Paul Valéry: Windstriche (5)

56×76 cm 2025 aug

Das Falsche verleiht dem Wahren Leben und Farbe.

Die Kinder und die kindlichen Völker sind es, die den Erwachsenen und den gealterten Völkern erzählen, was bezaubert und erregt. 

Das Denken ist brutal, es kennt keine Schonungen, Was ist brutaler als ein Gedanke?

Der Mensch schiesst einen Pfeil in die Zukunft, an dem sein Seil befestigt ist. Der Pfeil bohrt sich in ein Bild, und der Mensch lässt sich an diesen Gegenstand heranschleppen.

Seit den x-tausend Jahren, da es Menschen gibt, Menschen die denken, sind sie immer höchst überrascht darüber, dass sie denken, überrascht und verlegen, im Grund auch sehr verärgert. 

Gleichgewicht. 

Während der Seiltänzer dem labilsten Gleichgewicht ausgeliefert ist, tun wir einen Wunsch. 

Und dieser Wunsch ist merkwürdig doppelt und nichtig

Wir wünschen, dass er stürzt, und wir wünschen, dass er sich hält. Und dieser Wunsch ist notwendig; wir können nicht anders als ihn hegen, aufrichtig und in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Denn er schildert ehrlich unsere Seele in diesem Augenblick. 

Sie fühlt, dass der Mann stürzen wird, dass er stürzen muss, dass er bald schon stürzt. Und in sich vollendet sie seinen Sturz und erwehrt sich ihrer Erregtheit, indem sie ersehnt, was sie voraussieht. 

Für sie ist er schon gestürzt. Sie traut ihren Augen nicht, ihr Blick würde ihm nicht auf dem Seile folgen, ihn nicht mehr hinabstossen in jedem Augenblick, wenn er nicht schon gestürzt wäre … 

Aber sie sieht, dass er sich noch hält, und sie muss sich damit abfinden, dass es also Gründe gibt, die ihn oben halten, sie ruft diese Gründe an und beschwört sie fortzudauern. 

Manchmal erscheint uns das Dasein aller Dinge und auch unser eigenes in dieser Perspekttve. 

Schau zu, wenn im Blick der Menschen manchmal der Verstand vorüberzieht, mit seinem Gefolge von Albernheiten und vertrauten Tieren. Selten ist er allein, nie auf lange Zeit. Sieh, wie schön und rein er ist, wenn er zur Quelle schreitet. Affe und Schwein erwarten ihn auf dem Rückweg. 

Aussagen haben stets mehrere Bedeutungen, deren bemerkenswerteste sicherlich der Grund selber ist, warum die Aussage getan wurde. 

So bedeutet Quia nominor Leo durchaus nicht » Denn Löwe heisse ich «, sondern: » Ich bin ein grammatikalisches Beispiel «.  

»Le silence éternel etc.« sagen heisst deutlich verkünden: » Ich will euch mit meiner Tiefe erschrecken und mit meinem Stil in Verwunderung setzen. «  

Der Engel unterscheidet sich vom Dämon bloss durch eine Überlegung, die ihm noch bevorsteht.  

Pag. 78-79


Abfälle.

a) Zwei große, geheimnisvolle Abfälle hat es gegeben.

Abfall der Engel, Abfall des Menschen: homothetische Katastrophen, wie der Mathematiker sagen würde.

Alles, was ER machte, musste also fallen;

b) Jede auf der Vorstellung eines anfänglichen Abfalls begründete Religion ist den Schmerzen der Diskontinuität ausgesetzt.

c) Eine Schöpfung aber ist ein erster Bruch. Am Ursprung der Welt, zwei Akte: ein Akt des Schöpfers, ein Akt des Geschöpfes. Der eine begründet den Glauben und der andere . . . die Freiheit.

Pag. 79


50×70 aug 2025

Echte Tradition in grossen Werken besteht nicht darin, dass man wiederholt was die anderen gemacht haben, sondern dass man den Geist wiederfindet, der jene grossen Werke schuf und in anderen Zeiten ganz andere hervorbringen würde. 

Was nicht festgehalten wird, ist nichts. Was festgehalten wird, ist tot. 

