RACHEL
LIEDER
HEBRÄISCH UND DEUTSCH
AUSGEWÄHLT UND ÜBERSETZT VON RUTH OLLENDORF – 2e AUFLAGE 1937
HECHALUZ-VERLAG – JÜDISCHER BUCHVERLAG UND BUCHVERTRIEB BERLIN
GELEITWORT.
Warum hört man Rachels Lieder mehr als andere im Land singen, warum lieben wir sie so sehr? Es gibt sicher Dichter, deren Gedankenwelt vielfältiger, deren Sprache kühner und reicher ist. »Mein Herz hängt an der Sprache der Kinder, der einfachen, schlichten« sagt .sie und »Nur von mir selbst weiß ich zu singen«. Wenn wir die drei Bände Gedichte durchblättern, so werden wir vom ersten bis zum letzten keine Entwicklung, kaum eine Veränderung spüren. Sie alle sind eigentlich Teile eines einzigen Liedes, eines einfachen: Von der Erde, von der Liebe und vom Tod. Wer das Bild der Neunzehnjährigen anblickt, das ernste Gesicht mit den scheuen Augen, der ahnt, wie verletzlich diese Seele war und begreift die schmerzliche Geschichte ihrer Liebe, die ihr die Erde beseelte und die sie in den Tod geleitete. Sie erfüllt Nietzsches Wort: »Ich liebe den, der tief ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnis zugrundegehen kann. So geht er gern über die Brücke«. Weil Rachels Lieder mehr und anderes sind als Literatur, darum gehört sie nicht uns allein, nein, allen, die heute, müde der leeren Worte, in die Welt hinauslauschen. Unsere jungen Chawerim aber, die hinausziehen in ein Land, das ihnen noch fremd ist, sollen diese Lieder mitnehmen, und sie sollen ihnen helfen, die alte und die neue Heimat, die alte und die neue Sprache miteinander zu verknüpfen. Gibt nicht Rachel selbst ihnen den Mut dazu? Sie kam spät ins Land, auch sie kam aus einer anderen
Kultur, die sie liebte und die ihr immer teuer blieb, und dennoch ist sie wie wenige mit Erez Israel verwachsen: mit seiner Sprache, seinen Gestalten einst und jetzt, mit seiner Landschaft. Die selben Lieder sollen die Jungen den Alten dalassen. Ihnen, die nur von fern das Land ihrer Kinder sehen dürfen, nur dem unverstandenen Klang der alt-jungen Sprache lauschen können, und die Liebe zu Rachel soll ein Band mehr sein, das die Herzen hüben und drüben verknüpft.
RACHEL
Ja, ihr Blut strömt in meinem Blut,
Ja, ihre Stimme raunt in mir.
Rachel, die Labans Hirtin war,
Rachel, Urmutter mir.
Darum ist mir zu eng das Haus
Und fremd die Stadt,
Weil einst ihr Mantel im Gebraus
Des Wüstensturms geflattert hat.
Darum erfass ich meinen Weg
Mit solcher Sicherheit:
Mein Fuß wahrt noch die alte Kraft
Aus jener, jener Zeit.
SCHEIDEWAND
Ich weiß, ich war erst ein Kind,
Da begleitet’ mich heimliches Leid,
Ich war anders, geschieden von allen
In meinem Trauerkleid.
Die Tage floh’n -ich bin nicht mehr
Ein Kind unter Kinder nur.
Doch das Leid ist nicht geschwunden,
Noch zeichnet mich seine Spur.
Noch immer scheidet die Wand
Zwischen mir und den andern, noch heut
Ist meine Seele einsam
In schwarzer Verlassenheit.
MIT DEM MORGENROT
Den Wasserkrug in der Hand, auf der Schultet
Hacke, Spaten und Korb.
Zu den fernen Feldern, zum Werk!
Zur Rechten die Berge als Schutzwacht,
Vor mir die weite Flur,
Und in mir meiner Jugend Frühlingsjubel!
