Vision in blau

Vision in blau

A.M. Haas – Mystik als Aussage 2007 (Suhrkamp) p. 215-251

VISION IN BLAU

Zur Archäologie und Mystik einer Farbe

Dass sich mit bestimmten Farben über Zeiten und Kulturen hinweg bestimmte Gefühlswerte und Bedeutungen verbinden lassen, ist eine altbekannte Tatsache, die sich in der Farbendeutung seit der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinein in einem relativ festen Sinn- und Ordnungszusammenhang dokumentieren ließe. Möglich war dieses Ordnungsgefüge allerdings nur in der Konzeption einer es tragenden und begründenden philosophisch-theologischen Lichtspekulation, deren Rückbindung aller Farben in das sie überhaupt erst sichtbar machende (weiße) Licht die entscheidende Grundlage für alle Farbenwahrnehrnung und -deutung darstellte. Lichtspekulation und Farbendeutung gehören in dieser Überlieferung so innig zusammen, dass insbesondere-der spätantik-mittelalterlichen  Farbenlehre jegliche Kohärenz verlorenginge, wenn die Hierarchie der Farben nicht ihre Sinnspitze in einer philosophisch- theologischen Hermeneutik des Lichtes besäße. Das lässt sich gerade an unserem Thema deutlich machen: Die blaue Farbe, die in ihrer Relevanz für die Vision (des  menschlichen Selbst oder gar Gottes) aufgewiesen werden soll, ist im Grunde nichts anderes als das Sichtbar-Werden und ein erster Ausfluss von Licht. Insofern steht Blau für Licht, genauer: für das Licht des Himmels (oder des Meeres), dem als einer göttlichen Selbsteröffnung – man denke an die göttlichen „Energien“ der byzantinischen Kirche! – oft eine grundlegend-anfängliche oder eschatologische Qualität zukommt. Derselbe Tatbestand aber – die Verbindung von Licht mit Farbe – ist auch der Grund für je neue Bedeutungseröffnungen in der Bestimmung der im Licht wahrgenommenen Farben. Man muss also beides festhalten, wenn man sich mit einer Hermeneutik der Farben befasst: einerseits die in der Überlieferung angelegte und übermittelte Kategorisierung und Hierarchisierung von Farben, andererseits die durch Lichteinfluss bewirkte, theoretisch unendlich variierbare Farbnuancierung, aus der immer neue Deutungen- und damit Bedeutungen – der Farben entstehen können. Neben dieser für  Überlieferung, Alter und Deutung neuer Farbinterpretationen gleicherweise fruchtbaren Ambivalenz gibt es die so oder so zu begründende Möglichkeit, dass sich Rang und Funktion einer Farbe – sicherlich zunächst im Ruckbezug auf physikalische oder wahrnehmungspsychologische Tatbestände – unter Umständen von den frühesten Zeiten bis heute durchhalten.

Wieweit es sich dabei um Konstanten kulturenübergreifender Universalien handelt, mag offenbleiben; aber es ist und bleibt interessant, Tendenzen in diese Richtung in verschiedensten Kulturen und kulturellen Tätigkeiten zu beobachten. Jedenfalls kann das hier in jeder denkbaren skizzenhaften Verkürzung Dargestellte ein paar Indizien in die genannten Richtungen abgeben, ohne dass damit in der heute  Wahrnehmungspsychologisch und linguistisch so sehr diskutierten Grundsatzproblematik um die Universalienfrage mitdiskutiert werden soll. Allenfalls werden Materialien dazu gegeben;  viel stärker dagegen ist die Lust am Brückenschlag über Jahrhunderte hinweg in Anschlag zu bringen: Im einsamen Bewusstsein des engagierten Lesers wird in hoher Freiheit ein Moment Ewigkeit vorgekostet, darin der lichthafte Sprung über Jahrhunderte hinweg divinatorisch gelingt, ohne dass sich das von Hegel aufs tiefste beargwöhnte Nachtdunkel einstellen musste, darin alle Kühe gleich schwarz aussehen. Neben der »Anstrengung des Begriffs“ gibt es die mühelos scheinende, gleichwohl nicht billig erkaufte Lust am Bild, die über geheimnisvolle Parthenogenesen ihre selbständigen, historisch differenzierten Überlieferungsgebilde aus sich in Kunst und Wissenschaft hinein entlässt, ohne dass doch eine höhere Vernunft als die alltägliche dadurch brüskiert würde. Solche Tradition »in progress« festzustellen muss zum vornehmsten Vergnügen des Literaturkritikers gehören, der sich nicht der Gefahr aussetzen will, vor lauter Baumen den Wald nicht mehr zu sehen.

In lockerer Reihung und wagemutiger Kombination gestatte ich mir im Folgenden, ohne allzu viel Rücksicht auf die zwischen den einzelnen Texten herrschende Zeitdistanz zu nehmen, ein paar Belege für »Vision in Blau« vorzustellen.

Dabei wird die Zeit von der Moderne nach rückwarts abgeschritten. Zu beginnen ist mit einem Gedicht von Hans Arp und zu schließen mit einem Blick auf Evagrios Pontikos und die an ihn sich anschließenden syrischen Kirchenväter, welche ihrerseits auf eine jüdisch-alttestamentliche Überlieferung verweisen.

I.

In den Jahren 1946-48 hat Hans Arp das folgende Gedicht verfasst und in seiner 1957 erschienenen Gedichtsammlung Worte mit und ohne Anker unter dem Titel »Singendes Blau« veröffentlicht:

Duftendes Licht

sanft wie ein sprießender Garten

quillt durch mich.

Es sprüht.

Es duftet.

Ich schreite

leicht und schnell

über lichte Ländergroße Blumenblätter.

Die Erde und der Himmel

durchdringen sich.

Das Blau blüht

verblüht

blüht wieder auf.

Duftendes tönendes Licht

durchleuchtet mich

Ich ruhe

vom Licht gewiegt

in der duftenden tönenden

farbig funkelnden Quelle.

Bebende Lichtkronen

sinken um mich nieder

steigen um mich empor.

Sie klingen

wenn sie mich berühren.

Mein Narzissenkleid zerfällt.

Mein Herz

schweift uber die Wiese der Sterne

zwischen unzähligen Sternen.

