Das hohle Wunder

G.Steiner, Sprache und Zweigen. Essays über Sprache. Literatur und das Unmenschliche, Berlin 2014 (Suhrkamp) p. 155-176

Das hohle Wunder (1)

Zugegeben: Deutschland nach dem Kriege ist ein Wunder. Aber es ist ein recht seltsames, ein sehr wunderliches Wunder. An der Oberfläche gedeiht und pulsiert das Leben prachtvoll, doch im Innern herrscht eine krankhafte Stille, Man gehe nur einmal selber hin: schließe vorübergehend die Augen vor dem Wunderwerk neuer Produktionsstätten und beide Ohren vor dem Brausen der Motoren. Was in Deutschland so tot und abgestorben wirkt, ist die Sprache. Man schlage nur die Tageszeitungen auf, die Illustrierten, die Flut der populären und gelehrten Bücher, die sich aus den neuen Druckerpressen ergießt; man höre sich im Theater ein neues deutsches Stück an, achte auf die Sprache, die im Radio oder im Bundestag gesprochen wird. Das ist nicht mehr die Sprache von Goethe, Lessing, Heine und
Nietzsche, auch nicht die von Thomas _Mann. Etwas ungeheuer Verderbliches ist mit dieser Sprache passiert – sie macht Krach, sie teilt sich sogar mit, doch das Gefühl eines Gedankenaustauschs, einer Gemeinsamkeit schafft sie nicht.
Sprachen sind lebendige Organismen. Unendlich komplex in sich, doch nichtsdestoweniger zusammenhängende Organismen. In sich tragen sie eine bestimmte Lebenskraft sowie gewisse Kräfte zum Absorbieren und Wachsen. Aber sie können ebensogut auch verfallen und absterben.
Eine Sprache lässt erkennen, dass sie den Keim der Auflösung nach verschiedenen Richtungen in sich trägt. Geistige Prozesse, die ehemals spontan aus eigenem Antrieb erfolgten, werden zu mechanisch festgelegten Gewohnheiten (tote Metaphern, feststehende Vergleiche, Schlagworte, leere Redensarten). Die Wortgebilde werden länger und doppeldeutiger. Rhetorik tritt an die Stelle von Stil, und anstelle eines genauen, allgemeinverständlichen Sprachgebrauchs treten Kauderwelsch und Jargon. Fremde Wurzeln und entlehn~e Worte werden nicht mehr absorbiert im Blutstrom der Muttersprache, sie werden unverdaut geschluckt und bleiben ein Fremdkörper. Alle diese technischen Mängel und Versager häufen sich dann an bis zum eigentlichen Bankrott: die Sprache schärft nicht mehr das Denken, sondern verwässert es. Anstatt jeden einzelnen Ausdruck mit der größtmöglichen Energie und Direktheit aufzuladen, lockert und zerstreut sie die Intensität des Empfindens. Die Sprache hört auf, ein Abenteuer zu sein (und die lebensvolle Sprache bedeutet das höchste Abenteuer, dessen die menschliche Intelligenz fähig ist). Kurz gesagt, die Sprache wird nicht mehr gelebt, sie wird nur noch gesprochen.
Dieser Zustand kann unter Umständen sehr lange Zeit anhalten; man denke nur daran, wie lange Latein noch im Gebrauch war, nachdem die Lebensquellen der römischen Zivilisation längst versiegt waren. Wo aber dieser Zustand einmal eingetreten ist, wird sich ein lebenswichtiger Bestandteil einer Zivilisation nicht mehr erholen. Und in Deutschland ist er eingetreten. Deshalb herrscht dort inmitten des Wunders der materiellen Wiederauferstehung geistig eine derart tiefgreifende Totenstille, ein so ausgeprägter Hang zur Trivialität und Verstellung.
Was hat den Tod der deutschen Sprache herbeigeführt? Das ist ein interessantes und verwickeltes Stück Geschichte. Es beginnt mit der paradoxen Tatsache, dass die deutsche Sprache am lebendigsten war, bevor es einen einheitlichen deutschen Staat gab. Die dichterischen Genies eines Luther, Goethe, Schiller, Kleist, Heine und zum Teil auch das von Nietzsche, gehen der Gründung der deutschen Nation voraus. Die Meister deutscher Prosa und Dichtung waren allesamt Männer, die sich nicht haben einfangen lassen vom dynamischen C!iJ Sog eines preußisch-germanischen Nationalbewusstseins, der sich nach der Reichsgründung 1870 entfaltet hat. Wie Goethe waren sie Bürger Europas und lebten in den fürstlichen Staaten, die zu unbedeutend waren, um nationalistische Gefühlswallungen zu schüren. Oder sie haben, wie Heine und Nietzsche, ihre Werke außerhalb Deutschlands geschrieben, was für den besten Teil der deutschen Literatur bis in die Moderne hinein gültig bleibt. Kafka schrieb in Prag, Rilke in Prag, Paris und Duino.
Schon zu Bismarcks Zeiten trugen Amtssprache und offizielle Literatur die Elemente der Auflösung in sich. Es war dies die große Zeit für militante Historiker, für die Philologen und die unverständlichen Metaphysiker. Diese Mandarine des neuen Preußenreiches produzierten jene angsterregende Zusammensetzung aus grammatikalischer Unbedarftheit und Humorlosigkeit, die aus dem Begriff »germanisch« ein Äquivalent für plumpe Wichtigtuerei gemacht haben. Jene, die der Verpreussung der Sprache damals entgingen, waren die Meuterer und die Exilierten, wie jene Juden, die eine hervorragende journalistische Tradition begründeten, oder wie Nietzsche, der im Ausland schrieb.