Das sei mein Teil, bis das Ende naht:
Dein Korn, das wogt im Sonnenglanz,
Und Deiner Wege Staub, mein Land,
AUF DER TENNE
Weißt du noch manche Nacht
Auf dem Garbenhaufen oben?
Ha! Wie der erste Strahl uns geweckt,
Der in der blinkenden Forke lacht.
Wie in der Nacht im Schlaf
All’ die Ströme von Licht,
Die tränkten die Fluren der Heimat,
Uns überströmten, uns labten, segnend uns grüßten!
Und noch leuchten sie mir immerfort,
MELKEN IN DER NACHT
Im Hof des Mondes Grauen,
Kalte Flammen, dumpfe Ruh’.
0, rasch! Such’ Zuflucht! Zum Stall!
Zur warmen, atmenden Kuh!
Den großen gehörnten Kopf
Streichl’ ich mit leisem Beben,
Tausend dunkle Fäden verweben
Ihr Leben und mein leben
SABBAT
Des Jordans Ufer. Tag voll Glanz.
Ein Fischerkahn. Ich lieg, ich trink’
Den Frieden ganz.
Ich schau’ hinauf. O, wieviel Licht!
Wie in der Kindheit ist mein Herz:
Auch nicht ein Wolkenschatten,
Nun weiß ich: Alles hab’ ich hier,
Anfang und Ende. Wer da darbt
Komm’, teil’ mit mir.
WIDERHALL
Ich denk’ daran : Rings türmten sich
Die Berge wie ein Wall.
Vom höchsten Gipfel jubl’ ich weit
Mein Lied: Hedad! Die Jugendzeit I
Und Antwort gibt der Widerhall.
Die Jahre floh’n, das Gold verblich,
Was Gipfel war, ward Tal.
Nur eins blieb kraftvoll wie es war
Sein denk’ ich heut’ – das klingt so klar:
Der· Berge Widerhall.
Selig das Herz, das sich bewahrt
Am Tag’ voll bitt’rer Qual,
Sei es ein Bild, ein Klingen nur,
Sei’s eines Lichtes Schattenspur,
Sei’s nur ein Widerhall.
HIER AUF DER ERDE
Hier auf der Erde, nicht droben in Wolken,
Auf unserer nahen Erde, der Mutter
Leiden an ihrem Leid, Frohsein mit ihrem armen Glück,
Das so gut trösten kann.
Nicht Traumnebelmorgen-das greifbare Heute,
Den heißen, starken Feuerstrom
Schlürfen, dies kurze, einzige Heute,
Auf unserer Erde hier.
Kommt, eh’ es Nacht wird, kommet all’!
Tausend Arme trutzgestemmt
Sollten nicht zwingen, rollen endlich
Den Stein vom Brunnenmund?
AN MEIN LAND
Nicht sang ich dir, mein Land,
Nicht pries ich deinen Namen
Durch tapfre Heldentaten,
Durch mächt’ge Schlachtenbeute,
Nur einen Baum – den pflanzten meine Hände
An des Jordans stillen Ufern.
Nur einen Pfad – den bahnten meine Füße
Ober deine Felder.
Ach, sie ist sehr gering,
Ich weiß es ja, o Mutter,
Ach, sie ist sehr gering,
Die Gabe deiner Tochter,
Ist nur ein Jubellaut,
Am Tag’, wo Licht uns strahlt,
Ein heimlich Weinen nur
Ob deiner Not
PFLANZTE DICH IN MEINEN GARTEN
Pflanzte dich in meinen Garten,
Schlichten Garten, in mein Herz.
Sproßtest, schmücktest dich mit Zweigen,
Senktest Wurzeln tief ins Herz.
Und vom Morgengrau’n zur Nacht
Nimmer ruht, noch schweigt der Garten:
Du in tausend Vogelstimmen
Du, du singst ja in dem Garten!
SANG
Morgens und abends von dir und dir;
Von dir und dir sang all’ mein Lied.
Sturm und Stille, Jubel und Weinen,
Wunde und Balsam, Krankheit und Trost.
Manchmal erreicht’ mich kein Laut deiner Antwort.
Manchmal zerriß die Kette beinah.