Unter mir blüht es blauer und blauer.

Duftende tönende farbig funkelnde Welten

durchziehen die unendliche Tiefe und Höhe.

Ich ruhe inmitten

spielender schwebender Lichtkranze.

Sie steigen und sinken durch mich.

Ich ruhe überschwenglich

heiter und licht

in der unendlichen Quelle.

Kaum spüre ich noch die Erde.

Der Boden wird blauer und blauer.

Mein Schritt wird leichter und leichter.

Bald schwebe ich.

Singende Sterne wandern mit mir.

Ich fühle die tiefe Höhe

und die hohe Tiefe

über mir und unter mir

mich gewaltig durchdringen.

Licht steigt und sinkt durch mich.

Heiter und zart

ruhe ich auf der Erde.

Es klingt

es rauscht

es hallt

es widerhallt

es sprüht

es duftet

und wird andächtig singendes Blau.

Das Blau verblüht zu Licht.

Ich höre

Flüstern

klingen

summen

kichern.

Es tönt jetzt schillernd.

Zersplitterndes blendendes Licht.

Zarte Sterne

schlagen Wurzeln in mir.

Zarte Ewigkeiten .

schlagen Wurzeln in mir.

Endlich endlich

darf ich die Zeit vertun

Weilchen um Weilchen

Unendlichkeiten lang

Saumseligkeiten von duftendem Klingen

zwischen überschwenglichen

inneren Sternen

in der unendlich lichten Quelle.

Blumenwolken

Wolkenblumen.

Töne spiegeln sich

ins Unendliche wider.

Blaue Erinnerungen.

Zwischen Höhe und Tiefe

Duft und Bläue

plätschern die gleichen Quellen

an denen ich als Kind träumte.

In vier aus den Jahren 1948/49 stammenden, in Basel und Meudon entstandenen Texten – betitelt »Der gleichen Quellen“ wird die in diesem Gedicht zentrale Lichterfahrung nochmals in sprachlichen Variationen abgehandelt. Zum Teil werden dabei einzelne Textsequenzen des vorliegenden großen Gedichts wörtlich  übernommen, nun Teil wird dasselbe Geschehen in synonymen oder doch inhaltlich nahen Worten variiert. Wesentlich Neues scheint in diesen zusätzlichen Gedichten nicht hinzuzukommen. Wir beschränken uns daher im Folgenden auf den oben wiedergegebenen Text.

Was hier in schlichter, aber im Blick auf den geschilderten Vorgang gleichwohl gehoben wirkender Prosa vorgestellt wird, könnte der Gang durch einen sommerlichen Garten sein. Tatsachlich aber ist die das Gedicht tragende Sachebene ein starkes und übermächtiges Licht, das – auf der Ebene des Vergleichs und damit des Bildes – »wie ein sprießender Garten « traumhaft erfahren wird. Alles Folgende, das über das Durchstreifen dieses Gartens gesagt wird, gehört von allem Anfang an auf die Bildebene und suggeriert damit eine »Potenzierung « der Lichterfahrung, die sie der gewöhnlichen Gegenständlichkeit entzieht. Sicherlich erweist sich Arp in der Anwendung dieser dichterischen Methode der Potenzierung einer Erfahrung durch deren intensive Verbildlichung als gelehriger Schüler der deutschen Romantik, hier vielleicht sogar – gerade im Motiv der Modifizierung der Lichterfahrung durch den Farbwert Blau – des Novalis. Denn gerade »jene von Novalis unter dem Akt des >Romantisierens< angesprochene Transformation oder >Potenzierung< durch die alle gewöhnliche Gegenständlichkeit in eine andere >Sphäre< erhoben wird, [erschien bei ihm] auf der Ebene der Farbsymbolik als universale Blau-Tönung. >Alles blau in meinem Buche< mit diesem theoretischen Anspruch und seiner Realisierung im blauen Fluidum, in das die Figuren wie die Dingwelt im Ofterdingen getaucht werden, privilegiert[e] Novalis die Farbe in einer Weise, die über ihre traditionelle Verwendung weit hinaus[ging]. Ähnlich intensiv und universal ist bei Arp die Farbe Blau verwendet. Sie ist das tragende Moment der Lichterfahrung selbst; sie vermittelt das Blitzhafte am Licht („…blüht/verblüht“): Sie ist das andrängend Synästhetische, das die Lichtquelle vermittelt. Denn obwohl die hier geschilderte Lichterfahrung an sich ein visueller  Vorgang ist, besteht von allem Anfang an kein Zweifel, dass das visuelle Ereignis olfaktorische, auditive und taktile Erfahrungen mit enthält.

Es handelt sich um ein »duftendes Licht«; es ist ein »tönendes Licht«, und das Ich »ruh[t]/vom Licht gewiegt«, während die »bebenden Lichtkronen/[. . .] klingen/wenn sie mich berühren «, so dass das dem Ich eigene Lichtkleid, das »Narzissenkleid «, keinen Bestand mehr hat und »zerfällt“.

Die mystische Komponente des Vorgangs enthüllt sich darin, dass das Lichtereignis ein Sich-Durchdringen von Erde und Himmel bewirkt oder besser: ist. Ein “ieros gamos” also, eine hochzeitliche Vereinigung von Oben und Unten (»tiefe Höhe« – »hohe Tiefe«), die sich in eigentlichen Blauschüben und -blitzen entlädt. Denn das Blau, das »über« und „unter« dem Ich »blauer und blauer [blüht]« – wie es in freiem Anschluss an Hölderlins und Trakls hieratische Komparative heißt -, gibt die inchoativ unablässig sich steigernde, je neu explosive und universale Tönung des Vorgangs ab, bis es sich in einem »andächtig singenden Blau« scheinbar konsolidiert, in Wahrheit aber „zu Licht [verblüht]«. Damit ist wohl der Übergang zum heilen und weißen Licht gemeint, in dem „zarte Ewigkeiten« im Ich ihre Wurzeln schlagen: Das Ich hat zurückgefunden an den Ort »in der unendlich leichten Quelle“, in der die universale Blaulichterfahrung als »blaue Erinnerungen“ und Tonspiegelungen noch gegenwärtig und aufgehoben zu sein scheinen. Am Schluss des ganzen Gedichts nimmt der Dichter Rekurs auf eine Kindheitserfahrung, in der »zwischen Höhe und Tiefe/Duft und Blaue/[. . .] die gleichen Quellen [plätschern]«. Da die Synästhesie des Vorgangs schon im Titel »Singendes Blau« insinuiert wird, ist die Absicht, eine Ganzheits- und Einheitserfahrung zu evozieren, deren Medium blaues und »unendlich lichtes Licht« ist, offensichtlich. Allerdings glaube ich nicht, dass es schlicht um die Evokation eines »ozeanischen Gefühls«” geht, in dem die Personalität des Ichs verschwände – es erfährt eindeutig ja nur die Entwertung seines eigenen »Narzissenkleids«, aber nicht die  eigentliche Aufhebung seiner Person -, sondern vielmehr um die Wiedergewinnung der Einheit von Welt und Überwelt, deren synästhetische Ganzheit das Kind in seinen Traumen noch gegenwärtig hat.

