Kleine Rezension über die Wahrheit
Ich war im Leben immer froh, wenn ich mich irrte und nicht recht hatte. Manchmal hatte ich es sogar, es ließ sich nichts machen, aber es kam mir jedesmal teuer zu stehen. Nicht nur mir. Der ganzen Menschheit. Ich weiß auch, je mehr Wahrheit, desto größer das Kreuz damit. So ist es in der Empirie. Um jedoch nicht als Zyniker dazustehen, muss ich gestehen, dass ich mich bei jeder Gelegenheit heftig für die Wahrheit einsetze, aber jedesmal aufatme, wenn ich feststelle, dass ich nicht recht habe.
Das halte ich dann für ein großes Glück und gehe mir ein Eis kaufen. Vor langen Jahren versicherte ich meinem Mitschüler Emanuel Novák in der Quarta, dass ich am Schulschluss in Mathematik mit Pauken und Trompeten durchfalle. Selbstverständlich hatte ich recht, aber zugleich eine Nachprüfung und verpatzte Ferien. Derartige Wahrheiten habe ich viele erlebt. In letzter Zeit waren ihre Folgen besonders bedrückend.
Auf meine Mitmenschen, die behaupten, dass sie recht haben, schaue ich mit Bewunderung, in der zärtliches Mitleid verhohlen ist. Ich versuche, sie unauffällig zu warnen. Wenn sie dann zu mir kommen und mir triumphierend und mit Verachtung mitteilen, dass sie sich doch nicht irrten, kleide ich mich in Schwarz. Sofern es Freunde sind.
Ich hege den Verdacht, dass die Menschen eigentlich gar nicht so sehr die Wahrheit lieben, als das, dass sie recht haben. Darin liegt ein gewisser Unterschied und die Grenze des Schattens. In einem Winkel meines rauchgeschwärzten Herzens glaube ich, dass ein anständiger Mensch die Luge hasst, aber sehr niedergeschlagen zu sein pflegt, wenn er recht haben muss. Die einfachen Wahrheiten, die gewöhnlichen, die schmetterlingshaften liebe ich allerdings. Die sonnenklaren. Die, die existieren und für die niemand kämpfen muss. Vladimír Pazourek, der Bücher schreibt, ins Dampfbad geht und Fußball (also Volleyball mit Füssen) spielt, kam vor kurzem, um mir mitzuteilen, dass heutzutage soviel getrunken wird, dass gar keine Zeit mehr fürs Trinken bleibt. Ich umarmte ihn mit Tränen in den Augen. Er hat recht. Ich weiß es aus eigener Erfahrung.
Jan Skácel
Bron:
Skácel, Jan, Für alle die im Herzen barfuß sind. Lyrik und Prosa. Ausgewählt von Peter Hamm. Aus dem Tschechischen von Reiner Kunze, Felix Philipp Ingold, Urs Heftrich und Christa Rothmeier, Göttingen 2018, (Wallstein Verlag), p. 131-132
