
Hannah Arendt
Eine der Hauptthesen sprachlicher Bedeutungsforschung ist die von den Griechen eingeführte und durchgesetzte Abhängigkeit unseres theoretischen Sprachschatzes vom Gesichtssinn, von der optischen Wahrnehmung. Das Wort Theorie selbst, das im Unterschied zu anderen Ausdrücken für das beteiligte und emotional angespannte Sehen die Einstellung des unbeteiligten Zuschauers bezeichnet, ist schon Beleg dafür. Gerade deshalb hatten es die Theoretiker des Willens schwer, eine eigene Sphäre sprachlicher Bezeichnungen für die Realität des Willens zu finden; ein Beispiel dafür ist die Sprache Heideggers.
Nun folgt aus dieser fast allgemein akzeptierten generellen These eine weitere, nämlich die van der >Richtung<, in der Metaphern von der optischen Sphäre abgezogen und auf genuin dort nicht lokalisierte Phänomene übertragen worden sind. Die große Ausnahme, die Sonderstellung, ist das als Urteilskraft bezeichnete Vermögen, dessen spate Entdeckung oder Bewertung es erlaubte, einen neuen Bereich der Metaphorik zu erschließen, den des individuellsten, privatesten, intimsten Sinnesorgans, des Geschmacks, der zu seinen Gegenständen niemals die Distanz des Gesichtssinns haben kann. Hannah Arendt hat in ihrem nachgelassenen Werk »Vom Leben des Geistes« auf die durch diese Verhältnisse bedingte Relativität des Unsagbaren hingewiesen. Sie hat ferner die wichtige Beobachtung gemacht, dass unsere Erfahrungen von Dauer und Beständigkeit ausschließlich vom optischen Sinn kommen, damit dann auch unsere Präferenz für Konstanz, wenn nicht sogar Ewigkeit. Was dem optischen Sinn diese Erfahrung möglich macht, ist seine Distanz zum Gegenstand, im Gegensatz etwa zum Geschmackssinn, der nur schmeckt, indem er verzehrt. Die Abwesenheit bis hin zur Unsichtbarkeit ist dann nichts anderes als das wiederum im optischen Sinn mögliche Entschwinden des Gegenstandes aus dem Horizont der Sichtbarkeit, die Überdehnung der Distanz, deren absoluter Wert die Transzendenz ist. Das Unsichtbare wird sprachlich mit der Metaphorik des Sichtbaren trotz seiner Abwesenheit gegenwärtig gehalten. Diese Abhilfe für einen Mangel habe, so Hannah Arendt, ihre eigenen Gefahren der Gewichtung und Bewertung.
An dieser Stelle findet sich eine falsche Bezugnahme auf die »Metaphorologie«. (Vom Leben des Geistes. München 1979, I 117) Die Seitenzahl der »Metaphorologie«, die zitiert wird, gibt es nicht; sie bezieht sich vielmehr auf die im »Archiv für Begriffsgeschichte« veröffentlichten »Beobachtungen an Metaphern«. Schlimmer als der falsche Stellenverweis ist das falsche Referat der Stelle: die Eisberg-Metapher sei in die Bewusstseinstheorie der Psychoanalyse eingegangen. An der nur der Seitenzahl nach richtig angeführten Stelle steht aber ausdrücklich, dass Freud diese Metapher nicht kennt. Andere, die einen weniger präzisen Begriff vom Unbewussten haben, konnten sich ihrer bedienen, und dafür mag dann gelten: … die Beweiskraft der Eisberg-Metapher ist so überwältigend, dass die Theorie keine Argumente oder Beweise braucht. Der Trost, nur in Pseudowissenschaften würde auf diese Weise gearbeitet, gelte nicht, obwohl man es nur zu gern glauben würde. Dafür freilich fehlt es dem Autor an Beweisen. Aber zutreffend ist, dass wir für solche Verhältnisse, wie das unseres Bewusstseins zum Unbewussten, das unserer optischen Wahrnehmung zu den anderen