Man kann sich fragen, inwiefern das Gedicht als ein klassisch-romantisches Erlebnisgedicht gelesen und sodann – psychologisch-biographisch – als eine Regression im freudschen Sinne interpretiert werden darf (der ja ohnehin die mystische Erfahrung als eine Regression deutet). Gerade aber diese Interpretationsbewegung scheint sich mir aufs strengste zu verbieten, wenn man die das Ich übermächtigende Lichtinstanz in ihrer Dominanz ernst nimmt. Das Lichtereignis ist ein Widerfahrnis, dessen Bedeutsamkeit und Rang sich gerade in der Abgehobenheit von Alltäglichem dokumentiert. Deutlich wird das etwa an der Unfassbarkeit des Bildes vom Garten: Quillt das Licht zunächst »wie ein sprießender Garten« durch das Ich, so ist es alsbald dasselbe Ich, das sich durch den Garten bewegt und »leicht und schnell/über lichte ländergrosse Blumenblätter« schreitet. Selbst das Bild hat ja die Konsistenz nicht, die es zur Wiedergabe eines einmal und historisch stattgehabten Erlebnisses befähigte. Im Gegenteil, hier kommt ihm die Tendenz zu, den Vorgang über das Ich ins kosmische hinauswachsen zu lassen, so dass die gegenseitige Durchdringung von Erde und Himmel in den Blaustössen möglich wird.

Persönlich und erlebnisbezogen vermag sich Arp dann zu äußern, wenn er in dem früheren, das heißt zwischen 1939 und 1945 entstandenen Gedicht »Die ungewisse Welt« das Ausbleiben oder den Verlust der Vision in Blau beklagt:

Gestalten wie verjährter Widerhall ziehen an mir vorüber.

Gallertartige Gewebe verhüllen eine große Puppe

die auf einem einsamen Platz aufgestellt ist.

Es stöhnt im Hoffnungslosen.

Die finstere Schattenkrone die auf der Welt lastet

will sich nicht heben.

Wo sind die veilchenblauen Auen des Himmels?

Selige haben sie vor langer Zeit

in ihren Augen fortgetragen.

Meine Träume zerschinden sich in bösen steinigen Betten.

Vergeblich ging ich tausend Wege.

Immer drohten die Türme einzustürzen

auf denen ich Ausschau halten wollte.

An abgründigen Aschehimmeln lauern böse greise Spinnen.

Ihr Herz schreit misstönend auf.

Auch sie sind Verwunschene wie ich.

Ich habe die Spuren des Lichtes verloren.

Ich kann aus meiner grauen Heimat nicht entfliehen.

Was nutzen mich die Lieder

die sich von der einen Seite auf die andere legen.

Sie sind wie die todmüden Bergführer.

Sie antworten aus verwelkten Herzen die gleichen Sätze:

Das Edelblau ist auch nur Traumgefunkel.

Wer spiegelnde Hände hat hüte sich gut

dass kein Hauch sie trübe . . .

Schwer zu sagen, worin die Gegenläufigkeit dieses Textes zu »Singendes Blau« begründet sein könnte, wenn nicht in der Ambivalenz der Semantik von Traum, die in ihrer allgemeinen Bedeutung den Sinn von idealem Entwurf ins sonst nicht Geläufige-Unbekannte, in ihrer biographisch-persönlichen Bedeutungsvariante dagegen den eines unerlaubten Aussteigens aus dem Realitätsprinzip impliziert. Mag sein, dass im persönlichen Verlust der »veilchenblauen Auen des Himmels“ und der Entwertung des »Edelblau« im bloßen »Traumgefunkel«  sich Arps früher Widerspruch gegen Gottfried Benns »Befreundung für Blau » das Sudwort schlechthin, das Hauptmittel zur >Zusammenhangsdurchstossung< nach der die Selbstentzündung beginnt, das „tödliche Fanal« – äußert. Falls das stimmt, hatte sich Arp allerdings schnell wieder anders besonnen und der Faszination des Blau – die schon Adolf Hitler in seiner Eröffnungsrede zur Münchner Ausstellung »Entartete Kunst« am 18. Juli 1937 im Haus der Deutschen Kunst auf »Sehstörungen bedauerliche [r] Unglücklicher« zurückführte – willig und geradezu überschwenglich nachgegeben, indem er das blaue Licht im Gedicht »Singendes Blau« zum synästhetischen Vehikel transzendierender Erfahrung machte und so den logischen Erkenntnissen Benns uber das Blau nochmals zum Durchbruch und zur »Zusammenhangsdurchstossung“ verhalf.

