Wie ein Fächer im Dezember
- Oktober 1898
Unser wahres Selbst ist nichts anderes als dies: dass wir unsere Existenz restlos dem wunderbaren Wirken des Unendlichen anvertrauen und uns dann, so wie wir sind, in unserer jeweiligen Situation einrichten.
Haben wir uns dem Unendlichen anvertraut, sind Leben und Tod nicht mehr von Belang. Sind selbst Leben und Tod nicht mehr von Belang,
braucht man sich um weniger wichtige Dinge nicht zu sorgen. Verbannung ist hinnehmbar, Gefängnis erträglich. Und gibt es etwa Verleumdung, Zurückweisung oder Demütigung, das uns aus der Ruhe bringen konnte? Nein, das gibt es nicht. Selbst wenn uns solche Dinge zu schaffen machen und quälen, können wir sie nicht ändern. Daher sollten wir uns einfach an dem erfreuen, was das Unendliche uns gegeben hat.
pag 37 - November 1898
Die Myriaden von Veränderungen und Verwandlungen aller im Universum existierenden Dinge sind das wunderbare Wirken der einen
großen unbegreiflichen Kraft. Meistens halten wir diese Dinge für selbstverständlich. Es sind gewöhnliche Phänomene. Wir empfinden keine Ehrfürcht. Hatten wir keinen Verstand und kein Empfinden, wäre es sinnlos über derlei zu sprechen. Da wir diese Fähigkeiten aber haben,
betrügen wir uns dann nicht selbst, wenn wir keine Ehrfürcht empfinden?
Die Ursache für das Wahrnehmen einer Farbe oder das Erkennen eines Dufts ist nicht die Kraft der Farbe oder des Duftes selber. Diese Vorgänge fanden nicht statt, wenn die eine große unbegreifliche Kraft sie nicht in Gang setzte. Und was für Farben und Düfte gilt, gilt das nicht auch für das Selbst? Es ist nicht an uns zu bestimmen, woher das Selbst kam und wohin es geht. Wir sind ohnmächtig – nicht nur, was die Dinge vor unserer Geburt und nach unserem Tod betrifft, sondern auch was das Kommen und Gehen unserer Gedanken in diesem konkreten Augenblick angeht. Wir sind restlos der Kraft-jenseits-des-Selbst ausgeliefert.
pag 38

Kiyozawa, Manshi, Skelett einer Religionsphilosophie, Berlin 2017, (Matthes &Seitz)