Mystiek en poëzie

 

Mystiek en poëzie

 

Granum Sinapsis

 

1.

In dem begin

hô uber sin

ist ie daz wort.

ô rîcher hort,

dâ ie begin begin gebâr!

ô vader brust,

ûz der mit lust

daz wort ie vlôz!

doch hat der schôz

daz wort behalden,

daz ist wâr.

 

In dem Beginn

hoch über (alles) Begreifen

ist das Wort.

O reicher Hort,

da stets Beginn Beginn gebar!

O Vaterbrust

aus der mit Lust

das Wort stets floss!

Doch hat der Schoss

das Wort behalten, das ist

wahrlich so.

 

2.

Von zwên ein vlût,

der minnen glût,

der zweier bant,

den zwein bekannt

vlûzet der vil sûze geist

vil ebinglîch

unscheidelîch,

dî drî sîn ein.

weiz du waz? nein.

iz weiz sich selber aller meist.

 

Von zwei als eine Flut,

der Minne Glut,

der zweier Band,

den zweien bekannt,

fließt der liebsüße Geist

ebengleich,

untrennbar.

Die drei sind eins.

Weißt du ihr Wesen? Nein.

Es versteht sich selber am besten.

 

3.

Der drîer strik

hat tîfen schrik,

den selben reif

nî sin begreif:

hîr ist ein tûfe sunder grunt.

schach unde mat

zit, formen, stat!

der wunder rink

ist ein gesprink,

gâr unbewegit stêt sin punt.

 

Der Strick der drei

löst tiefes Erschrecken aus,

diesen Reif

hat nie Verstand begriffen:

Hier ist Tiefe ohne Grund.

Schach und Matt

der Zeit, den Formen, dem Ort!

Der Wunderring

ist Ursprung,

unbeweglich steht sein Punkt.

 

 

4.

Des  puntez berk

stîg âne werk,

vorstentlichkeit!

der wek dich treit

in eine wûste wunderlîch,

di breit, dî wît,

unmêzik lît.

di wûste hat

noch zit noch stat,

ir wîse dî ist sunderlîch.

 

Des Punktes Berg

besteige ohne (Eigen)werk,

Vernünftigkeit!

Der Weg führt dich

in eine wunderbare Wüste,

die breit, die weit,

unausmessbar sich ausdehnt.

Die Wüste hat

weder Zeit noch Stätte, –

ihr Dasein kommt nur ihr

allein zu.

 

5.

Daz wûste gût

nî vûz durch wût,

geschaffen sin

quam nî dâ hin:

us ist und weis’doch

nimant was.

us hî, us dâ,

us verre, us na,

us tîf, us hô,

us ist alsô,

daz us ist weder diz noch daz.

 

Die Wüste, dieses Gut

durchschritt nie ein Fuß,

geschaffener Sinn

gelangte nie da hin:

es ist, und niemand weiß, was es ist.

es ist hier, es ist da,

es ist ferne, es ist nah,

es ist tief, es ist hoch,

es ist so beschaffen,

dass es weder dies noch das ist.

 

 

6.

Us licht, us clâr,

us vinster gár,

us unbenant,

us unbekant,

beginnes und ouch endes vrî

us stille stât,

blôs âne wât.

wer weiz sîn hûs?

der gê her ûz 

und sage uns, welich sîn

forme si.

 

Es ist hell, es ist klar,

es ist ganz finster,

es ist ohne Namen,

es ist unerkannt,

frei von Beginn und Ende,

es steht stille,

ist bloß, ohne Kleid.

Wer kennt sein Haus?

Der komme daher

und sage uns, von welcher

Gestalt es sei.

 

7.

Wirt als ein kint

wirt toup, wirt blint!

dîn selbes icht

mûz werden nicht,

al icht, al nicht trîb uber hôr!

lâ stat, lâ zît,

ouch bilde mît!

genk âne wek

den smalen stek,

sô kums du an der wûste spôr.

 

Werde wie ein Kind,

werde taub, werde blind!

Dein eigenes Ich

Muss zunichte werden,

alles Etwas und alles Nichts

treibe hinweg!

Lass Raum, lass Zeit,

meide auch das Bild!

Gehe ohne Weg

den schmalen Pfad,

dann findest du der Wüste Fußspur.

 

8.

O sêle mîn

genk ûz, got în!

sink al mîn icht

in gotis nicht,

sink in dî grundelôze vlôt!

vlî ich von dir,

du kumst zu mir.

vorlîs ich mich,

sô vind ich dich,

ô  uberweselîches gût!

 

O meine Seele,

geh aus, Gott ein!

Sinke mein ganzes Etwas

in Gottes Nichts,

sinke in die grundlose Flut!

Fliehe ich von dir,

so kommst du zu mir.

Verliere ich mich

so finde ich dich,

o überwesenhaftes Gut!

 

 

A.M. Haas – Mystik als Aussage 2007 (Suhrkamp) p 186-188