Funktion und Rang der blauen Farbe waren im Blick auf deren poetische Inanspruchnahme durch Hans Arp im jüngsten historischen Kontext der Poetik der Moderne, aber auch der malerischen »Stationen der Moderne“ zu untersuchen. Angelika Overath hat in ihrer Arbeit Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht und in ihrer in Gemeinschaft mit Angelika Lochmann herausgegebenen Textsammlung Das blaue Buch. Lesarten einer Farbe bewundernswerte Vorarbeit geleistet. Was sie für die Literatur vorbildlich erarbeitet hat, müsste für die Malerei noch nachgetragen werden. Die von A. Overath immer wieder festgestellte traditionelle »Konjunktion von Blau und Transzendenz« konkretisiert sich in der Moderne als deren »Indikatorfarbe«, die den »Horizont eines immer noch nicht abgeschlossenen Projekts [. . .] bezeichnet« Im Licht des Arpschen Gedichts jedenfalls ließe sich diese von  Overath in Frageform vorgebrachte Interpretationsvermutung durchaus bejahen: Blau ist für Arp das synästhetisch sich kundgebende Farbvehikel einer Transzendenz ins Lichthafte, in der Himmel und Erde zusammenkommen und sich verbinden. Wie immer deutlich oder undeutlich hier die religiös-christlichen Konnotationen fassbar sind, es besteht kein Zweifel, dass Arp – dessen neuplatonisch-mystische Neigungen aus vielerlei Zeugnissen bekannt sind – die in seiner Kunst  intendierte Wirklichkeit letztlich als eine »mystische Wirklichkeit“ intendierte und verstand, deren Wesen „Geistigkeit“ ist. Damit ordnet er sich ein in eine Tradition, die -wie immer sie im einzelnen zustande gekommen sein mag- im blauen Licht der Vision das dynamische Moment der Übergängigkeit in die volle Lichtgestalt der Gottheit oder deren Energien zu fassen meinte. Am ehesten kommt für Arp die neuplatonische Tradition der Lichtmystik in Frage. Die hohe Wertung des Traums ebenso wie die Einbindung alles Personalen in den Rahmen eines kosmologischen Bezugs sprechen dafür, aber auch das das Gedicht beherrschende Bild der die Quellen der Kindheit in sich einbefassenden Lichtquelle. Das mag nun Anlass genug sein, einen kurzen Blick auf die mittelalterlichen und spätantikchristlichen »Visionen in Blau« zu werfen, da gerade auch sie Auslaufer und Neudeutungen aller neuplatonischen Vorstellungen darstellen.

II.

El azul Edad Media delicado

Rafael  Alberti (1902)

Michel Pastoureau hat darauf hingewiesen, dass noch heute die Farbe Blau im Abendland Gefühls- und stimmungsmässig einen statistisch belegbaren Vorrang vor anderen (Grün und Schwarz) besitzt. Die abendländische Zivilisation ist für ihn »une civilisation du bleu“ eine Zivilisation, in der – Spanien soll hier eine Ausnahme machen – die warmen Farben keine Chance mehr haben. Aufgrund von Wappenuntersuchungen kann er uns die Vermutung nahebringen, dass diese Vorherrschaft des Blau eine neue Errungenschaft des Mittelalters darstellt:

Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ist ein quantitativer und qualitativer »Aufschwung der Farbe Blau“ festzustellen, der sich nicht nur in der Wappenkunst, sondern auch in der literarischen Emblematik, in der Kunst der Miniaturen und der Glasfenster, aber auch in der Kleidermode bemerkbar macht. Es lässt sich sogar belegen, dass der Waid – eine Pflanze, die zum Blaufärben der Tuche diente – »jetzt Gegenstand eines sehr lebendigen internationalen Handels“ wird. Blau »wird zudem die archetypische Königsfarbe». „Eine tiefgreifende Veränderung der Empfindung« scheint sich in diesem Abtausch »des alten dreigliedrigen Weiß-Rot-Schwarz-Schemas, des Schemas, das die Grundlage der Farbsysteme aller traditionellen Kulturen bildet“ durch die Bevorzugung von Blau anzuzeigen: »Seit man in der Moderne Weiß und Schwarz nicht mehr langer als eigentliche Farben betrachtet, nimmt Blau, die Farbe des Himmels, der Luft, des Paradieses, den ersten Platz in einer solchen Einteilung ein.“ Noch Kandinsky  wird sich in seinem Essay über das Geistige in der Kunst (1952) im Grunde an diese im Mittelalter erkannte Symbolik und Typologie von Blau halten, wenn er festhält:

[Die] Vertiefungsgabe finden wir im Blau und ebenso erst theoretisch in ihren physischen Bewegungen 1. vom Menschen weg und 2. zum eigenen Zentrum. Und ebenso, wenn man das Blau (in jeder gewünschten geometrischen Form) auf das Gemüt wirken lässt . Die Neigung des Blau zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wirkt, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich nach Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem Klange des Wortes Himmel. Blau ist die typisch himmlische Farbe. [In der Anmerkung Berufung auf die byzantinische Nimbierung »geistig existierender Wesen«!] Sehr tiefgehend entwickelt das Blau das Element der Ruhe. Zum Schwarzen sinkend, bekommt es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer, Es wird eine unendliche Vertiefung in die ernsten Zustande, wo es lein Ende gibt und keines geben kam. Ins Helle übergehend, wozu das Blau auch weniger geeignet ist, wird es von gleichgültigerem Charakter und stellt sich zum Menschen weit und indifferent, wie der hohe hellblaue Himmel. Je heller also, desto klangloser, bis es zur schweigenden Ruhe übergeht – Weiß wird. Musikalisch dargestellt, ist helles Blau einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer gehend, den wunderbaren Klangen der Bassgeige; in tiefer, feierlicher Form ist der Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar.“

Es ist klar, dass es sich bei dieser und anderen ähnlich klingenden modernen Äußerungen um Festlegungen handelt, die einer willentlichen und dabei historisch eingeschränkten Perspektive entspringen; Farbenwahrnehmung und  Farbenideologie haben immer etwas Dezisionistisches. Gleichwohl ist die in solchen Äußerungen sich zu erkennen gebende Tendenz, im Rehm auf naturgegebene Farbtatbestande Valenzen von deren Rezeption fassbar zu machen, als ein Versuch der Objektivierung nicht zu unterschatzen. Es bezeugt sich darin die Einlösung eines nicht nur marxistischen Postulats, »Reichtum und Tiefe der Subjektivität nur über eine Eroberung der Außenwelt« zu  erzielen, sondern weit grundsätzlicher noch die Wahrnehmung eines stoisch-christlichen Sinnpostulats, nach dem die Schöpfung nicht sprachlos, sondern in ihrem Wesen ein Buch ist, dessen Sprachzeichen, angemessen gelesen, auf bestürzende Weise Einblick in die kosmologische Sinnstruktur des Universums gestatten, christlich sogar eindeutige Reflexe von dessen Schöpfer wahrzunehmen erlauben. Oder mit den Anschauungen des frühen ägyptischen Mönchtums, deren „Vision in Blau« unten noch zur Sprache kommt: „Das Christenturn ist die Lehre Christi, unseres Erlösers, die sich aus der Praktiké, der Physiké und der Theologiké zusammensetzt. « Evagrios Pontikos, von dem diese Festlegung stammt, fasst diese die stoische Dreiteilung der Philosophie wieder aufgreifende Definition (Seneca: “Philosophiae tres partes esse dixerunt . . .: moralem, naturalem et rationalem«) als drei Etappen des geistlichen Lebens wobei die Praktiké den reinigenden, die Physiké (als Betrachtung der geschaffenen Naturdinge) den erleuchtenden und die Theologiké den einigenden Teilaspekt eines einzigen Aufbruchs zu Gott abgeben.

