkens die Wirklichkeit des Unendlichen zu beweisen. Aber selbst wenn ich dieser Gewohnheit erliege, erkenne ich doch bald, wie sinnlos sie ist, und lasse, dank meiner religiösen Gewissheit, von ihr ab.
Sokrates sagt: »Wisse, dass da nicht weißt. Das ist Wissen.« In der Tat, dies ist der Gipfel menschlichen Wissens, aber es zu akzeptieren fallt uns nicht leicht. Früher hatte ich alle möglichen überheblichen Ansichten. Aber nun weiß ich, dank meiner religiöse n Gewissheit, die Demutsnamen zu schätzen, die unsere Lehrer sich gaben – Namen wie »Hōnen, der Narr« (Guchi no Hōnen-bō) oder »der törichte Glatzkopf Shinran« (Gutoku no Shinran). Nun gebe ich mich damit zufrieden, dass auch ich unwissend bin.
Obwohl mir bewusst war, dass der menschliche Intellekt endlich und unvollkommen ist, kam ich nicht von der irrigen Vorstellung los, ich konnte eine absolute Grundlage der Ethik und der Religion entdecken oder die Wirklichkeit des Unendlichen durch den menschlichen Intellekt erklären. Früher dachte ich, die Welt brache zusammen und die Gesellschaft würde ins Chaos stürzen, wenn ich kein Kriterium zur Beurteilung der Wahrheit und von Gut und Böse fände. Doch nun bin ich der festen Oberzeugung, dass ich ein solches Kriterium auf der Grundlage des menschlichen Intellekts unmöglich aufstellen kann.

(3) Da der Tathāgata unendliche Kraft ist, stattet er mich durch meine religiöse Gewissheit mit der großen Kraft zu leben aus. Normalerweise verlassen wir uns bei unseren Entscheidungen auf den gesunden Menschenverstand. Wenn die Dinge kompliziert werden, funktioniert das aber nicht mehr. Dann fangen Menschen wie ich an, nachzudenken, zu überlegen und zu forschen, weil sie irgendeine Grundlage von Ethik und Religion entdecken mochten. Das führt dazu, dass ich mich immer weniger zu entscheiden vermag, wie ich mich verhalten soll, und in größte Verlegenheit gerate. Wir alle wissen, dass wir nicht unbedacht daherreden sollten; dass wir uns nicht ungehörig benehmen sollten, nicht das Gesetz brechen, nicht unmoralisch handeln, nicht unhöflich sein und unsere Manieren nicht vergessen sollten. Und wir wissen auch, dass wir Verantwortung für uns selbst, für Fremde, Eltern, Mann, Frau, Kinder, Schwestern, Brüder, Freunde, für gute und für schlechte Menschen, für Alte und Junge übernehmen müssen.
Dabei erwähne ich hier nur die elementarsten ethischen Prinzipien, und selbst deren Befolgung fallt uns schwer. Jeder, der ernstlich versucht hat, jedes seiner ethischen Prinzipien zu befolgen, wird zugeben müssen, dass dies ein unmögliches Pensum ist. Ich habe sehr unter diesem lastenden »Unmöglich« gelitten. Hatte ich keine andere Aussicht gehabt, als diese unmögliche Last tragen zu müssen, hatte ich mir schon längst das Leben genommen. Die Religion hat mich aber von meinem Leiden erlöst, ich brauche nicht mehr an Selbsttötung zu denken. Das heißt, durch mein Vertrauen in den Tathāgata, das unendliche Mitgefühl, habe ich nun Frieden und bin getröstet.
Wie ermöglicht mir der Tathāgata, das unendliche Mitgefühl, zu diesem inneren Frieden zu gelangen? Nicht anders, als dass er die ganze Last meiner Verantwortung auf sich nimmt. Nichts vermag das Wirken des Tathāgata aufzuhalten, nicht einmal das ärgste Übel. Ich brauche mir nicht den Kopf zu zerbrechen, was gut oder böse, richtig oder falsch ist, denn es gibt nichts, was ich nicht tun dürfte. Ich handele, wie es mir gefallt, und tue, wonach mir der Sinn steht. Ich brauche mir nicht wegen jeder einzelnen Handlung Gedanken zu machen, nicht einmal, wenn sie sich als Fehler oder Verbrechen herausstellt. Der Tathāgata nimmt die Last der Verantwortung für alle meine Taten auf sich. Ich brauche nur dem Tathāgata zu vertrauen, um in immerwährendem inneren Frieden zu leben. Die Kraft des Tathāgata ist grenzenlos. Die Kraft des Tathāgata ist unvergleichlich. Die Kraft des Tathāgata ist allgegenwärtig. Sie erfüllt alles und wirkt frei und ungehindert. Wenn ich mich der wunderbaren Kraft des Tathāgata überlasse, habe ich großen Frieden und bin getröstet. Ich vertraue die große Frage von Leben und Tod dem Tathāgata an und kenne keine Angst und keine Unzufriedenheit mehr.
»Leben und Tod, Reichtum und Adel sind verordnet durch die Verfügung des Himmels«, so lautet eine Stelle in den Analekten des Konfuzius. Der Tathāgata, dem ich vertraue, ist der Wesensgrund dieser Verfügung des Himmels.

Kiyozawa, Manshi, Skelett einer Religionsphilosophie, Berlin 2017, (Matthes &Seitz), pag. 69-77