Nur eine Weile – und wieder sangen,
Sangen Verachtung und Liebe von dir.
Von dir und dir, von dir und dir,
Auf tausend Harfen ein einziger Sang.
Sturm und Stille, Jubel und Weinen,
Wunde und Balsam, Dunkel und Licht.
DIE KINDERLOSE
Oh hätt’ ich ein Kind, einen kleinen Sohn,
Mit schwarzen Locken und klug!
Ich faßt’ seine Hand, er trippelt’ mit mir
Auf den Gartenweg schon.
Einen kleinen
Sohn.
Uri hieß’ ich ihn, Uri mein,
Zart klingt der kurze Name und hell,
Ein klarer Quell,
Meinen schwarzbraunen Sohn,
“Uri!”
Würd’ ich ihn heißen.
Noch leid’ ich wie Mutter Rachel Weh,
Noch muß ich wie Hanna betend knien,
Noch warten
Auf ihn.
NÄCHTE VON EINST
Alles so anders, anders – ein Traum.
Zu unbekannten Ufern gleiten leis’
Auf dem Kinneret du und ich,
Im Kahn die Segel leuchten weiß.
Aus Mondstrahlen knüpften wir beide das Seil,
Das uns von je verbunden hat.
Der Traum log nicht. Ja, heut’, noch heut’
Wandeln wir auf vergoldetem Pfad’.
Von fern an ihn denken erfrischt wie ein Quell,
Der in schwüler Glut uns kühlen mag.
Eine Mondnacht – doch ihr Licht fließt hell
Über manchen späten Tag.
EIN VERSCHLOSSENER GARTEN
Wer bist du? Sag’. warum ergreift die Hand,
Die ausgestreckte, nicht die Schwesterhand?
Nur eine Weile warten deine Augen –
Schon hast du sie verwirrt gesenkt und abgewandt.
Ein verschlossener Garten – kein Weg hin, kein Steg,
Ein verschlossener Garten – ist der Mensch. Ich stand
Lange. Geh ich oder schlag’ ich, bis ich blute,
An die Felsenwand?
DIE EIFERSUCHT
Sie gleicht einem Vogel mit mächtigen Schwingen,
Ödland sein Sitz und wild.
Er flattert umher und spannt sich weit,
Eines grausigen Kreuzes Bild.
Die Augen des Vogels, die Augen sind krank,
Ein Abgrund – du ergründest ihn nicht.
Daraus blickt ewige Pein dich an,
Fremd ist ihnen Tageslicht.
Mit dem Vogel schwebten wir über der Nacht,
Jedem Menschen verborgen.
Nur am Abend fanden wir keine Ruh’,
Noch blasser sind wir am Morgen.
Doch an den Zeichen jener Nacht
Erkennt ihr einander: Ihr wißt
Auf den Lippen das schwarze Mal,
Das der furchtbare Vogel geküßt.
MEIN ALLES SAGT’ ICH
Mein Alles sagt’ ich bis zur Neige.
All’ meine Zweige pflückt’ ich leer.
Ich schweige.
Wirst du mein Stummsein hören,
Und hast doch meine Worte nicht gehört?
DER BERGMANN
Notschrei des Hammers in sinkender Hand,
Tief in des Bergwerks Schacht :
»Noch lebe ich! Wo bist du, Freund?
Ein Zeichen! Antwort! Hab’ acht!«
Noch ein Tag, eine Nacht- kein Lauschen, kein Laut,
Noch ein Tag, eine ganze Nacht geh’n um;
Da fällt der Hammer aus matter Hand,
Nun bleibt er auf ewig stumm.
Ich bin dem Verderben entronnen wie er,
1m Warten verzehr’ ich mich.
Auch mein Los ist’s, so ins Leere zu schrei’n:
»Noch lebe, lebe ich!«
Minuten sind Stunden – jede versehrt
Die Hoffnung, die »Morgen« fleht.
Die Hilfe der Kameraden kommt.
Doch, müder Bergmann, zu spät!
SCHLAFLOSE NACHT
Wie müd’ ist das Herz in schlafloser Nacht,
In schlafloser Nacht das Joch wie schwer!