Zwei Menschen begegnen sich. Ihr Lächeln wird gleichsam gegenseitig hervorgerufen und eine Zeitlang bewahrt. Dann ruht es sich aus und macht einigen ernsthafteren Sätzen Platz. Es erscheint wieder und verlässt das andere Lächeln. Sich selbst überlassen, verändert es sich und löst sich auf. Die getrennten Gesichter gehen wieder auf null zurück. 

Es gibt eine Art Liebe, die sich sowohl von der Leidenschaft als auch vom Vergnügen unterscheidet, sie aber verbindet und aus der Energie der einen und der Freiheit des anderen mit viel Geist, Zärtlichkeit und Takt eine Art Werk, ja Meisterwerk erschaffen kann … zwischen zwei Spiegeln. 

Er sprach und sprach … 

Und ich sah als Sinn und Ergebnis all seiner Reden nur den Umriss eines Menschen, der irgendwie auf Fensterscheiben trommelt, während der Regen von der anderen Seite klatschend auf sie fällt. 

Dieses Sprechen hatte zum Sinn seine Sinnlosigkeit, dazu kam meine Reaktion: die Langeweile. Und die Resultante beider war ein Bild der Langeweile. 

Der seltsame Blick, der auf den Dingen ruht, dieser Blick eines Menschen, der nicht wiedererkennt, der ausserhalb dieser Welt steht, als ein Auge, das sich Grenze ist zwischen Sein und Nichtsein – er gehört dem Denker. Und es ist auch der Blick eines Sterbenden, eines Menschen, der nichts mehr wiedererkennt. Darin ist der Denkende ein Sterbender, oder ein freiwilliger Lazarus. So freiwillig allerdings nicht. 

»Überdies … «, sagte die Fee, als sie wegging, >> ich bin beruhigt: der Mensch kann sich nur Dummes wünschen.« 

Pag. 80-81


LITERATUR

Bücher haben dieselben Feinde wie der Mensch: das Feuer, die Feuchtigkeit, Tiere, die Zeit – und den eigenen Inhalt.

Nackte Gedanken und Empfindungen sind ebenso schwach wie nackte Menschen. – Also muss man sie bekleiden.

Das Denken ist hermaphroditisch; es befruchtet sich und trägt sich selber aus.

Präambel.

Es gehört zum Wesen der Dichtung, dass man ihre Existenz leugnen kann; eine Versuchung zum Hochmut liegt nahe – in diesem Punkt gleicht sie Gott selbst. 

Man kann sie überhören, wie man IHN übersehen kann – ohne spürbare Folgen. 

Doch was alle Welt bestreiten kann und von dem wir wollen, dass es sei, wird Mitte und mächtiges Symbol für unsere eigene Daseinsberechtigung.

Ein Gedicht muss ein Fest des Intellekts sein. Es kann nichts anderes sein. 

Ein Fest: das heißt ein Spiel, aber ein hohes, geregeltes, voller Bedeutung; ein Bild dessen, was man gewöhnlich nicht ist, eines Zustandes, in dem die Anstrengung im Rhythmus erlöst ist. 

Man feiert etwas, indem man es in seiner reinsten und schönsten Form vollendet darstellt. 

Hier liegt das Vermögen der Sprache und das ihr entgegengesetzte Phänomen, das Verständnis, die Identität von Dingen, die sie trennt. Das Mühsame, Schwache, Alltägliche, das ihr anhaftet, wird beseitigt. Man organisiert alles, was der Sprache möglich ist.

Nach dem Fest darf nichts übrigbleiben. Asche, zerknitterte Girlanden. 

Im Dichter:

Spricht das Ohr,

Hort der Mund,

Zeugen und träumen Verstand und Wachen,

Sieht der Schlafklar,

Schauen Bild und Gesicht,

Sind Mangel und Leere die Schöpfer.

Die meisten Menschen haben von der Dichtung eine so unklare Vorstellung, dass diese Unklarheit selbst für sie zur Definition der Dichtung wird.

Pag. 81- 82


DICHTUNG

Poesie ist der Versuch, mit den Mitteln der artikulierten Sprache das darzustellen oder wiederherzustellen, was Schreie, Tränen, Liebkosungen, Küsse, Seufzer usw. dunkel auszudrücken versuchen, und was die Dinge scheinbar ausdrücken wollen in dem, was wir für ihr Leben und ihre Absicht nehmen. 