In den Rahmen solcher »Lesbarkeit der Welt« gehören auch Wertung und Relevanz der Farbe Blau im Mittelalter. Das heißt aber auch gleich, dass ihre Signifikanz im Kontext biblischer Vorgaben sichtbar wird und eigentlich nur im Ruckbezug auf diesen Heiligen Sext erschlossen werden kann, denn diese Bezugsgrösse gibt den wesentlichen Sinnhorizont an, innerhalb dessen alle Welt- und Existenzdeutung im Mittelalter ihren geistigen Ort hat.

mystiek

III

Dios está azul …

Juan Ramón Jiménez (1881-1958)

Die Schlüsselstelle, an der ein blaues Lichtphänomen im Rahmen einer Vision sich ereignet, ist die Merkabah-Vision des Propheten Ezechiel, in der der Thronwagen Gottes mitsamt den ihn begleitenden Cherubim den für den Schauenden bestürzenden Inhalt einer Erfahrung von Gottes Herrlichkeit darstellt. In einer Feuerwolke erscheinen dem Visionär vier lebende Wesen von seltsamem Aussehen – jedes hat vier Gesichter, vier Flügel, die Füße gleichen Kalbsfußen; jedem Wesen ist ein Rad zugeordnet, dessen Felge mit Augen bedeckt ist. Und »über den Köpfen der Wesen, war eine Art Firmament aus staunenerregendem Kristall zu schauen, das sich über ihren Häuptern oben ausbreitete« (Ez. I, 22). Und dann wird auf den uber dem Kristallfirmament sich erhebenden Thron Gottes hingewiesen: »Oberhalb des Firmamentes, das sich über ihr Häuptern befand, war etwas, das aussah wie Saphirstein und einem Throne glich. Auf dem, was einem Throne glich, war eine Gestalt, die wie ein Mensch aussah, oben darauf. Ich sah etwas wie ein leuchtendes Glanzerz, etwas, das wie Feuer aussah, nach unten zu, schaute ich etwas wie Feuer“ (Ez. 26ff.). Diese Schilderung bezieht sich inhaltlich auf die Sinaioffenbarung (vgl. auch Ex. 19, 18; 24, 11 und 15-18; Deut. 4f.), die zusammen mit der Merkabah-Vision Ezechiels ihre typologische Entsprechung im Pfingstbericht der Apostelgeschichte hat: So entsprechen sich das jüdische  Fest Shabucot, an dem die Erinnerung an die Sinaioffenbarung durch die Erklärung der Merkabah (= Wagen) wachgehalten wurde, und das christliche Pfingstfest. In Ex. 24, 10 ist der Gottesthron wie folgt beschrieben: »Hierauf stiegen Moses, Aaron, Nadab, Abiu und siebzig israelitische Älteste auf den Berg. Dort schauten sie den Gott Israels und unter seinen Fußen ein Gebilde, das Saphirplatten glich und einen hellen Glanz ausstrahlte wie der Himmel.“

Und wiederum in Erinnerung an die Verleihung der Thora auf dem Berg Sinai heißt es in Num. 15,37- 41:

Der Herr gebot Moses: »Gib den Israeliten folgende Weisung: Sie sollen sich Quasten an die Zipfel ihrer Kleider ansetzen, sie und ihre kommenden Geschlechter, und an jeder Zipfelquaste eine Schnur von blauem Purpur anbringen. Das ist der Zweck der Quasten: Ihr sollt euch, wenn ihr sie seht, an alle Gebote des Herrn erinnern, um sie zu erfüllen, ohne den Gelüsten eurer Herzen und Augen zu folgen, durch die ihr euch so gern zum Abfall verführen lasst. Ihr sollt vielmehr aller meiner Gebote eingedenk sein und sie befolgen und so eurem Gott geheiligt sein. Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus Ägypten weggeführt hat, um euer Gott zu sein. Ich bin der Herr, euer Gott!«

Die Anweisung zum Tragen dieser Schaufaden (»zizith«) oder Quasten an den Kleidern der Israeliten soll ihnen die göttlichen Gebote in Erinnerung rufen: Das Techeleth (= Schwarz-, Purpur-, Hyazinth- oder Himmelblau) wird so zum Signal göttlicher Präsenz, deren saphirsteinfarbene Bildlosigkeit in der Sinaioffenbarung und in der Ezechielvision genügend vorgeprägt ist. In der jüdischen Überlieferung und Mystik kommt von daher dem Blau eine gewichtige Rolle zu, insbesondere in visionären Zusammenhängen.

Für das Mittelalter aber war und blieb natürlich – im Blick auf die genannten Bibelstellen – das Blau des Saphirs die entscheidende Proprietät, an der die bibelorientierte Edelsteinallegorese ansetzen konnte.

Die Variationsbreite der Deutungsansatze für das Blau, die Zahl seiner Proprietäten also, war von Anfang an gering, das heißt, sie beschränkte sich auf im wesentlichen eine, die Ähnlichkeit dieser Farbe mit dem heiteren Himmel. Nachdem schon Origenes und Hieronymus und nach dem letzteren auch Gregor der Große diesen Zugang zur Bedeutung gefunden hatten, begründet Beda, auf ihnen fußend, die Farbenbestimmung und die Folgerung für diese Bedeutung noch einmal mit dem Erweis beider aus der Bibel (Ex. 24, 10;Ez. 1,26).