Der akademischen Gestelztheit und Schwerfälligkeit, wie sie zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg von den Spitzen in Erziehung und Gesellschaft praktiziert wurden, hat das Kaiserliche Regime seine eigenen Gaben aus Pomp und Mystifizierung beigesteuert. Der in den Amtsstuben und Kanzleien der neuen Reichsregierung ausgeübte »Potsdamer Stil« war eine Mischung aus Grobheit (»der raube aber herzliche Soldatenton «) und hochfliegender romantischer Erhabenheit (der Wagner-Klang). Auf diese Weise verbanden sich’ Universitäten, Obrigkeit, Armee und Hof, um der deutschen Sprache Angewohnheiten einzuexerzieren, die sich nicht weniger gefährlich ausnahmen als diejenigen, die man dem deutschen Volke eindrillte: eine entsetzliche Schwäche für leere Schlagworte und hochtrabende Klischees (»Lebensraum«, »die gelbe Gefahr«, »die nordischen Tugenden«); ein automatisches Sich-Verbeugen vor dem umständlich langen Wort oder der lauten Stimme; eine fatale Neigung zum Sacharin-Pathos (Gemütlichkeit), hinter der sich bekanntlich jede Menge Ruppigkeit und Täuschung verbergen lässt. Bei dieser Abrichtung spielte die zu Recht gerühmte Schule der deutschen Philologie eine merkwürdige und komplexe Rolle. Philologie ordnet Wörter in ein System mit älteren und verwandten Worten ein, nicht aber in ihrem Zusammenhang mit moralischem Zweck und moralischer Handlungsweise. Die Philologie gibt der Sprache Formalität, nicht Form. Es kann also kein bloßer Zufall sein, dass die im wesentlichen philologische Struktur der deutschen Erziehung Preußen und dem Nazireich so getreue Diener gestellt hat. Den besten Aufschluss darüber, wie der Klassenzimmer-Drill zum Kasernenhofdrill führte, geben die Romane von Heinrich Mann, vor allem Der Untertan. Als 1914 die Soldaten in den Krieg marschierten, zogen auch die Worte in den Krieg. Vier Jahre später kehrten die Soldaten zwar geschlagen und gequält zurück, doch die Worte, die Worte blieben an der Front und errichteten zwischen dem deutschen Geist und den harten Tatsachen eine Mauer aus Mythus und Fabel; sie haben die erste jener grandiosen Lügen in die Welt gesetzt, die für so manches im neuen Deutschland förderlich gewesen sind; die Lüge vom »Dolchstoß
in den Rücken«. Die tapfere deutsche Armee sei nicht besiegt worden, vielmehr sei sie von hinten durch Verräter, Schwächlinge und Bolschewisten« erstochen worden. Der Vertrag von Versailles sei nicht ein unbeholfener Versuch gewesen, in einem verwüsteten Europa die Scherben zu ordnen, sondern ein ränkevoller Racheplan, der Deutschland von seinen habgierigen Gegnern aufgezwungen wurde. Die Verantwortung, den Krieg entfesselt zu haben, lag bei Russland oder bei Österreich oder den kolonialen Machenschaften im. »perfiden England«, aber nicht beim preußischen Deutschland.’
Es hat viele Deutsche gegeben, die erkannten, dass es sich hierbei um reine Legendenbildungen handelte, und die auch den Anteil kannten, den der deutsche Militarismus und die Rassen-Arroganz bei der Ausführung des Massenmordes gespielt haben. Dem wurde in den politischen Kabaretts der zwanziger Jahre Ausdruck gegeben, ferner im Experimentiertheater von Brecht, in den Büchern der Brüder Mann, in der graphischen Kunst von Käthe Kollwitz und George Grosz.
Der deutschen Sprache entsprang eine Lebendigkeit, die sie vorher unter dem Kommando der Junker und Philologen so niemals an den Tag gelegt hatte. Es war die glänzende, aufrührerische Übergangsperiode: Brecht gab der deutschen Sprache wieder ihre lutherische Einfachheit zurück, und Themas Mann führte seinem Stil die leuchtende, geschmeidige Eleganz aus der klassischen und mediterranen Überlieferung zu. Diese Jahre zwischen 1920 bis 1930 waren die Wunderjahre im modernen deutschen Geistesleben. Rilke dichtete die Duineser Elegien sowie die Sonette an Orpheus im Jahre 1922 und verlieh der deutschen Verskunst damit Flügelschlag und Musik, die sie seit Hölderlin nicht mehr gekannt hat. Der Zauberberg erschien 1924, Kafkas Schloß 1926. Die Dreigroschenoper
hatte 1928 ihre Premiere, und 1930 produzierte der deutsche Film den Blauen Engel. Im gleichen Jahr erschien der erste Band von Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musils ungewöhnliche und weitgespannte Betrachtung zum Niedergang der abendländischen Werte. In diesen zehn Jahren hatten deutsche Literatur und Kunst teil an jener großen schöpferischen Flutwelle westlich-abendländischer Phantasie, die auch Faulkner, Hemingway, Joyce, Proust, D. H. Lawrence, Picasso, Schönberg und Strawinski mit einschloss.
Aber es sollte nur eine kurze Atempause bleiben. Das Obskurantentum, die Bildungsfeindlichkeit und die Hassgefühle, seit 1870 im deutschen Temperament angelegt, waren schon zu tief verwurzelt. In einem unheimlich prophetischen »Brief aus Deutschland« vermerkte D. H. Lawrence, wie »der alte, borstige, heissspornige Geist wieder erwacht ist«. Er sah, wie dieses Land sich abwandte aus dem Kontakt mit dem westlichen Europa, um in den östlichen Steppen zu verebben«.
Brecht, Kafka und Thomas Mann sollte es nicht beschieden sein, ihre eigene Kultur zu zähmen und ihr etwas von der humanen und maßvollen Besonnenheit ihrer eigenen Talente zu vermitteln. Zuerst sahen sie sich als Sonderlinge, dann als Verfolgte. Neue Sprachregler erschienen auf dem Plan, um aus der deutschen Sprache eine politische Waffe zu schmieden, totaler und wirksamer als in jedem anderen Abschnitt der Geschichte, so dass die Würde der menschlichen Sprache auf das Niveau heulender Wölfe degradiert worden ist.
Dabei wollen wir ein Faktum nicht aus dem Auge lassen: die deutsche Sprache war an den Schreckenstaten des Nazismus nicht ganz unschuldig. Es ist kein bloßer Zufall, dass ein Hitler, ein Goebbels, ein Himmler deutsch sprachen. Das Nazitum fand in dieser Sprache genau vor, was es brauchte, um seiner Grausamkeit Stimme und Nachdruck zu verleihen.
Hitler vernahm in seiner Muttersprache die latente Hysterie, das geistige Durcheinander, die Eigenschaft zur hypnotischen Trance, er tauchte mit untrüglichem Gespür ins Unterholz dieser Sprache, in jene Zone des embryonalen Aufschreis und der Finsternis, die der artikulierten Rede vorangehen und sich bilden, bevor das Wort sich einstellt. Er spürte in der deutschen Sprache eine andere Musik als die von Goethe, Heine oder Mann auf; eine rauhe, krächzende Kadenz, halb nebuloses Kauderwelsch, halb Gossenjargon. Und das deutsche Volk, anstatt sich ungläubig und angeekelt abzuwenden, gab dem Gebrüll des Mannes einen massiven Widerhall. Das Echo kam zurück aus Millionen Kehlen und Marschtritten.