Dieser Inhalt ist nicht anders zu bestimmen. Er ist von der Art jener Energie, die sich erschöpft im Reagieren auf das, was ist …

Der Gedanke muss in den Versen verborgen sein wie die Nährkraft in der Frucht. Eine Frucht ist Nahrung, und scheint doch nur Genuss. Man weiß nur, dass man sie genießt, und nimmt doch Substanz auf. Das Entzücken verhüllt diese heimliche Nahrung, die es begleitet.

Der Gegenstand eines Gedichts ist ihm ebenso fremd und ebenso wichtig wie einem Menschen sein Name.

Pag. 83


Dichtung ist Fortleben. 

In einer Epoche, da sich die Sprache vereinfacht, da die Formen vernachlässigt entstellt werden, in einer Zeit der Spezialisierung ist Dichtung ein Bewahrtes. Heute, heisst das, wurde man den Vers nicht erfinden. Wie übrigens auch alle Riten nicht. 

Dichter is weiterhin, wer das verständliche und vorstellbare System sucht, zu dessen Ausdruck auch ein schöner sprachlicher Fund gehören würde: ein Wort, eine Wortfügung, die Bewegung und der Anfang eines Satzes – alles, was er zufällig gefunden, erweckt, berührt und bemerkt hat – weil er eben ein Dichter ist. 

Der lyrische Schwung ist die Entfaltung eines Ausrufs. 

Lyrismus ist die Art von Dichtung, welche die Stimme in actu voraussetzt – unmittelbar hervorgebracht oder hervorgerufen durch die Dinge, deren Gegenwart man sieht oder fühlt. 

Lange, sehr lange war die menschliche Stimme Grundlage und Bedingung der Literatur. Die Mitwirkung der Stimme erklärt die frühe Literatur, aus der die klassische ihre Form und jenes wunderbare Temperament gewann. Der ganze menschliche Körper steht hinter der Stimme, trägt den Gedanken und ermöglicht sein Gleichgewicht … 

Der Tag kam, da die Augen genügten, und man las, ohne zu buchstabieren, ohne zu hören – die Literatur bekam dadurch ein neues Gesicht. 

Entwicklung vom Ausgesprochenen zum Angedeuteten von rhythmischer Verknüpfung zum einzelnen Augenblick – von dem, was ein Auditorium erträgt und verlangt, zu dem, was ein Auge aushält und auf seinem raschen, gierigen, ungehemmten Flug über eine Seite hin mitnimmt. 

Pag. 84


STIMME POESIE

Die Qualitäten, die man mit einer menschlichen Stimme ausdrücken kann, sind dieselben, die man in der Poesie erforschen und erbringen muss. 

Und der »Magnetismus« der Stimme muss sich auf die geheimnisvolle und ausserrechtliche Verbindung der Ideen oder der Worte übertragen. 

Die Kontinuität des schönen Klangs ist wesentlich. 

Der Begriff der Inspiration enthält zugleich die Gedanken: was nichts kostet, ist am meisten wert. 

Das Wertvollste darf nichts kosten. 

Und den andern: Darauf am meisten stolz sein, wofür man am wenigsten kann. 

Bei der geringsten Korrektur ist das Prinzip der vollständigen Inspiration zerstört. – Der Verstand streicht durch, was der Gott leichthin geschaffen hat. So muss man ihm wohl seinen Anteil lassen, wenn man keine Ungeheuer erzeugen will. Wer aber nimmt die Teilung vor? Ist es der Verstand, so ist er demnach König; ist er es nicht, dann wäre es also eine völlig blinde Macht? 

Dieser grosse Dichter ist nichts als ein Gehirn voller Missverständnisse. Die einen schlagen zu seinem Besten aus, das sind die seltsamen Sprünge des Genies. Die andern, von den ersten nicht zu unterscheiden, zeigen sich als das, was sie sind: als Dummheiten und Zufallstreffer. – Dann nämlich, wenn er über die ersten nachdenken und aus ihnen Folgerungen ziehen will. 

