Mystiek en poëzie – Zengedichte

Mystiek en poëzie – Zengedichte

 

Die höchste Wahrheit ist nicht schwierig

Und lässt keine Wahl zwischen Zweierlei zu.

Wenn man nicht mehr hasst oder liebt,

Dann offenbart sie sich, klar und unendlich.

Doch wer nur haarbreit von ihr getrennt bleibt,

Der ist von ihr geschieden so weit wie der Himmel von der Erde.

Wer ihre Offenbarung erleben will,

Der muss ablassen vom Gehorchen und vom Widerstehen.

Der Kampf zwischen Gehorchen und Widerstehen

Heißt Krankheit der Seele.

Wer der Wahrheit tiefsten Sinn noch nicht kennt,

Müht sich ab in vergeblichem Grübeln.

Vollkommen ist sie

Wie das Gewölbe des Himmels,

Ohne Mangel und Überfluss.

Wahrlich, wer noch hangt an einem Annehmen –

oder Verwerfen,

Der ist nicht frei.

 

Weder das eigene Selbst noch ein anderes

Findest du je im Reiche der soseienden Wahrheit.

Wenn du plötzlich und ohne langes Besinnen

Sie passend ausdrucken müsstest,

Wurdest du wohl sagen:

Nicht-Zwei ist sie.

Wenn es aber keine Zwei mehr gibt,

So ist alles das Eine und Selbe.

Alles umfasst es. Es kommen

Die Weisen aus aller Welt

Und huldigen ihm.

Die Eine Wahrheit kann man

Weder erweitern noch einengen.

Ein Augenblick ist

Wie zehntausend Jahre.

Sein und Nichtsein,

Die ganze Welt eröffnet sich

Grenzenlos dem Auge.

Das Kleinste ist dem Größten gleich,

Die Grenzen sind weggewischt.

Das Größte ist dem Kleinsten gleich

Ohne jede Scheidewand.

Sein ist nichts anderes als Nichts,

Nichts ist nichts anderes als Sein.

Und ist es dir noch nicht so,

Dann darfst du auch an nichts festhalten!

Das Eine ist nichts anderes als das All,

Das All ist nichts anderes als das Eine.

Und wenn dem so ist, was schert dich dann

Noch Unvollkommenheit?

 

Glauben ist Nicht-Zwei.

Nicht-Zwei ist Glauben dessen,

Das unaussagbar ist.

Vergangenheit und Zukunft,

Sind sie nicht

Ein ewiges Jetzt?

 

Seng-ts’an: Meisselschrift des gläubigen Geistes

 

LOBGEDICHTE

1.

In den Grund und Ursprung zurückgekehrt, hat

der Hirte schon Alles vollbracht.

 

Nichts ist besser als jäh auf der Stelle wie blind’

zu sein und taub.

 

In seiner Hütte sitzt er und sieht keine Dinge

da draußen.

 

Grenzenlos fließt der Fluss wie er fließt. Rot blüht die

Blume, wie sie blüht.

2.

Nie verfällt die wundersame Tat zum Verdienste

um Sein und um Nichts.

 

Was er auch sieht und hört, bedarf er nicht mehr

der Taubheit und Blindheit.

 

Gestern flog der goldene Rabe hinab in das Meer,

Heute erglänzt der brennende Ring der Morgenröte wie einst.

3.

Schon hat der Hirt alle Kraft des Herzens verschwendet

und ist alle Wege zu Ende gegangen.

 

Sogar das klarste Erwachen übertrifft nicht

Taubheit und Blindheit.

 

Unter den Strohsandalen endet der Weg, den er einst kam.

 

Kein Vogel singt.

Rote Blumen blühen in herrlicher Wirre.

 

 

„Mit entblößter Brust und nackten Fußen kommt er herein auf den Markt.

Das Gesicht mit Erde beschmiert, der Kopf mit Asche über und über bestreut.

Seine Wangen überströmt von mächtigem Lachen.

Ohne Geheimnis und Wunder zu mühen, lässt er jäh die dürren Baume erblühen.

Freundschaftlich kommt dieser Kerl aus einem fremden Geschlecht.

Bald zeigt sein Gesicht deutlich die Zuge des Pferdes, bald die des Esels.“

 

Uit: E.M. Frank Pfad der Erleuchtung, Zen –Gedichte,  München 1989

A.M. Haas – Mystik als Aussage 2007 (Suhrkamp) 201-203 en 206-207

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