Geistiges Innewerden

Kiyozawa, Manshi, Skelett einer Religionsphilosophie, Berlin 2017, (Matthes &Seitz) pag 25-29


Es ist wichtig, dass wir unser Leben auf festen Grund bauen. Ohne feste Grundlage sind all unsere Bemühungen vergeblich, denn das wäre als wollte man Kunststücke auf einer Wolke vollführen – ein unmögliches Unterfangen: die Akrobaten wurden mit Sicherheit abstürzen.
Wie gelangt man auf diesen festen Grund? Meiner Meinung nach gelingt das nur durch die Begegnung mit dem Unendlichen oder Absoluten. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob das Unendliche innen ist oder außen. Es ist dort, wo der Suchende es findet, deshalb können wir vom Unendlichen nicht sagen, es sei innerlich oder äußerlich. Auf festen Grund gelangen wir nur durch die Begegnung mit dem Unendlichen. Den inneren Entwicklungsprozess, durch den wir auf diesen vollkommen festen Grund gelangen, nennen wir geistiges Innewerden.
Geistig innewerden heißt, Zufriedenheit ausschließlich im Reich des Geistes finden. Ein sich geistig innewerdender Mensch wird nicht Opfer von Kummer und Enttäuschung, die durch seine Jagd nach Dingen oder Menschen entstehen.
Auch wenn er vielleicht äußere Ziele verfolgt, tut er das nicht aus einem Gefühl des Mangels heraus. Wie konnte ein sich geistig innewerdender Mensch Unzufriedenheit empfinden? Findet er doch Zufriedenheit im Unendlichen und nicht auf dem endlichen, begrenzten Gebiet der Dinge und Menschen.
Es wäre aber verkehrt zu sagen, geistiges Innewerden lasse uns unserer Umgebung gegenüber gleichgültig werden. Im Gegenteil je mehr sich unser geistiges Innewerden vertieft, desto leichter können wir ohne Enttäuschung und Kummer mit anderen Menschen umgehen und diese Aktivitäten sogar zu einem sinnvollen Teil unseres Lebens werden lassen. Die folgende Stelle beschreibt, wie wir aufgrund von geistigem Innewerden mit äußeren Phänomenen umgehen.

Wird der eigene Geist reiner,
wird das Buddha-Land reiner.
(Vimalakīrti Sūtra)

Wenn wir betonen, Zufriedenheit solle allein im eigenen geistigen Bereich gesucht werden, könnten Kritiker argwohnen, andere Menschen seien uns gleichgültig. Doch geistiges Innewerden meint weder die ausschließliche Beschäftigung mit sich selber noch Teilnahmslosigkeit anderen gegenüber. Es erkennt einfach, dass wir anderen
erst dann helfen können, ein stabiles religiöses Fundament zu legen, wenn wir dieses Fundament bei uns selber gelegt haben. Wenn wir erkennen, dass wir es erst dann mit anderen teilen können, wenn wir es bei uns selber gelegt haben, müssen wir uns zuerst selber am ein solches Fundament bemühen. Dies ist die Reihenfolge, in der wir geistiges Innewerden entwickeln.
Geistiges Innewerden verneint die Beziehung zu anderen Menschen nicht, sondern bejaht sie, weil durch Beziehung ihr und unser Glück wachsen kann. Deshalb ist geistiges Innewerden nicht das Bekenntnis von Einsiedlern oder passiven Menschen. Vielmehr unterstützt und fordert es durch friedliches Zusammenwirken das Wohlergehen des Volkes und der Nation.
Geistiges Innewerden meint eine Lebensweise in absoluter Freiheit. Alle Hindernisse, die uns begegnen, sind von uns selber gemacht und können nicht den Menschen unserer Umgebung zur Last gelegt werden. Wir sind absolut frei und die anderen auch, ohne dass es zum Konflikt zwischen ihrer und unserer Freiheit kommt. Dies ist für geistiges Innewerden die ideale menschliche Beziehung.
Weshalb sind dann im Alltag aber Konflikte zwischen unserer Freiheit und der anderer unvermeidlich? Einfach deshalb, weil unsere Freiheit nicht jene absolute Freiheit ist, die sogar mit absoluter Unterordnung vereinbar ist. Die absolute Freiheit geistigen Innewerdens erlaubt uns, unsere Haltung in jeder gegebenen Situation so zu modifizieren, dass sie mit der Freiheit anderer harmoniert. Dann gerat unsere Freiheit niemals mit der anderer in Konflikt.
In Zusammenhang mit der Unterordnung müssen wir freilich noch auf etwas sehr Wichtiges eingehen, nämlich dass es Enttäuschung und Kummer in unserem Leben gibt. Geistiges Innewerden geht von einem einzigen unverrückbaren Prinzip aus: Alle Leiden sind Illusionen, die aufgrund falscher Vorstellungen entstehen. In geistigem Innewerden sind andere Menschen ebenso wenig Ursache meines Leidens wie ich
Ursache ihres Leidens. Auch wenn es zuweilen so scheint, dass andere mir Leid zufügen, sehe ich in geistigem Innewerden, dass all mein Leiden auf meine falschen Vorstellungen zurückgeht.
In dem Masse, in dem wir geistiges Innewerden vertiefen, wird unser Leiden – die bloße Illusion, die durch falsche Vorstellungen entstehweniger und verschwindet schließlich ganz. Dann haben wir festen Boden unter den Füssen.
Zum Schluss: Geistiges Innewerden sollte in jeder Phase unseres Lebens praktiziert werden. Das Prinzip, das ihm zugrunde liegt, ist der feste Glaube, dass es Zufriedenheit nur im Bereich des inneren Lebens gibt. Wenn es seine Kraft nach außen zur Geltung bringt, eliminiert es das Leiden, das bei der Jagd nach Dingen und Menschen entsteht. Durch friedliches Zusammenwirken mehrt es das Glück aller. Vollkommene Freiheit und vollkommene Unterordnung sind keine Gegensatze. Sie harmonieren konfliktlos miteinander. Diese Freiheit genießend, können wir alles Leiden, das zwischen uns und anderen entsteht, eliminieren.

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