Dass diese Saphirallegorese nahezu tausend Jahre »durch viele Kommentare, Traktate, Predigten und Dichtungen haben Christel Meier und Ulrich Engelen in ihren breit angelegten Untersuchungen gezeigt. Wie ein Blick auf die Anwendung  der Saphirfarbe Blau bei Hildegard von Bingen zeigt, braucht der biblische Hintergrund nicht in jedem Fall zitiert zu werden; es kann durchaus sein, dass die Blau-Assoziationen ihre Eigendynamik im Werkzusammenhang entfalten. Man wird in diesem Fall wohl höchstens sagen dürfen, dass die genannten Bibelstellen als gewichtige und nicht diskutierbare Anreger hinter aller auf den Saphir bezogenen Allegorese stehen, ohne dass damit über den Grad der Emanzipation ganzer Schilderungs- und Sinnzusammenhange aus dieser Einbettung im einzelnen etwas entschieden würde? Jedenfalls legte »der vorgegebene Deutungsansatz -des Blaus als Farbe des Himmels [. . .] die Bedeutung in weiten Grenzen auf das Himmlische fest: die Hoffnung auf den Himmel und das Verlangen nach ihm, ein am Himmlischen orientiertes Leben nach Phil. 3,20 nostra conversatie in caelis est, die auf das Himmlische gerichtete Kontemplation, Christi himmlische, das heißt göttliche Natur und damit auch den zweiten auf Christus gerichteten Artikel des Credo nach I. Cor. 15,47: primus homo de terra, terrenus secundus homo de caelo, caelestis, endlich die Erhebung des Paulus in den dritten Himmel (z. Cor. 2,12) und das durch ihn Eph. 2,19 formulierte himmlische Bürgerrecht des Christen Mit wenigen Ausnahmen blieb diese durch den biblischen Hintergrund vorgegebene Bedeutung des himmelblauen Saphirs durchs ganze Mittelalter hindurch dominant.

Die Beziehung zu dieser Überlieferung dokumentiert sich zusätzlich in der Vorstellung, »der Saphir eigne sich vor andern blauen Steinen zur Darstellung des Himmels als des Wohnsitzes Gottes «Darin ist der Anschluss an die biblische Insinuation vom Orte Gottes, der durch Saphir gekennzeichnet ist, gewahrt. So ist denn in der mittelhochdeutschen Schilderung des Gralstempels durch Albrecht von Scharfenberg in seinem Jüngeren Titurel der Saphir gleich doppelt gegenwärtig: Das Gewölbe des Gralstempels ist mit Saphiren »gebloewet«, aber auch dessen Altarplatten sind aus Saphir.” Der Stein hat – als sichtbare Präsenz Gottes – die (nahezu magische) Wirkung, den Menschen von Sunden rein zu machen. Sichtbar wird diese Wirkung insbesondere an der Gottesmutter Maria, wie die reiche mariologische Applikation des Steines beweist. Noch bei Heinrich Seuse ist die »reine kunigin von himelrich« ein rotgoldenes Gefäß, mit edlen Smaragden und Saphiren belegt.

IV

Was im westlichen Mittelalter gerne äußerlich sichtbar als »Ort Gottes« saphirblau, das heißt himmelblau erstrahlt – zuhöchst natürlich in der Himmelskönigin Maria -, hat eine frühe christliche Vorprägung im ägyptischen Mönchtum der Kellia und dann in der Mystik des Syrischen Christentums seit dem vierten Jahrhundert .

Es ist vor allem Evagrios Pontikos (ca. 345-399), der nach einem zweijährigen Aufenthalt in der nitrischen Wüste sich  383 in den Kellia niederließ und von hier aus eine insbesondere Cassian stark beeindruckende Mystik entwickelte. Der Einfluss Evagrios auf das östliche und westliche Mönchtum ist nicht abzuschätzen, schon deswegen nicht, weil sein Name  in den Jahrhunderten nach seinem Tode bewusst verschwiegen oder sogar durch üble Verleumdungen in ein schiefes Licht gebracht wurde. Grund für diese Verfemung war seine Anhänglichkeit an das theologische, exeptische und apologetische Schrifttum des alexandrinischen Theologen Origenes (um 189-253/54), des bedeutendsten geistlichen Schriftstellers der griechischen Kirche.” Selbst Johannes Cassian (um 360 – um 435), der sich in seinem  zweimaligen, insgesamt nahezu zehnjährigen Aufenthalt in den ägyptischen Klöstern und Mönchsniederlassungen des Nildeltas mit ziemlicher Sicherheit von Evagrios belehren Ließ, nennt dessen Namen nie, auch wenn in seinen Institutiones und Collationes Patrum dessen Einfluss spürbar ist. Evagrios’ Werk wird, da sein Autor als Origenist den wildesten Verleumdungen anheimfallt, anonym oder unter anderen Namen der Nachwelt überliefert. Gleichwohl ist die Nachwirkung der evagrianischen Spiritualität und die damit gegebene Vermittlung des Gedankenguts des Origenes und Gregorios’ von Nyssa (um 335-394) ans östliche und dann westliche Christenturn bis ins 15, ja sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein außerordentlich stark gewesen. Selbst Theologen wie I. Hausherr und H.U. von Balthasar:’ die dem evagrianischen Gedankengut misstrauisch gegenüberstehen, können sich der Faszination der evagrianischen Mystik nur schwer entziehen. In der neuesten, editorisch und interpretatorisch orientierten Forschung durch C. und A. Guillaumont vor allem aber in den kompetenten und einfühlsamen Studien von L. Bouvet und  G. Bunge vollzieht sich eine Neubewertung des Evagrios, in der seine authentische Christlichkeit wieder starker zum Ausdruck gelangen kann, so dass »die Schriften und die Persönlichkeit des Evagrios, jener echt griechischen, vom Geist des Origenes und der Kappadokier getragenen Fremdlingsgestalt unter den asketischen Mönchen, des Beginners und Schöpfers der eigentlichen christlichen Mystik, wieder seinem Range entsprechend dargestellt und erfasst werden können.