Ein Mann wie Hitler hätte in jeder Sprache ein Reservoir an Giftstoffen und moralischer Unbildung vorfinden können, nur standen sie ihm nirgends so bequem zur Verfügung, lagen nirgends so nahe an der Oberfläche der Umgangssprache.
Eine Sprache, mit der man ein »Horst-Wessel-Lied« schreiben kann, kümmert sich einen Dreck um Muttersprache. Und wie soll das Wort spritzen« je wieder gesunde Bedeutung gewinnen, nachdem es für Millionen Menschen das Kennzeichen für . das vom Messer spritzende Judenblut war? Und .genau das ist geschehen im »tausendjährigen Reich«. Nicht Schweigen oder Ausflucht, sondern ein immenser Erguss von präzisen, zweckdienlichen Ausdrücken. Es gehört zu den eigentlichen Schaudern der Nazizeit, dass alles, was geschah, festgehalten, katalogisiert, aufgezeichnet und niedergeschrieben wurde; dass man den Worten Dinge auszudrücken aufgab, die eigentlich von keinem Menschenmund ausgesprochen und auf keinem von Menschenhand hergestellten Stück Papier festgehalten werden sollten. Ekelerregend und nahezu unerträglich ist es, wenn man sich heutzutage vergegenwärtigt, was da getan und gesagt worden ist aber tun muss man es.
In den Kellerräumen der Gestapo haben Stenographen, gewöhnliche f:’rauen, alle Laute der Furcht und der Agonie der gebrannten, geschlagenen oder gemarterten .Menschen sorgfältig aufgeschrieben. Die experimentellen Torturen, die in Belsen und Mauthausen an lebenden Wesen vorgenommen wurden, sind genauestens festgehalten. Die Anordnungen über die Zahl der Hiebe, die an den Marterpfählen von Dachau verabfolgt wurden, waren schriftlich fixiert. Wenn polnische Rabbiner gezwungen wurden, mit Hand und Mund offene Latrinen auszuräumen, standen deutsche Offiziere dabei, um den Tatbestand zu photographieren, zu protokollieren und zu etikettieren. Trennten die Wachmannschaften der SS an den Eingängen zu den Todeslagern Mütter und Kinder voneinander, gingen sie dabei nicht schweigend vor, sondern proklamierten die bevorstehenden Greuel durch lautstarken Hohn: »Heidi, heida, juchheisassa, Scheissjuden in den Schornstein!«
So wurde zwölf Jahre lang immer wieder das Unaussprechliche ausgesprochen, das Undenkbare aufgeschrieben, registriert, tabellisiert und zur Akte genommen. Männer, die Ätzkalk in die Kanalisationsrohre von Warschau gossen, um die noch Lebenden zu. töten, und den Gestank der Toten zu ersticken, haben darüber in Briefen nach Hause berichtet. Sie sprachen davon, sie hätten >’Ungeziefer ausgerottet<< – wohlgemerkt in Briefen, in denen Familienphotos erbeten oder Weihnachtsgrüße ausgetauscht wurden. Stille Nacht, Heilige Nacht, Gemütlichkeit. Eine Sprache, aus der die Hölle spricht, nimmt auch die Gewohnheiten der Hölle in ihrer Syntax an. Allmählich verloren die Worte ihren ursprünglichen Sinn und nahmen alpdruckhafte Bedeutung an. Aus Jude, Pole, Russe wurden »zweibeinige Läuse«, faules Ungeziefer, die nach einem Leitfaden der Partei von jedem Arier zerquetscht werden müssen, »wie Wanzen an einer dreckigen Wand«. Das Wort ))Endlösung« bedeutet den Tod von sechs Millionen Menschen in Gaskammern.
Die Sprache wurde nicht nur vergiftet durch diese ungeheuren Bestialitäten, sie wurde auch dazu bestimmt, zahllose Unwahrheiten mit Nachdruck durchzusetzen, den Deutschen einzureden, dass der Krieg gerechtfertigt und an allen. Fronten siegreich sei. Als die Niederlage über das tausendjährige Reich hereinzubrechen begann, verdichteten sich die Lügen zu einem beständigen Schneetreiben. Die Sprache wurde auf den Kopf gestellt, um »Licht<( zu sagen, wo Finsternis herrschte, und »Sieg<<, wo Unheil lag. Gottfried Benn, einer der wenigen anständigen Schriftsteller, die im Nazi-Deutschland verblieben, hat einige der neuen Definitionen aus dem Wörterbuch für Hitler-Deutsch mit seinen Anmerkungen versehen:

Im Dezember 1943, also zu einer Zeit, in der die Russen uns fünfzehnhundert Kilometer vor sich hergetrieben und unsere Front dutzendfach durchlöchert hatten, sagt ein Oberstleutnant, klein wie ein Kolibri und sanft wie ein Kaninchen, mittags bei Tisch: “Hauptsache, die Schweine brechen nicht durch.” Durchbrechen, Aufrollen, Säubern, bewegliche Kampfführung – was für eine Gewalt haben diese Worte, positiv, um zu bluffen, und negativ, um Tatbestände zu verschleiern. Stalingrad: ein tragischer Unfall; die Niederlage der U-Boote: eine zufällige kleine technische Entdeckung der Engländer; dass Montgomery den Rammel von EI Alamein bis Neapel viertausend Kilometer vor sich herjagte: Verrat der Badoglio-Clique.

Und als sich dann der Kreis der Rächer um Deutschland schließt, wird aus dem Schneegestöber ein wahnwitziger Schneesturm. Im Radio tönt, zwischen den Unterbrechungen durch Luftalarme, die Stimme von Goebbels und versichert dem deutschen Volk, dass »eine titanenhafte Geheimwaffe« kurz vor dem Einsatz stehe. An einem der endgültig letzten Tage der Götterdämmerung entstieg Hitler seinem Bunker, um eine angetretene Reihe von fünfzehnjährigen Jungen mit aschgrauen Gesichtern abzuschreiten, die man in Berlin als letztes Aufgebot für den Grabenkrieg ausgehoben hatte. Der Wehrmachtbericht sprach von “Freiwilligen” und Elitetruppen, die sich, unüberwindlich, um den Führer geschart hätten. So verpuffte der Alpdruck mit einer schamlosen Lüge. Dem Herrenvolk wurde feierlichst mitgeteilt, Hitler sei im Kampf gegen die roten Horden an der Spitze seiner Truppen gefallen. In Wahrheit lag er tot mit seiner Maitresse in der Tiefe seines bombensicheren Bunkers.