Streck’ ich die Hand aus, zerreiß ich den Faden?
Zerreiß ich den Faden, und bin nicht mehr?
Doch der Morgen ist Licht. Mit reiner Schwinge
Klopft er ans Fenster in leiser Gewalt.
Zerreißen will ich den Faden nicht.
Bald, mein Herz, warte nur, bald!
AN DIE BERGE
Ich lieb’ euch, ihr seid höher als die Erde.
Und tragt ein reines blaues Kleid.
Der Weg zu eueren verborg’nen Triften
Ist weit, gar weit.
Mein Leid will ich mir auf die Schulter laden,
Wie eure Herrschaft fordert: Unbeirrt
Hinanzuklimmen, ein bescheidener Bote,
Dessen, der nach mir kommen wird.
NACHBAR
Ich seh’ ihn nicht,
Und dennoch denk’ ich sein.
Ganz fest gedenk’ ich sein: Er ist, und er ist hier.
Vor aller Angst der Nacht beschirmet und bewacht
Sein helles Fenster mich: das Viereck goldenen Lichts.
Gedächten wir: er ist.
0, dürften wir nur wissen:
Es ist ein Unsichtbarer, doch wirklich wie das Licht.
Das Fühlen seiner Nähe läg’, eine sanfte Hand,
Auf aller Kummermüden feuchter Stirn.
JA, SOLCHE MÜSSEN SCHON
IM FRÜHLING STERBEN
Zum Gedenken an B. K. und E. F.
Ja, solche müssen sehen im Frühling sterben,
Das weiß ich wohl.
Das Leben schwillt, das Leben jauchzt
In tausendstimm’ gern Schall;
Und alle Dinge tun sich auf
Ins Weite auf einmal.
Der Mensch traut sicher auf sein Glück,
Ist lauter wie ein Kind.
Des Lebens Rätsel ist ihm klar,
Des Lebens Last ihm lind.
Ja, solche müssen schon im Frühling sterben –
Ist’s Segen oder Fluch?
DAS SCHICKSAL GEBOT …
Das Schicksal gebot:
Fern deinen Feldern leb’ ich nun,
Doch laß, Kinneret,
Laß mich bei deinen Gräbern ruhn.
Der Stätte sanfte Trauer
Schweigt nicht in Todesbann;
Hell bricht ein Arbeitslied
Vom Wege her sich Bahn,
Gedenken ihrer Toten
Ist in ihr Kleid verwoben.
Wie eine Hand, die segnet,
Ein Mal, ein Baum hoch oben.
Das Schicksal gebot:
Fern deinen Feldern lieb’ ich nun –
Doch laß, Kinneret,
Laß midt in deinen Gräbern ruhn,
VERWANDLUNG
Dieser schwache Leib,
Dies traurige Herz
Werden Staub, fruchtbare Krumen werden,
Kräfte des Bodens : die warten auf Regen,
Brechen jubelnd hervor, hinan!
Frühregen segnet. Da sprieß’ ich ins Weite,
Dring’ durch meines Sarges Spalten
Und durch feuchte Schollen Erde,
Schau’ in Augen, müd’ von Schwüle,
Schau’ aus Halmen- meinen Augen.
KALTER ABENDWIND
Kalter Abendwind blies mich an,
Säuselte: „Schwester, mach’ dich bereit“.
Ach, verzeih’ meinen Schmerz! Ach, trage die Last
Meiner matten Augen, meines bitt’ren Lieds,
Und sei mir weiter Stütze und Fels
Und schenke mir weiter das strahlende Licht
Bis zur nahen Nacht, da das Nichtmehrsein
Die Augen mir schließt mit eisiger Hand.
IM KRANKENHAUS
Nimm meine Hand in deine guten Hände
Mit brüderlicher Zärtlichkeit.
Wir beide wissen: das zerstörte Schiff
Wird nie den sichern Hafen mehr erreichen.
Trockne die Tränen mir mit sanften Worten,
Mein Herz ist weh.
Wir beide wissen: das verirrte Kind
Wird nie den Heimathimmel wiederseh’n.