Gemessen an den bisher genannten »Visionen in Blau«, stellt die evagrianische Variante gewiss die mystischste Spielart  dar. Zwar knüpft auch Evagrios an die Merkabah-Vision Ezechiels und an die in Ex. 24,10 geschilderte Sinaioffenbarung an. Die Verhältnisse aber liegen insofern anders, als in einer aus der eremitischen Existenz des Verfassers zu erklärenden Einschränkung der Perspektive die ursprüngliche jüdische Offenheit des Blicks auf das ganze zu erlösende Volk Gottes auf den Einzelnen konzentriert erscheint. Dieser ist es, der hinsichtlich seiner unmittelbaren Erfahrung des Göttlichen im Zentrum des Interesses steht, so aber, dass, was mit ihm geschieht, Signal einer möglichen grundsätzlichen Eröffnung uber den Menschen und seine Erfahrungsmöglichkeit wird.

Bei den ägyptischen Mönchen steht immerfort im Zenit ihrer Bemühungen das, was sie als das »reine Gebet“’ bezeichnen – jener privilegierte Augenblick, wo der Intellekt (nous), frei von aller Leidenschaft, sich in flüchtiger und proleptischer Weise dem Zustand annähert, der am Ende der Zeiten dem »nackten« Intellekt beschieden sein wird, ein Zustand der völligen Abgeschiedenheit von jedem Vorstellungsbild, von jeder „Form“ (nicht nur aller geschaffenen Natur und sinnlicher Objekte, sondern auch Gottes selbst). Das Wissen um diesen Zustand ist ihnen »Wissenschaft von Gott“, »Theologie «. „Wenn du Theologe bist, wirst du in Wahrheit beten, wenn du in Wahrheit betest, bist du Theologe.« Der Zustand der Apatheia, den solche Theologie einschließt, meint Leidenschaftslosigkeit als einen »fast engelhaften“ und  „friedvollen Zustand«.” Charakterisiert ist dieser Zustand durch die Schau eines Lichts, eines »Lichts ohne Form“. Was das für ein Licht sein soll, hat Evagrios selber als Frage umgetrieben. In seinem Antirrhetikos (der nur auf syrisch und armenisch erhalten ist) berichtet er, wie er zusammen mit seinem Freund Ammonios dieser Frage wegen zu Johannes von Lykopolis, dem berühmten »Seher der Thebais“, die lange Reise von den Kellia in Ägypten nach Lykopolis auf sich nahm; es  ging ihm und seinem Freund offenbar vital um folgendes Problem:  Wider den Intellekt, der nicht begreift, dass die Gedanken des Überdrusses, wenn sie in ihm andauern, seinen Zustand stören und zur Zeit des Gebetes das heilige Licht in seinen Augen verfinstern. Was aber eben dieses Licht betrifft, so wollten wir in Erfahrung bringen, ich und der Diener Gottes Ammonios, woher es sei, und wir fragten den heiligen Diener Gottes Johannes, den Seher der Thebais, ob etwa die Natur des Intellektes Licht sei und das Licht aus sich fließen lasse oder ob ihm von außen her etwas anderes erscheine und ihn erleuchte. Er aber antwortete und sprach: »Es gibt niemanden, de; in der Lage wäre, das zu erklären. Indessen vermag der Intellekt ohne die Gnade Gottes nicht im Gebet erleuchtet zu werden, von vielen und bitteren Feinden befreit, die auf sein Verderben erpicht sind.«

Die auf den ersten Blick eher enttäuschende Antwort besagt, dass das „Licht ohne Form“ die Freiheit von den Leidenschaften voraussetzt, gleichzeitig aber Ergebnis ungeschuldeter Gnade Gottes ist. Damit aber ist nichts weniger als ein pelagianisches oder quietistisches Missverständnis asketisch-mystischer Bemühungen abgewiesen; Johannes’ Antwort ist damit eine orthodoxe Antwort, in der die mystische Erfahrung des formlosen Lichts gleichzeitig von der menschlichen Anstrengung und der göttlichen Gnadenzuwendung her einsichtig gemacht werden soll.

Das Zusammenwirken beider Momente bewirkt nun das Lichtereignis. Denn: »Leuchtet“ nun die Apatheia, dieses >Licht der Seele<, >im Herzen auf<, dann erblickt der >innere Mensch<, der >zum Gnostiker geworden ist, zum Gotterkennenden, >in sich das Licht der Schönheit seiner selbst<. Diese für seine Theologie und Mystik fundamentale Erfahrung hat Evagrios verschiedentlich in Worte zu fassen versucht.« Im folgenden versammle ich ein paar Stellen, die eine solche Selbstschau des Intellekts beschreiben:

»Die Leidenschaftslosen [. . .] betrachten zum Zeitpunkt des Gebets das eigene Licht des Intellekts, das sie erleuchtet.“

»Es ist ein Beweis von -Leidenschaftslosigkeit, wenn der Intellekt begonnen hat, sein eigenes Licht zu sehen…“

Das in der Selbstschau des Intellekts ausströmende Licht hat aber die Qualität Blau, da es dem Saphir und damit der Himmelsfarbe entspricht: »Wenn jemand den Zustand des Intellekts sehen will, hat er sich aller Vorstellungsbilder zu berauben, und dann wird er sich selber dem Saphir und der Farbe des Himmels ähnlich erblicken; dies ist indessen nicht möglich ohne Leidenschaftslosigkeit . . .«

Im neununddreißigsten Brief an einen (unbekannten) Freund erläutert Evagrios die Selbstschau des Intellekts im Blick auf dessen Sinnziel, das nur im Ruckgriff auf die Sinaioffenbarung (und allenfalls die Merkabah-Vision Ezechiels) ermittelt werden kam; dem der Intellekt ist – nach Ex. 24,10  – »der Ort, wo der Gott Israels stand« (nach dem Text der Septuaginta!), geworden. Nach einem ausführlichen Seufzer über die Schwierigkeit, den »Wagen Gottes« zu ziehen:’ das heißt eine reine, leidenschaftslose Seele zu erlangen, und nach einer Aufforderung, den Intellekt von Gedanken der Gefräßigkeit, Geldgier, Ruhmsucht, Unzucht, Zorn und Traurigkeit zu schreibt er – das Existenzinteresse des „immateriell zum Immateriellen« Gelangenden zusammenfassend – das Folgende:

Wenn nun der Intellekt durch die Gnade Gottes diesen Dingen entflieht und seinen »alten Menschen abstreift“ (Kol. 3,9], dann erscheint ihm sein eigener Zustand zur Zeit des Gebetes wie ein Saphir oder nach der Art der Farbe des Himmels, was die Schrift »Ort Gottes« nennt, den die Ältesten auf dem Berg Sinai sahen. Diesen »Ort“ nennt sie auch „schau des Friedens«, an dem einer in sich jenen »Frieden“ schaut, »der erhabener ist als jedes Verstehen und der unsere Herzen behütet« (Phil. 4,7 und Eph. 2,14) In einem reinen Herzen nämlich wird ein anderer Himmel eingeprägt, dessen Schau Licht und dessen Ort geisthaft ist, an welchem, wie wunderbar, die, Einsichten der Seienden [Dinge] geschaut werden.