Sprachen besitzen starke Lebensreserven, mit deren Hilfe sie große Mengen von Hysterie, Analphabetentum und Gemeinheit absorbieren können (Orwell hat das für die englische Sprache dargelegt). Aber es gibt auch eine Belastungsgrenze. Benutzt man eine Sprache dazu, um Belsen zu organisieren, zu ersinnen und zu rechtfertigen, benutzt man sie dazu, um den Menschen in zwölfjähriger wohlüberlegter Bestialität zu entmenschen- dann passiert etwas mit ihr. Man mache us den Worten, was Hitler, Goebbels und hunderttausend Untersturmführer aus ihnen gemacht haben: Übermittler von Unwahrheit und Terror- und mit den Worten passiert etwas. Etwas von der Lüge und dem Sadismus setzt sich im Mark der Sprache fest. Unmerklich zunächst, so wie radioaktive Ausstrahlungen sich stillschweigend im Knochenmark festsetzen. Aber das Krebsgeschwür beginnt seine tiefsitzende Zerstörungstätigkeit Die Sprache gedeiht nicht mehr, sie frischt sich nicht mehr von innen auf, und sie erfüllt nicht mehr so gut wie sonst ihre beiden wesentlichsten Funktionen: die Übermittlung von menschlicher Ordnung, die wir Gesetz und Recht nennen, und die Vermittlung des Bebenden im Menschengeist, was wir Anmut und Anstand nennen. Im Jahre 1940 äußerte Klaus Mann in einer gequälten Tagebuchnotiz, er lese keine zeitgenössischen deutschen Bücher mehr:
»Ob wohl die Sprache Hölderlins und Nietzsches durch Hitler geschändet worden ist?« Sie ist es. Und was geschah mit denen, die Wächter einer Sprache sind, den Trägern ihres Gewissens? Was wurde aus den deutschen Schriftstellern? Eine ganze Anzahl ist in den Konzentrationslagern umgekommen. Andere, wie Walter Benjamin, gaben sich selbst den Tod, um nicht der Gestapo in die Hände zu fallen. Die bekanntesten aber gingen ins Exil. Die besten Dramatiker: Brecht und Zuckmayer. Die bedeutendsten Erzähler: Thomas Mann, Werfe!, Feuchtwanger, Heinrich Mann, Stefan Zweig, Hermann Broch. Dieser Exodus ist von größter Bedeutung, wenn wir verstehen wollen, was man der deutschen Sprache und ihrer Seele, deren stimmliches Organ sie ist, angetan hat. Einige dieser Schriftsteller flohen um ihr Leben, da sie Juden, Marxisten oder »unerwünschtes Ungeziefer« waren. Viele aber hätten durchaus als “Ehrenarier” oder Gäste des Regimes dableiben können. Nur zu gern hätten die Nazis den Glanz von Thomas Manns Gegenwart und sein Prestige für sich gesichert. Nur Mann wollte nicht dableiben. Er wußte genau, was man der deutschen Sprache antun würde, und er spürte, dass er diese Sprache für sich nur im Exil vor dem endgültigen Ruin bewahren könne. Als er emigrierte, entzogen ihm die speichelleckerischen Akademiker der Universität Bonn das Ehrendoktorat ln seinem berühmten Offenen Brief an den Dekan hat Mann dargelegt, dass jemand, für den die deutsche Sprache ein Organ zur Vermittlung der Wahrheit und humaner Werte ist, nicht im Reiche Hitlers verbleiben könne:

Das Geheimnis der Sprache ist groß; die Verantwortlichkeit für sie und ihre Reinheit ist symbolischer und geistiger Art, sie hat keineswegs nur künstlerischen, sondern allgemein moralischen Sinn, sie ist die Verantwortlichkeit selbst, menschliche Verantwortlichkeit schlechthin, auch die Verantwortung für das eigene Volk, die Reinerhaltung seines Bildes vorm Angesicht der Menschheit … Ein deutscher Schriftsteller, an Verantwortung gewöhnt durch die Sprache; ein Deutscher, dessen Patriotismus sich – vielleicht naiverweise – in dem Glauben an die unvergleichliche moralische Wichtigkeit dessen äußert, was in Deutschland geschieht, – und sollte schweigen, ganz schweigen zu all dem unsühnbar Schlechten, was in meinem Lande an Körpern, Seelen und Geistern, an Recht und Wahrheit, an Menschen, und an dem Menschen täglich begangen wurde und wird?
Natürlich hatte Thomas Mann recht. Aber der Preis, den ein Schriftsteller für solche Lauterkeit zu zahlen hat, ist kaum zu ermessen.
Die deutschen Schriftsteller mussten verschiedene Verlustgrade auf sich nehmen und reagierten auf verschiedene Weise. Sehr wenige nur hatten das Glück, in der Schweiz ein Asyl zu finden, wo sie mit dem Lebensstrom ihrer eigenen Sprache verbunden blieben. Andere wie Werfel, Feuchtwanger und Heinrich Mann siedelten sich in naher Nachbarschaft zueinander an, so dass sie im fremden Land Inseln ihrer angeborenen Sprache bilden konnten. Stefan Zweig, sicher in Südamerika angekommen, versuchte das kunstvolle Gewebe seiner Prosa dort wieder aufzunehmen. Doch die Verzweiflung übermannte ihn. Er war überzeugt, dass die Nazis aus der Sprache ein unmenschliches Kauderwelsch machen würden, er sah für einen der deutschen Sprache und Literatur ergebenen Menschen keine Zukunft und beging Selbstmord.