Welche Schande, zu schreiben, wenn man nicht weiss, was Sprache, Wort, Metapher sind, Gedankenübergänge und Wechsel im Ton; wenn man die Struktur der zeitlichen Folge eines Werks und die Voraussetzungen für seinen Schluss nicht begreift, kaum das Warum kennt und schon gar nicht das Wie! Die Scham darüber, eine Pythia zu sein … 

Pag. 85


RHETORIK

Der antiken Rhetorik galten als Schmuck und Kunstgriffe jene Figuren und Beziehungen, welche die zunehmende Verfeinerung der Dichtung schliesslich als das Wesen ihres Gegenstandes erkannt hat; und in denen eines Tages die fortgeschrittene Analyse Auswirkungen sehen wird von tieferliegenden Eigenheiten oder dessen, was man Formempfinden nennen könnte. 

Es gibt zwei Arten Verse: die gegebenen und die errechneten

Die errechneten Verse erscheinen immer als Aufgaben, die man zu lösen hat – sie haben zur Voraussetzung zunächst die gegebenen Verse, dazu den Reim, die Syntax, den Sinn, die alle schon durch diese Gegebenheiten bestimmt sind. 

Wir schreiben immer, selbst in der Prosa, notwendig solches, was wir nicht schreiben wollten. Was wir wollten, will es. 

Ein grosser Erfolg des Reims ist es, die einfältigen Leute zu ärgern, die naiv genug sind zu meinen, es gebe auf der Welt Wichtigeres als eine Konvention. Sie haben den arglosen Glauben, irgendein Gedanke könne tiefer und dauerhafter sein – als jede beliebige Konvention … 

Nicht zuletzt darum wirkt der Reim so angenehm, schmeichelt er so sehr dem Ohr. 

Der Reim verkörpert ein vom Gegenstand unabhängiges Gesetz. Er ist einem äusseren Uhrwerk zu vergleichen. 

Ein Gedicht zu konstruieren, das nur lyrisch wäre ist unmöglich. Wenn es nur lyrisch ist, ist es nicht konstruiert ist es kein Gedicht.

Pag. 86


Gewinnt die Phantasie an Kraft und an Dauer, so bildet sie Organe aus, Grundsätze, Gesetze, Formen usw.; Mittel also, zu überdauern und ihrer selbst sich zu versichern. Die Improvisation berät sich; was aus dem Stegreif entstand, wird nun geplant, denn es gibt keine Dauer, keine Sicherheit, keine Kontinuität ohne dass etwas entstünde, was die Augenblicke zusammenfasst. 

Würde des Verses: fehlt ein Wort, so ist alles verfehlt.  

Eine leichte Störung des Gedächtnisses lässt ein Wort aufsteigen das nicht das gute ist, das aber sogleich zum besten wird. Dieses Wort macht Schule, die Unsicherheit wird System, Aberglaube usw.

Ein Werk, dessen Vollendung – der Entscheid, der es für vollendet erklärt – nur davon abhängt, ob es uns gefallt, ist nie vollendet. Unbeständigkeit gehört wesentlich zu jenem Urteil, das den letzten und den endgültigen Zustand gegeneinander abwägt, das Novissimum und das Ultimum. Die Maßeinheit schwankt.

Gelungenes entsteht durch Verwandlung aus Verfehltem. 

Verfehlt heißt demnach: zu früh aufgegeben.

Pag. 86-87


AUF DER SEITE DES AUTORS – VARIANTEN 

Ein Gedicht ist nie vollendet – es ist stets ein Zufall, der es zu Ende führt, d h. dem Publikum überreicht. 

Das ist entweder der Überdruss oder die Anfrage des Verlegers – oder ein nachdrängendes neues Gedicht. 

Jedoch beweist der Zustand des Werks (wenn der Autor kein Dummkopf ist) niemals, dass es nicht weitergetrieben, verändert, als erste Annäherung oder als Ausgangspunkt für neue Versuche betrachtet werden könnte. 

Ich denke, was mich angeht, dass dasselbe Thema, ja beinahe dieselben Wörter unaufhörlich wieder aufgegriffen werden und ein ganzes Leben ausfüllen könnten. 

»Vollendung« –

das ist Arbeit. 