Sinnesorganen, keine zuverlässigen empirischen Werte haben und doch nicht darauf verzichten mögen, uns dieses Verhältnis entweder als Missverhältnis oder als das solider Fundierung und Zuordnung vorzustellen. Es gehört ins Repertoire der Kulturkritik, von der Verarmung unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit zu sprechen, die Distanz der Optik als das Verhalten des unbeteiligten Zuschauers einer inhumanen Unbeteiligtheit insgesamt zuzuschreiben, die sich längst den Sensorien der Nähe und Unmittelbarkeit, dem Empfinden von Wärme, dem Geruch von Vertrautheit, entzogen hat. Dass dies alles einmal der Mystik von >Blut und Boden< angehörte und nur seine Bezeichnungen immer wieder wechselt, stört beim Vortrag der Verlustbilanz nicht. Wenn die Sinnesvermögen nicht mehr ausreichen, den vermuteten Verlust zu beschreiben, darf sogar von der verlorenen >magischen Unmittelbarkeit< gesprochen werden, deren Ausdehnung dann durch eine solche Metaphorik wie die des Eisbergs geradezu unter Disziplin gehalten wird: Es sind nur sechs Siebtel des ursprünglichen Weltbezugs unter die Oberfläche geraten.
Die rasante Vermehrung der metaphorischen Eisberge wirkt zurück auf die der realen. Die »Titanic« wurde von einem Einzelgänger unter der Wasserlinie zu Tode getroffen. Im Zeitalter der epidemischen Eschatologien, der Energiepanik, schwärmen sie rudelweise aus, um im verborgenen, also untermeerischen Bündnis mit anderen Bedrohungen, wie der OPEC, die Lebensadern und -strange unserer Welt zu treffen. Man halt es fast für naturgegeben, gottgewollt, zum sonstigen Fatalismus stimmend, wenn man 1980 in Nr. 33 des Spiegel ein Bild des Columbia-Gletschers in Alaska sieht, der nicht einmal gerade kalbt, sondern nur ein Stück drohender Schönheit zu sein scheint, und dazu liest, amerikanische Geologen ließen von diesem Gletscher in den nächsten Jahren zahlreiche Eisberge südwärts driften, um die vom Ölhafen Valdez ausgehende Tankerroute nach der Westküste der USA zu kreuzen. Mit diesem Endpunkt der Alaska-Pipeline würde endlich die Missbilligung der Auguren für das Transalaskarohrprojekt gerechtfertigt, die jahrelang die Aufmerksamkeit der Welt auf die wechselnden Umweltzerschneidungen gerichtet hatte, welche aus der solidesten Energiehoffnung der Weltmacht schon entstanden sein oder noch entstehen sollten. Jetzt kommen die Eisberge, Inbegriffe dessen, was der oberflächlichen Denkweise des Erwerbssinnes einfach entgangen sein muss.
Ich kann nicht beurteilen, wie präzise Voraussagen von Fachleuten über die Proliferationsrate von Gletschern sein können. Aber ich bin sicher, dass die Eisbergforschung in den USA nach dem Ausstoß dieses Kassandrarufes eine kräftige Dotation aus einem Fonds erhalten hat. Was früher im Londoner Hydepark stattfand, der Wettbewerb der Weltuntergangspropheten, die ihre Schautafeln an den Stühlen aufgestellt hatten, auf denen sie standen und Genaueres verkündeten – das ist inzwischen zum Gewerbe der Eschatologen und Apokalyptiker in allen nur halbwegs einschlägigen Disziplinen geworden. Was man einstmals nur mit dem Versprechen eines kleinen Fortschritts erreichen konnte, bewirkt man derzeit mit der Verheißung eines kleinen Untergangs, dem sichtbaren Teil eines großen, wie die Spitze am Eisberg.
Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Berlin 2012 (Suhrkamp) p. 249-252