Andere wieder hörten überhaupt zu schreiben auf, denn nur die zähesten und begabtesten brachten es fertig, das Grausame ihres Schicksals in Kunst umzusetzen. Brecht, von den Nazis von einer Zuflucht in die andere gejagt, machte aus jedem seiner Bühnenstücke ein glänzendes Nachhutgefecht. Seine Mutter Courage erlebte ihre erste Aufführungsserie in Zürich während der unheilschwangeren Frühjahrsmonate von 1941. Je weiter er gehetzt wurde, um so klarer und kraftvoller wurde sein Deutsch. Diese Sprache schien wie aus einem Elementarlehrbuch für das ABC der Wahrheit zu kommen. Zweifellos kam Brecht seine politische Einstellung zugute. Als überzeugter Marxist fühlte er sich als Bürger einer Welt, die weiterreichend als Deutschland war, und als Teilhaber arm Fortschrittsmarsch der Geschichte. Er war bereit, Entweihung und Ruin des deutschen Geisteserbes hinzunehmen als ein notwendiges tragisches Vorspiel für die Gründung einer neuen Gesellschaftsform. In seinem Traktat »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit« stand Brecht eine neue deutsche Sprache vor Augen, eine Sprache, in der das Wort mit der Tatsache und die Tatsache mit der Menschenwürde bruchlos im Einklang stehen. Ein weiterer Schriftsteller, der aus dem Exil eine Bereicherung machte, war Hermann Brach. Der Tod des Vergil zählt nicht nur zu den bedeutendsten Romanen der europäischen Literatur seit Joyce und Proust, er ist auch die eigentümlich spezifische Behandlung der tragischen Situation eines Wortmenschen im Zeitalter der rohen Gewalt. Der Roman handelt von dem Entschluss des Vergil, das Manuskript der Äneiden zu vernichten. In seiner Todesstunde erkennt er, dass alles Wahre und Schöne in der Sprache nicht ausreichen, um mit dem menschlichen Leiden und der heraufziehenden Barbarei fertig zu werden. Man müsse eine Poesie finden, die von größerer Unmittelbarkeit und Hilfe für den Menschen sei, als die der Worte: eine Poesie der Aktion. Überdies hat Broch Grammatik und Rede weit über ihre herkömmlichen Bezirke hinausgetragen, als wären sie zu eng geworden, um den Belastungen aus Kummer, Gram und Einsicht standzuhalten, die dem Schriftsteller durch die Unmenschlichkeit unserer Zeit aufgebürdet werden. Gegen Ende seines vereinsamten und zurückgezogenen Lebens (er starb als ein nahezu Unbekannter in New Haven) gelangte er mehr und mehr zu der Einsicht, dass Kommunikation auch in anderen als den sprachlichen Mitteln, nämlich in der Mathematik liegen könnte.
Von all den im Exil Verbannten erging es am besten Thomas Mann. Immer schon ein Weltbürger, war er für den eigenen Geist fremder Sprachen und Kulturen von vornherein empfänglich. Im letzten Teil der Joseph-Trilogie scheinen in den Thomas-Mann-Stil gewisse Klangfarben aus dem Englischen einzudringen, der Sprache, in deren Mitte er nun lebte. Nach wie vor ist sein Deutsch das eines Wortkünstlers, doch hin und wieder scheint fremdes Licht durch. Dem Verfall des deutschen Geistes wendet sich Mann unmittelbar im Doktor Faustus zu. Der Roman gewinnt seine innere Form aus dem Gegensatz zwischen der Sprache des Erzählers und den Ereignissen, die er wiedergibt. Die Sprache ist die des klassischen Humanisten mit einem Anflug altmodischer Umständlichkeit, doch stets geöffnet für die Stimmen der Vernunft, der Skepsis und der Toleranz. In anderer Hinsicht ist die Geschichte vom Leben Adrian Leverkühns eine Parabel von Unvernunft und Katastrophe. Leverkühns Tragödie nimmt den Wahnsinn des deutschen Volkes im weiteren Sinne vorweg.
Noch während der Erzähler sein pedantisches doch menschliches Zeugnis ablegt über die zügellose Vernichtung eines Genies, wird der Absturz des Reiches ins blutige Chaos aufgezeigt. Im Doktor Faustus werden auch direkte Überlegungen angestrengt über die jeweilige Rolle, die die Sprache und die Musik in der deutschen Seele spielen. Themas Mann scheint darzulegen, dass sich die tieferen Kräfte der deutschen Seele seit je mehr in der Musik als im Wort geäußert haben. Und wie die Geschichte Adrian Leverkühns zu verstehen gibt, haben wir es hier mit einem gefahrvollen Faktum zu tun. Denn es liegen in der Musik Möglichkeiten zur völligen Irrationalität wie zur Hypnose beschlossen. Nicht daran gewöhnt, in der Sprache ein Richtmaß, eine letzte Norm zu finden waren die Deutschen für den untermenschlichen Jargon de; Nazisprache auch so geöffnet. Und hinter diesem Jargon klangen die schweren, dunklen Akkorde Wagnerscher Ekstase durch. In dem Erwählten, einem seiner letzten Werke, kehrte Themas Mann mit den Mitteln von Parodie und Pastiche zurück zum Problem der deutschen Sprache. Die Erzählung ist geschrieben in einer sorgfältigen Nachahmung des mittelalterlichen Deutsch, als wollte er sie so weit wie möglich vom Deutsch der Gegenwart entfernen.
Aber trotz all ihrer Fähigkeiten konnten die deutschen Schriftsteller ihr geistiges Erbe vor der Selbstzerstörung nicht bewahren. Sie bewahrten sich die Lauterkeit ihrer Persönlichkeit, sie waren Zeugen des Beginns der Katastrophe gewesen, nicht ihrer vollen Entfaltung. So schrieb einer der Zurückgebliebenen: ))Sie hatten nicht mit der Preisgabe ihrer eigenen Würde zu zahlen – wie also können sie sich denen mitteilen, die es taten?« Die Bücher, die Mann, Hesse und Brach in der Schweiz oder in Kalifornien oder in Princeton verfassten, werden im heutigen Deutschland zwar gelesen, hauptsächlich aber als wertvolle Beweisstücke dafür, dass “woanders” eine privilegierte Welt weitergelebt hat, die außerhalb von Hitlers Reichweite lag.