Pag. 87


Wollte man sich alles Suchen vor Augen halten, welches das Schaffen oder übernehmen einer Form voraussetzt, so käme man nie auf den einfältigen Gedanken, sie dem Inhalt entgegenzusetzen. 

Man gelangt zur Form, wenn man danach strebt, dem Leser sowenig Mitarbeit wie nur möglich einzuräumen und auch sich selber möglichst wenig Unsicherheit und Willkür. 

Schlecht ist eine Form, die wir zu ändern versucht sind und von uns aus auch ändern; gut ist sie, wenn wir sie wiederholen und nachahmen, ohne sie erfolgreich abwandeln zu können. 

Form ist wesentlich an Wiederholung gebunden. 

Die Anbetung des Neuen ist demnach dem Bemühen um die Form entgegengesetzt. 

Echte und gute Regeln. 

Gut sind Regeln, welche die Kennzeichen der beste Momente in Erinnerung rufen und vorschreiben. Sie sind aus der Analyse jener begünstigten Augenblicke gewonnen. 

Sie geiten viel eher für den Autor als für das Werk. 

Wer nie den guten Geschmack verletzt, hat sich nie sehr weit in sich vorgewagt. 

Wer gar keinen Geschmack hat, hat es getan, ohne daraus Nutzen zu ziehen. 

Alle Teile eines Werks müssen »arbeiten«. 

Die einzelnen Teile eines Werks müssen miteinander durch mehr als nur einen Faden verbunden sein.

Theorem. 

Wenn ein Werk sehr kurz ist, erreicht die Wirkung des geringsten Details die Grössenordnung der Gesamtwirkung. 

Prosa ist ein Text, dessen Anliegen geradesogut ein anderer Text ausdrücken könnte. 

Pag. 88


WINK FÜR SCHRIFTSTELLER 

Von zwei Wörtern wähle man das weniger bedeutende. 

(Möge auch der Philosoph diesen kleinen Wink beherzigen.) 

Unsere Sprache ist so absonderlich, dass sie uns dazu zwingt, entweder einen Fehler zu machen oder nach Kunststücken Ausschau zu halten, um die widerlichen Folgen der Anwendung der Regeln zu vermeiden. Der Konjunktiv Imperfekt. 

Schriftsteller sind Menschen, für die ein Satz keine unbewusste Handlung ist wie das Kauen und Schlucken einer ungeduldigen Person, die nicht weiss, was sie isst. 

Im sehr schönen Stil zeichnet sich der Satz deutlich ah – errät man das Vorhaben – bleiben die Dinge geistig. 

Das Wort bleibt in einem gewissen Sinn rein wie das Licht, was es auch durchdringe und berühre. Es wirft berechenbare Schatten. Es verliert sich nicht in den Farben, die es hervorruft. 

»Mein Vers, ob gut oder schlecht, sagt immer etwas aus.« 

Dieser Grundsatz ist an unzähligen Greueln schuld. 

Ob gut oder schlecht – welche Gleichgültigkeit! 

Etwas – welche Anmassung! 

Der Kritiker soll nicht Leser, sondern Zeuge eines Lesers sein, der zuschaut, wie dieser liest und gerührt wird. Die wichtigste Aufgabe eines Kritikers ist, den Leser zu bestimmen. Die Kritik schaut allzusehr auf den Autor. Nützlich und förderlich wären vielmehr Hinweise wie der folgende: Dieses Buch sollen so geartete Menschen in dieser bestimmten Verfassung lesen. 

Ein Werk entspricht dem Abschnitt einer inneren Entwicklung in Gestalt des Akts, der es dem Publikum anvertraut oder es als abgeschlossen einschätzt. Der Kritiker muss diesen Akt beurteilen, nicht das Werk. So urteilt der Richter nicht über den Mord selber oder den kleinen Diebstahl, der begangen wurde, sondern über den Zustand dessen, der plötzlich genötigt war, seine schuldhaften Traumereien zu unterbrechen und in einer verbrecherischen Handlung zu entladen. Er bewertet den Widerstand einer bestimmten Schwelle. 

Wenn ein Werk erschienen ist, hat die Deutung, die ihm sein Verfasser gibt, nicht mehr Gewicht als die eines andern. 