Drei Elemente konstituieren so den »Zustand des Gebetes«:

„1. Die Schau des eigenen >Zustandes<

2. den Gedanken der >Himmelhöhe<,

3. die Bezeichnung >des Zustandes des Intellektes< als >Ort Gottes<.«

“Die Selbstschau des Intellekts – er sieht »sein eigenes Licht« (oikeion feggos) – vollzieht sich in Form des Verströmens saphirblauen Himmelslichts. Und dieser Selbstvollzug des Nous ist „intelligible Höhe“, der das »Licht der Dreifaltigkeit« zuteilwird: »Der Zustand des Intellektes bedeutet die der Himmelsfarbe gleichende intelligible Höhe (uphoos noeton), der auch zur Zeit des Gebetes das Licht der Hl. Dreifaltigkeit zuteilwird.«” Was den biblischen Ausdruck »Ort Gottes“ betrifft, so kann er symbolisch auf die reine Seele und den kontemplativen Intellekt übertragen werden, das heißt unter Abstrich aller lokalisierenden und umschreibenden Fixierung: Der Ort Gottes ist im augustinischen Sinn ein »locus, non locus“ Das Abstreifen aller Leidenschaften und die Erhebung uber alle Dinge befreien die Gedanken  von ihrem Verhaftet sein an sinnliche Dinge, so dass auf dieser Höhe eines »gestaltlosen Zustandes“(schau Gottes und Gemeinschaft mit ihm gnadenhaft als ein Ereignis des Lichtförmig, das heißt geistig sich verströmenden Ortes Gottes im Intellekt möglich werden. Der hier lichtförmig gegenwärtig werdende Gott ist der dreifaltig-personale, in dessen Licht sich das „eigene Licht“ des Intellektes gleichzeitig als Gnadengabe erfährt. Interessant ist, dass in diesem himmelblauen Licht des Intellekts die Schöpfung keinesfalls durch die Apaitheia eskamotiert ist, sondern in der unvermittelten lichthaften Einigung von Intellekt und dreifaltigem Gott geisthaft in der Einsicht in die seienden Dinge gegenwärtig ist. Damit werden Analogien frei zu Hans Arps kosmischer Vision in Blau (allerdings kaum m »blauen Stunde«, wie sie bei  verschiedenen Dichtern in wechselnder Bedeutungsnuancierung – vor allem aber als melancholisch notiertes Entfremdungssyndrom – evoziert wird). So wie Arps „Singendes Blau« aber eine Vergeistigung alles Seienden impliziert, so wird auch bei Evagrios die Schöpfung in die „Höhe« der Apatheia  gehoben. Menschliches Selbst, trinitarischer Gott und Schöpfung sind in der Vision in Blau nach Evagrios vereint und aufgehoben. Hans Arps Vision steht dazu im Verhältnis  eines Säkularisationsphänomens, das in inständiger, die symbolischen, aber nicht die explizit inhaltlichen Momente repristinierender Weise einem immer unspezifischer werdenden Christentum den Spiegel vorhalt. In der Tradition des Evagrios hat sich dann der ostsyrische Mönch Jausep Hazzaya im 8. Jahrhundert folgendermaßen zur „Vision in Blau« geäußert:

[Das letzte] Erkennungszeichen schließlich, dass der Geist in dir wirkt, den du durch die Taufe empfangen hast, ist die erleuchtete Schau deines Intellektes, welche am Firmament deines Herzens wie ein Saphir erscheint, welchselbige [Schau] eine Empfängerin des Lichtes der Heiligen Dreifaltigkeit ist. Und dieses  Erkennungszeichen fuhrt dich zur Schau der sinnlichen Naturen. Und von dieser wiederum wirst du zur Erkenntnis der intelligiblen Naturen erhoben. Und von dieser wiederum steigst du zu den Offenbarungen und Geheimnissen von Gericht und Vorsehung auf. Und diese Leiter lässt dich aufsteigen und vermischt dich mit dem heiligen Licht der Schau unseres Herrn Jesus Christus. Und durch diese glorreiche und heilige Schau ergreift dich das Staunen über seine geistliche Welt, deren Guter unsagbar sind. Und aus diesem Staunen entsteht in dir ein Ausbruch der geistlichen Rede und die Erkenntnis der beiden Welten, die waren und die sein werden, und das Empfinden der Geheimnisse der zukünftigen Dinge, zusammen mit dem Riechen und heiligen Schmecken und (dem Hören) der zarten Stimmen der Geistwesen, und Freude und Jubel und Frohlochen und Lobpreis und Gesang und Preis und  Verherrlichung und Erhebung, und Gemeinschaft mit den geistlichen Rangen und Schau der Seelen der Heilligen, und Schau des Paradieses und Essen vom Baum des Lebens, und Umgang mit den Heiligen und dem Ort, an dem sie wohnen, mit anderen unsagbaren Dingen.

Ist es eine solche Vision, in der dithyrambisch-synästhetisch eine Erfüllung aller Wunsche, auch und gerade der eschatologischen, signalisiert wird, die alle »Visionen in Blau« – ob nun frohlockend, triumphal oder melancholisch erfahren – letztlich tragt, weil die Bürgerschaft hienieden keine bleibende ist, der Mensch also ein Fremdling ist und bleibt? Fremd-Sein kann durchaus eine fruchtbare Provokation zu einer Expedition ins Blaue sein, deren erhebender Vollzug eine existentielle Herausforderung darstellt.