Was wurde nun aber aus denen, die tatsächlich dageblieben waren? Die einen wurden zu Lakaien im amtlichen Hurenhaus »arischer Kultur«, der Reichsschrifttumskammer, andere logen sich so lange mit Zweideutigkeiten durch, bis sie darüber die Fähigkeit einbüßten, irgend etwas Klares und Bedeutsames zu sich selber zu sagen. Eine kurze Glosse von Klaus Mann gibt Aufschluss darüber, wie Gerhart Hauptmann, der alte Löwe des Realismus, mit den neuen Realitäten fertig wurde:

»Hitler … schließlich, … Aber meine verehrten Freunde! . .. nur nicht tragisch nehmen! … Wir wollen doch … Nein, bitte erlauben Sie mir … objektiv bleiben … Darf ich mir noch ein Glas einschenken? Dieser Sekt … sehr beachtenswert, in der Tat- ich meine Hitler als Mensch … eine sehr ungewöhnliche, eine außerordentliche Entwicklung … die deutsche Jugend … sieben Millionen Stimmen … Wie ich oftmals meinen jüdischen Freunden gegenüber geäußert habe… Diese Deutschen… unberechenbar. . . wirklich, sehr mysteriös. . . kosmische Impulse .. ·, Goethe… die Nibelungensage … im gewiss en Sinne drückt Hitler … das habe ich meinen jüdischen Freunden klarzumachen versucht, .. dynamische Tendenzen … elementar, unwiderstehlich … «

Andere, wie Gottfried Benn oder Ernst Jünger, suchten ihre Zuflucht in der von Benn so bezeichneten »aristokratischen Form der Emigration«. Sie traten der deutschen Wehrmacht bei in der Meinung, dort »auf alte, ehrenvolle Weise« im Offizierskorps zu dienen und der Flutwelle allgemeiner Beflekkung zu entgehen. Jünger schrieb einen Bericht vom siegreichen Frankreich-Feldzug, ein lyrisch reizvolles kleines Buch unter dem Titel Gärten und Straßen. Nicht ein einziger grober Zug ist darin. Der Offizier alten Stils, der väterlich um seine französischen Gefangenen bemüht ist und »korrekte«, ja sogar huldvolle Beziehungen zu seinen neuen Staatsbürgern unterhält. Hinter seinem Ordonnanzwagen rollen die frisch aus Warschau eingetroffenen LKW’s der Gestapo und der Eliteeinheiten. Jünger aber erwähnt keine dieser Unannehmlichkeiten. Er schreibt über Gärten.
Benn sah klarer und zog sich zuerst in eine Stilverdunkelung, dann in völliges Schweigen zurück. Doch die einfache Tatsache seiner Anwesenheit im Deutschland der- Nazis scheint sein Fassungsvermögen für die Wirklichkeit abgetötet zu haben. Nach dem Kriege brachte er etwas aus seinen Erinnerungen zu Papier. Dabei stoßen wir auf einen unglaublichen Satz. Während er sich über den Druck auslässt, den das Regime auf ihn ausgeübt hat, trifft Benn folgende Feststellung: »Ich schildere das Vorstehende nicht aus Ressentiment gegen den Nationalsozialismus, der liegt am Boden und ich schleife Hektar nicht.« Es schwindelt einem, wenn man sich das Ausmaß geistiger Verwirrung vorsteHt, das einen anständigen Schriftsteller veranlasst, so etwas zu schreiben. Indem er sich eines altakademischen Klischees bedient, setzt er den Nazismus gleich mit dem vornehmsten homerischen Helden.
Sobald eine Sprache leer und abgestorben ist, wird sie zur Lüge. Eine Handvoll Schriftsteller blieb in Deutschland, um einen heimlichen Widerstand durchzuführen. Einer von diesen wenigen war Ernst Wiechert. Einige Zeit brachte er im Lager Buchenwald zu. Im Kriege lebte er in selbstgewählter Zurückgezogenheit. Was er schrieb, vergrub er in seinem Garten. In beständiger Gefahr stand er die Zeit durch. Er hielt sich als ehrlicher Mann und hat Zeugnis abgelegt für die Geflohenen wie für die Überlebenden.
In seinem Totenwald gibt er einen knappen, ruhigen Rechenschaftsbericht von dem, was er im Konzentrationslager mit ansah. Ruhig, denn er wollte nicht, dass der Horror der Tatsachen die nackte Wahrheit übertöne. Er sah mit an, wie Juden unter der Last schwerer Holz- oder Steinmassen zu Tode gefoltert wurden (jedesmal wenn sie nicht mehr weiter konnten, wurden sie ausgepeitscht, bis sie tot umfielen). Als sich an Wiecherts Arm eiternde Geschwüre entwickelten, erhielt er eine Bandage. Juden oder Zigeuner aber hätte der Lagerarzt nicht einmal mit Handschuhen berührt, »um nicht schon vom Geruch ihrer Haut infiziert zu werden«. So starben sie, schreiend unter Brandschmerzen oder gejagt von Polizeihunden. Wiechert beobachtete es, und er erinnerte sich. Bei Kriegsende grub er das Manuskript in seinem Garten aus, und im Jahre 1948 erschien es in Buchform. Aber es war schon zu spät.
In den drei Jahren unmittelbar nach dem Kriege waren unzählige Deutsche bemüht,· zu einer realistischen Einsicht der Ereignisse aus der Hitlerzeit zu kommen. Überschattet von Ruinen und wirtschaftlicher Misere, gab man sich dem Gedanken hin, das monströse Übel des Nazismus sei aus der Welt geschafft. In langen Reihen defilierten Männer und Frauen an den Knochenhaufen der Todeslager vorbei.
Zurückgekehrte Soldaten bekannten sich zu allerlei, was sich unter der Besatzung in Norwegen, Polen, Frankreich oder Jugoslawien getan hatte: Die Massenerschießungen von Geiseln, die Folterungen, die Plünderungen. Die Kirchen erhoben ihre Stimme und machten ihren Einfluss geltend. Es war eine Zeit moralischer Prüfung und bekümmerter Rückschau. Worte, die zwölf Jahre lang nicht laut ausgesprochen waren, wurden wieder gesprochen. Doch sollte die Zeit, da man der Wahrheit ins Auge sah, nicht lange andauern.
Der Wendepunkt scheint im Jahre 1948 eingetreten zu sein. Mit der Währungsreform, der Einführung der neuen Deutschen Mark, setzte in Westdeutschland ein wirtschaftlicher Aufschwung von übernatürlichem Umfang ein. Das Land betäubte sich buchstäblich durch angestrengtes Arbeiten. Das waren die Jahre, wo Männer in ihren wieder eingerichteten Werkstätten und Fabrikanlagen bis in die Nacht hinein arbeiteten, da ihre Wohnungen noch nicht recht bewohnbar waren. Und mit diesem Aufschwung materieller Kräfte zog ein neuer Mythus herauf. Millionen von Westdeutschen redeten sich und allen leichtgläubigen Ausländern ein, das Vergangene habe irgendwie gar nicht stattgefunden, und dass die Greuel durch Propaganda der Alliierten und der sensationslüsternen Presse gröblich übertrieben worden seien. Ja, Konzentrationslager hat es dem Vernehmen nach einige gegeben, und eine gewisse Anzahl von Juden und andere Unglückliche sind ausgerottet worden. »Aber nicht sechs Millionen, lieber Freund, nicht annähernd so viel. Das ist ja alles Propaganda. « Zweifellos sind auf fremdem Gebiet durch die SS und SA bedauerliche Brutalitäten passiert. »Aber diese Burschen waren eben Lumpenhunde, Raufbolde, die reguläre Wehrmacht hat sowas nicht getan, nicht unser tapferes deutsches Heer. Und über eins wollen wir uns doch ruhig klar sein, an der Ostfront standen wir ja auch keinen normalen Menschen gegenüber. Die Russen, lieber Freund waren wie tolle Hunde! Und was sagen Sie zu Dresden?, « Solche Argumente bekam man in Deutschland zu hören, wohin man auch reiste. Allmählich glaubten die Deutschen selber mit Inbrunst daran. Doch Schlimmeres war im Kommen. Deutsche aller sozialen Stuffen fingen an zu erklären von den Greueltaten der Nazis nichts gewusst zu haben. »Wir haben keine Ahnung gehabt, was da vor sich ging. Über Dachau, Belsen oder Auschwitz hat uns kein Mensch was gesagt. Wie hätten wir da dahinterkommen sollen? Dafür kann man uns nicht verantwortlich machen.« Gewiss, ein solcher Anspruch auf Schuldfreiheit ist nicht ohne weiteres zu widerlegen. Es gab zahllose Deutsche, die kaum eine blasse Ahnung hatten was außerhalb ihres eigenen kleinen Gärtchens vor sich gehen mochte.