ABENDSTIMMUNG
Zum Gedenken an A. D. Gordon
Der Tag ward finster und verglomm,
Er mußte geh’n,
Den Himmel deckt nun mattes Gold
Und rings die Höh’n.
Die weiten Felder Hegen schwarz
Und schweigend um mich her.
Mein Pfad führt abseits ~ öder Pfad,
Von Menschen leer.
Doch trotze ich dem Schicksal nicht.
Sei’s hart- mit Jubelsang
Will allem ich entgegengehn,
Für alles Dank!
DAS ENDE
Bist du das Ende? Noch klingt mir die Weite,
Noch winkt wie im Nebel das Leben von fern.
Blau ist noch der Himmel und grün noch der Rasen,
Bevor es Herbst wird.
Den Richtspruch empfang ich – kein Murren im Herzen.
Mein Abendrot sank. Rein ist mein Morgen.
Und Blumen lächeln am Weg mir zur Seite,
Wenn ich hinüberschreite.
RACHELS LEBEN
nach Bracha Chabas »Rachel«.
Rachel Bluwstein wurde am 20. September 1890 in Poltawa in Nordrußland geboren. Ihre Mutter starb, als sie noch ein kleines Kind war. Sie wuchs in engem Zusammenleben mit ihrer Schwester heran, und, die beiden ergänzten sich: Rachel
wollte Malerin werden und ihre Schwester Musikerin. Beide Mädchen waren begabt, der Vater war bemittelt, und so konnte Rache! das Gymnasium in Poltawa und später die Kunstschule in Kiew besuchen. Sie drang in die russische Kultur tief ein, und besonders beeinflußten sie Tolstoi und Korolenko. Als 15 jährige verfaßte sie russische Gedichte, später übersetzte sie hebräische Gedichte ins Russische.
Mit 19 Jahren gingen beide Schwestern nach Erez Israel, zunächst nach Rechowot. Rachel konnte damals noch nicht Hebräisch sprechen. Sie lernte es von der Bibel und von den Kindern des Kindergartens in Rechowot, die sie oft besuchte. Denn sie hat ihr ganzes Leben lang Kinder geliebt. Abends versammelten sich Chawerim zum „Konzert“ im Zimmer der beiden Schwestern, und so erfuhr Rachel vom Leben der Chaluzim. Da drängte es sie, selber „den Griffel mit dem Pflug zu vertauschen und auf der Erde, statt auf der Leinwand zu malen«. Sie ging mit Hannah Meisel als ihre erste Schülerin in die Lehrfarm Kinneret. Dort verlebte sie glückliche Jahre.
In Degania lernte sie auch A. D. Gordon kennen. Beide gewannen einander lieb. Ihm gehört ihr erstes hebräisches Gedicht „Abendstimmung“. Sie schrieb es nach seinem Tode.
1913 verließ sie Erez Israel mit dem festen Willen, in kurzer Zeit wiederzukommen. Sie ging nach Frankreich, nach Toulouse, um Landwirtschaft zu studieren und sich in der Malerei fortzubilden. Da brach der Weltkrieg aus und schnitt ihr den Rückweg ab. Sie verlebte die Kriegsjahre in Rußland und arbeitete zwei Jahre lang als Lehrerin in einer Schule für jüdische Flüchtlingskinder, Die Jahre körperlicher Entbehrungen und
seelischer Leiden untergruben ihre Gesundheit. Sie wurde lungenkrank, und ihre Krankheit wurde nie wieder geheilt. Sie selbst hoffte, bald gesund zu werden. So fuhr sie 1920 wieder nach Erez Israel, um aufs neue als Chaluza zu arbeiten. Sie ging nach Degania. Jedoch die Ärzte verboten ihr körperliche Arbeit und verordneten ihr als Aufenthalt ein gesünderes Klima, die Stadt. Sie lebte eine Weile in Jerusalem, aber die Stadt mit ihrem harten Steinpflaster „trennte sie von der warmen mütterlichen Erde«. Darum konnte sie sie nicht ertragen, und mit äußerster Anspannung ihres Willens und ihrer Kräfte versuchte sie noch einmal. in Degania zu arbeiten. Vergebens – sie mußte verzichten. In ihren letzten Jahren wohnte sie in
Tel Awiw. In einem Sanatorium in der Nähe von Tel Awiw starb sie am 16. April 1931.