Wenn ich Peters Porträt gemalt habe, und einer findet, das Bild gleiche eher Hans als Peter, kann ich ihm nichts entgegensetzen – und seine Behauptung gilt ebensoviel wie die meine. 

Meine Absicht ist nur meine Absicht, und das Werk ist das Werk. 

Einem Autor kann man höchstens vorwerfen, dass er sich zufriedengegeben hat, wo man den Eindruck hat, man wäre es selbst noch nicht gewesen. Man muss ihn also loben, wenn man ein Zeugnis dafür findet, dass er nicht zufrieden war mit einem Zustand, der uns selber befriedigt hätte. 

Pag. 89-90


AUS EFFEKTHASCHEREI 

Beschimpfungen geschehen aus Effekthascherei. 

KLARHEIT 

»Öffnen Sie diese Türe! « Das ist ein klarer Satz. – Wenn man ihn aber auf freiem Feld an uns richtet, verstehen wir ihn nicht mehr. Es sei denn, er wäre im übertragenen Sinn gemeint, dann verstehen wir ihn wieder.

Ein Zuhörer denkt sich diese wechselnden Bedingungen hinzu oder auch nicht, ist fähig oder auch nicht, sie beizusteuern


ET CETERA, ET CETERA 

Mallarmé liebte diese Wendung nicht – diese Geste, die das nutzlos Unendliche ausschliesst. Er ächtete sie. Ich, der an ihr Gefallen fand, war darüber erstaunt.

Der Geist kennt keine spezifischere Antwort. In dieser Wendung kommt er selber zu Wort. 

In der Natur, die unerbittlich vollständige Aufzählung ist, gibt es kein Etc. Vollständige Aufzählung. – Pars pro toto ist der Natur fremd. – Der Geist aber erträgt keine Wiederholung. 

Er scheint für das Besondere geschaffen. Ein für allemal. Sobald er Gesetz, Eintönigkeit, Wiederkehr gewahrt, räumt er das Feld. 

Wären die Leser nicht passiv, wären sie aktiv und ganz sie selber, so veränderte die Literatur rasch ihr Gesicht und neigte zu . . . Der aktive Leser macht Experimente mit den Büchern – er versucht sich an Transpositionen. 

Hinsichtlich vieler Themen verstehen die Menschen einander weit besser als sich selber. Die gleichen Wörter, die dem Einzelgänger dunkel sind, weil er sich in ihrem »Sinn« verliert, werden klar vom einen zum andern. 

Ein Werk ist um so klarer, je mehr Dinge es enthält, die der Leser gedanken- und mühelos aus sich selber hervorgebracht hätte. 

Was sehr gefällt, hat statistischen Charakter. Mittlere Qualitäten. 

Die niedrigste literarische Gattung ist diejenige, die von uns die geringste Anstrengung fordert.


Pag. 91

Überraschung als Ziel der Kunst? Aber man täuscht sich häufig in der Art der Überraschung, die der Kunst würdig ist. Kunst will nicht begrenzte Überraschungen, die nur im Unerwarteten bestehen, sondern unendliche, die durch einen immer neuen Entwurf erreicht werden, der alle Erwartung der Welt hinter sich lässt. Das Schone überrascht nicht deshalb, weil man sich nicht genügend darauf eingestellt hatte, nicht durch den bloßen Schock, sondern im Gegenteil, weil man sich so darauf eingestellt hat, dass man nicht weiß, wie man so vollkommene Schönheit selber herstellen oder ausdenken könnte.

Das Neue ist seiner Definition nach das Vergängliche an den Dingen. Die Gefahr ist, dass es unweigerlich aufhört, neu zu sein, ohne dass der Verlust ersetzt wird. Wie die Jugend und das Leben.

Diesen Verlust zu vermeiden suchen heißt gegen das Neue wirken. 

Als Künstler um das Neue bemüht sein bedeutet demnach verschwinden wollen, oder, in der Meinung, man suche das Neue, etwas ganz anderes erstreben und so einer Täuschung erliegen.

Nur den zieht das Neue unwiderstehlich an, der sich vom bloßen

Wechsel die größte Erregung verspricht.

Das Beste im Neuen entspricht einem alten Bedürfnis.

Pag. 92


bron: Valery, Paul, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Französischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 2017, (Suhrkamp)