Weite ländliche Gebiete und kleine, entlegene Ortschaften wurden Sich der Wirklichkeit erst in den letzten Kriegsmonaten bewusst, als das Schlachtfeld ihnen näherrückte. Doch eine große, eine ungeheuer große Anzahl wußte. Wiechert beschreibt seine eigene lange Fahrt nach Buchenwald aus den relativ idyllischen Tagen von 1938 Er berichtet wie sich johlende Menschenmassen an diversen Haltepunkten ansammelten, um die in Güterwagen gefesselten Juden und politischen Gefangenen zu verhöhnen und anzuspeien. Als die Todeszüge dann während des Krieges durch Deutschland rollten und die Luft immer dicker wurde, stellte m an sie bei München auf Nebengleisen ab, ehe sie nach Dachau weiterfuhren. Im Innern der plombierten Waggons wurden Männer, Frauen und Kinder vor Durst und Furcht wahnsinnig. Sie schrieen nach Luft und Wasser, sie schrieen die ganze Nacht. Die Münchner hörten das und berichteten es weiter. Ein Zug auf dem Weg nach Belsen hielt auf einem anderen Bahnhof in Süddeutschland an; die Gefangenen wurden rennend den Bahnsteig entlang gejagt, während einer der Gestapobeamten seinen Hund mit dem Ruf losließ: “Mensch fass die Hunde!” un einem Haufen Deutscher stand dabei und sah zu. Solche Fälle sind zahllos festgehalten worden.
Die meisten Deutschen mögen über die Einzelheiten der Liquidierungen nichts erfahren haben, sie mögen von den Mechanismen der Gaskammern (die ein amtlicher NaziHistoriker den Arsch der Welt« genannt hat) kaum etwas gehört haben. Wenn aber das Haus nebenan über Nacht ausgehoben wurde, oder wenn Juden mit dem gelben Erkennungsstern auf der Kleidung vom Luftschutzkeller ausgesperrt und genötigt wurden, sich irgendwo im Freien niederzukauern, dann kann nur ein blinder Ochse nichts davon gemerkt haben.
Dennoch setzte sich der Mythus durch. Gewiss, Ende der fünfziger Jahre ist das deutsche Publikum in den Theatern durch die Dramatisierung des Tagebuchs der Anne Frank ernstlich bewegt worden, doch blieb selbst der Terror aus diesem Tagebuch eine Ausnahme-Mahnung. Was Anne Frank im Innern des Lagers widerfahren ist, darüber sagen ja die Aufzeichnungen nichts. Für dererlei ist in Deutschland der Markt klein. Vergesst das Vergangene, arbeitet tüchtig und werdet wieder wohlhabend. Die Zukunft gehört dem neuen Deutschland. Als man unlängst die Jugend befragte, was der Name Hitler für sie bedeute, gaben beachtlich viele Schulkinder, Oberschüler und Studenten zur Antwort, das sei der Mann, der die Autobahnen gebaut und die Arbeitslosigkeit beseitigt habe. Ob sie gehört hätten, dass er auch ein böser Mensch gewesen ist? Ja, doch warum, das wüssten sie nicht recht. Den Lehrern, die es unternommen hatten, ihnen etwas über die Geschichte der Nazizeit zu erzählen, wurde von offizieller Seite erklärt, derartige Dinge seien für die Kinder nicht geeignet. Lehrer, die trotzdem darauf bestanden, sind entweder aus dem Schuldienst entlassen worden oder wurden durch Elternschaft und Kollegen kräftig unter Druck gesetzt. Weshalb noch einmal ausgraben, was doch vorbei ist.
Hier und da sind die alten Gesichter wieder auf die öffentliche Bildfläche zurückgekehrt. Das steht heute fest. Auf den Gerichtsbänken sitzen Richter und Staatsanwälte, die ehedem die Hitlerschen Blutgesetze angelegt haben. Auf vielen Professorenstühlen sitzen Gelehrte, die als erste befördert worden waren, als man daranging, ihre jüdischen oder ‘sozialistischen Lehrer in den Tod zu schicken. An unzähligen Universitäten in Deutschland wie in Österreich stolzieren wieder die patriotischen Renommierer mit ihren Mützen, Bändern und Schmissen »in couleur« und »rein germanischen Idealen« umher. Die ewige Litanei in der neu-deutschen Ära lautet: Davon wollen wir nichts mehr hören. Auch diejenigen, denen das schnelle Vergessen selbst schwer wird, nötigen andere, es zu tun. Eines der ganz wenigen Beispiele hochwertiger Literatur das sich. mit dem Entsetzen der Vergangenheit uneingeschränkt auseinandersetzt, ist das Brandopfer von Albrecht Goes. Eine jüdische Frau, der ein Beamter der Gestapo eröffnet, dort, wohin sie gebracht würde, bliebe ihr keine Zeit, um ein Kind zur Welt zu bringen, hinterlässt ihr Kinderwägelchen bei einer anständigen arischen Ladenfrau. Am darauffolgenden Tag wird sie zu den Gaskammern abtransportiert. Für den Erzähler wird der leere Kinderwagen zum Inbegriff dessen, was angerichtet worden ist. Die Frau fasst den Entschluss ihr eigenes Leben als ein Brandopfer für Gott hinzugeben: Eine ganz hervorragende, niet- und nagelfeste Erzählung. Am Beginn zögert Goes, ob er sie überhaupt erzählen soll: “Man hat vergessen. Und es muss ja auch vergessen werden, denn wie könnte leben, wet nicht vergessen kann”. Vielleicht besser.