In den einsamen Jahren ihrer Krankheit entstanden ihre Gedichte. Als etwas ganz Überraschendes, kaum je Gehofftes ward ihr die Kraft zu dichten geschenkt. Die meisten Gedichte erschienen einzeln in der Literatur-Beilage des »Dawar«. Zwei
Sammelbände hat sie selbst herausgegeben. Dem ersten gab sie den Namen »Safiach«, denn wild wie das Kraut auf dem Feld das keiner gesät hat, so wuchsen diese Lieder. Das zweite Buch nannte sie »Mineged«, denn war es nicht ihr Los,
»Mineged – von drüben her« auf das Land des Lebens zu schauen? »Ein jeder Mensch hat seinen Nebo« sagte sie einmal, und so konnten ihre Freunde für den dritten Band ihrer Gedichte, den sie nach ihrem Tode herausgaben, keinen wahreren Namen wählen als »Nebo«. Jetzt sind die drei Bände zu einem zusammengefaßt: »Schirat Rache!«. Einige unveröffentlichte Gedichte sind noch hinzugekommen und ihre hebräischen Übersetzungen europäischer Gedichte, vor allem ihres Lieblingsdichters Francis Jammes. Diesem Band sind die folgenden Gedichte entnommen.
Rache! wurde dort begraben, wo sie es gewünscht hat: in Kinneret.
Das Schicksal gebot:
Fern deinen Feldern leb ich nun.
Doch laß, Kinneret,
Laß mich bei deinen Gräbern ruhn.
„Am Ufer des Kinneret ist ein Hügel, nicht groß, einsam, wild, übersät mit Dornen im Sommer und im Winter bestickt mit Blumen. Von Dattelpalmen umgeben, blickt er hinüber zu den blauen Wassern. Ihm gegenüber liegt die Kette der Hermonberge und fern am Horizont der Altvater Hermon.
„Dort Galans Berge, streck’ die Hand aus, rühr sie an!
Schweigend und fest gebieten sie dir Halt.
Umstrahlt von, Einsamkeit Altvater Hermon,
Er schläft – von weißem Gipfel weht es kalt .
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Im Winter- wieviel Blumen hat die Au:
Blutrote Anemonen und des Krokus Gold.
Ja, Tage gibt’s, da grünt wohl hundertfach das Grün,
Und hoch des Himmels Blau ist tausendmal so blau.“
Wenn du an die Stätte kommst, dann weißt du nicht, ist es Wirklichkeit oder Sage? Da liegen Kähne mit weißen Segeln, ein Fischer breitet seine Netze aus, die Stimmen der Seevögel durchbrechen die Stille, ruhig weidet eine Herde Ziegen, ein
Hirt trillert auf seiner Flöte, ein Bauer schreitet die Furche ab, und blau weitet sich der Himmel über alles, und du sagst: Wirklich,’ gibt es solche Winkel auf der Erde, und ich habe es nicht gewußt?
Die Au heißt der Hügel. Er ist übersät mit Gedenktafeln. Gräbern von Schomrim, von Chaluzim und Chaluzot, solchen, die vor einem oder zwei Jahren gestorben sind und solchen, die schon vor 10 und 20 Jahren dahingingen: Söhne und Töchter Israels, die von allen Boden der Gala sich aufgerafft haben, nach Erez Israel gefahren sind und sagten: Hier wollen wir uns eine Heimat bauen, und die gefallen sind durch Malaria, durch zu schwere Arbeit, durch einen Pfeil aus dem Hinterhalt. Könnte ein Mensch an diesem Ort vorübergehen und nicht die Gräber betrachten, die auf der Au sind? Vor fünf Jahren ist ein neues Grab hinzugekommen, auf dem Gedenkstein aus weißem Marmor ist eingegraben RACHEL.«