Alles vergisst- nur die Sprache nicht. Ist sie erst einmal infiziert mit Falschheit, Lüge und Unwahrheit, kann sie nur mit Hilfe der kräftigsten und vollsten Wahrheit gereinigt werden. Statt dessen aber hat die deutsche Sprache nach dem Kriege einen Werdegang gehabt, der von Verstellung, Heuchelei und vorsätzlichem Vergessen gekennzeichnet war. Die Rückerinnerung an das Grauen der Vergangenheit ist weitgehend getilgt worden, und dies um einen hohen Preis, den die deutsche Literatur heute schon bezahlt. Es gibt begabte Schriftsteller unter den Jüngeren und auch eine ganze Anzahl junger Dichter von Qualität und Eigenart. Der weitaus größere Teil dessen aber, was als seriöse Literatur verlegt wird, ist flach und birgt kein echtes Leben.(2) Man vergleiche einmal die besten Arbeiten auf journalistischem Gebiet mit einer beliebigen Ausgabe der Frankfurter Zeitung aus vorhitlerischen Tagen, und man muss zeitweilig daran zweifeln, dass beide in deutscher Sprache geschrieben sind.
Das soll durchaus nicht heißen, dass der deutsche Geist verstummt sei. Es ist ein glänzendes Musikleben zu verzeichnen, und nirgendwo anders in der ganzen Welt kann die experimentelle moderne Musik auf ein verständnisbereiteres Publikum zählen. Außerdem herrscht wieder lebhafte Aktivität in den Bereichen der Mathematik und Naturwissenschaften. Doch Musik und Mathematik sind “Sprachen”, anders als die Sprache, reiner und weniger durch vergangene Implikationen beschmutzt als diese, und somit möglicherweise auch geeigneter, um mit dem neuen Zeitalter der Automatisierung und elektronischen Steuerung fertig zu werden. Die Sprache scheint es nicht zu sein. Und doch ist sie, soweit die Historie erweist, stets ein Behälter für den Reiz und Anstand des Menschen, der eigentliche Träger der Zivilisation gewesen.

Noten
1. Dieser im Jahre 1959 geschriebene Essay hat verständlicherweise vielVerstimmung und Verärgerung ausgelöst. Seine Diskussion und seine falsche Auslegung in Deutschland dauern an bis zum heutigen Tage. Die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter widmete der Debatte eine Sondernummer, und im Frühjahr 1966, auf der Tagung der deutschen Schriftsteller Gruppe 47 in den Vereinigten Staaten, entsprang die Kontroverse aufs neue. Eine besonders feindselige Einstellung gegenüber dem Fall bezog der akademische Berufsstand, dem ich selber mit einem gewissen Unbehagen zugehöre. Wenn ich “Das hohle Wunder” in diesem Buche erneut vorstelle, so geschieht es, weil ich der Meinung bin, das es sich bei den Wechselbeziehungen zwischen Sprache und politischer Unmenschlichkeit um einen Gegenstand von sehr ernster- Bedeutung handelt; und weil ich glaube, dass sich dieses mit besonders tragischer Dringlichkeit ablesen lässt am Gebrauch der deutschen Sprache während der Nazi-Periode und an der Vergesslichkeits-Akrobatik, die dem Sturz Hitlers nachfolgte. Joseph de Maistre und George Orwell haben beide zum Thema Politik und Sprache geschrieben und wie das Wort unter dem Gewaltdruck politischer Bestialität und Verlogenheit seine menschlichen Sinnbedeutungen einbüßen kann. Bis jetzt aber haben wir kaum einen Anfang gemacht, ihre Einsichten auf die eigentliche Entwicklung von Sprache und Fühlen anzuwenden. Hier bleibt fast alles noch zu tun übrig. Auch veröffentliche ich den Essay erneut, weil ich glaube, dass seine Beweisführung im großen und ganzen gültig geblieben ist. Bei seiner Niederschrift war mir das bemerkenswerte Buch von Victor Klemperer (LTI) Aus dem Notizbuch eines Philologen nicht bekannt, das 1946 in Ost-Berlin erschienen ist und jetzt unter dem Titel “Die unbewältigte Sprache” (im Verlag Joseph Melzer, Darmstadt). Weit mehr als ‘ich es vermochte, spürt Klemperer, ein geschulter Linguist, dem deutschen Sprach-Kollaps zum Nazi-Jargon und den sprachwissenschaftlich-historischen Hintergründen dieses Zusammenbruchs nach. Im Jahre 1957 erschien ein schmales und vorläufiges Lexikon der NaziSprache: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, zusammengestellt von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süßkind. Im Jahre 1964 griff Cornelia Berning die von mir gemachte Anregung zu eingehenderen Untersuchungen in ihrer Schrift »Vom Abstammungsnachweis zum Zuchtwart« auf, und Do!f Sternherger ist auf den gesamten Fragenkomplex in seinem Essay über “Maßstäbe der Sprachkritik« in seinem Buch Kriterien (Frankfurt, 1965) zurückgekommen. In Rolf Hochhuths Der Stellvertreter, namentlich in den Szenen um Eichmann und seine Spießgesellen, wird dem Nazideutsch ein peinlich genauer, nahezu Übelkeit erregender Ausdruck verliehen. Das Gleiche trifft zu für Peter Weiss’ Ermittlung und auch für den Roman Hundejahre von Günter Grass, auf den ich in dem hier nachfolgenden Essay zu sprechen komme. Dazu kommt, dass für den komplexen Werdegang der deutschen Sprache und ihrer Äußerungsformen in der politischen Wirklichkeit ein neuer Abschnitt eingesetzt hat. In Ostdeutschland entwickelt sich in der Sprache aufs neue ein Stil totalitärer Vereinfachungen und grammatikalischer Lügen, der sich in der Ära der Nazis in hohem Maße durchgesetzt hat. Mauern lassen sich nicht umziehen zwischen zwei Hälften einer Stadt, man kann sie auch zwischen Wörtern und ihrem menschlichen Inhalt errichten.
2. Diese Feststellung trifft für das Jahr 1959 nicht aber für heute zu. Gerade dadurch, dass sie sich dem Vergangenen zuwenden, haben deutsche Bühnenwerke und die erzählende Literatur in Deutschland eine heftige, häufig journalistische,  aber nicht zu bestreitende Lebenskraft wiedererlangt.

 

mystiek
Schuldig landschap?