DIE TIEFE LANGEWEILE

Das Übermaß an Positivität äußert sich auch als Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen. Es verändert radikal die Struktur und Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dadurch wird die Wahrnehmung fragmentarisiert und zerstreut. Auch die wachsende Arbeitsbelastung macht eine besondere Zeit- und Aufmerksamkeitstechnik notwendig, die sich wiederum auf die Aufmerksamkeitsstruktur auswirkt. Die Zeit- und Aufmerksamkeitstechnik Multitasking stellt keinen zivilisatorischen Fortschritt dar. Das Multitasking ist keine Fähigkeit, zu der allein der Mensch in der spätmodernen Arbeits- und Informationsgesellschaft fähig wäre. Es handelt sich vielmehr um einen Regress. Das Multitasking ist gerade bei den Tieren in der freien Wildbahn weit verbreitet. Es ist eine Aufmerksamkeitstechnik, die unerlässlich ist für das Überleben in der Wildnis.

Ein Tier, das mit dem Fressen beschäftigt ist, muss sich gleichzeitig anderen Aufgaben zuwenden. Es muss z.B. seine Fressfeinde von der Beute fernhalten. Es muss ständig aufpassen, damit es beim Fressen nicht selbst gefressen wird. Gleichzeitig muss es seinen Nachwuchs bewachen und seine Geschlechtspartner im Auge behalten. In der freien Wildbahn ist das Tier dazu gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf diverse Tätigkeiten zu verteilen. So ist es zu keiner kontemplativen Versenkung fähig – weder beim Fressen noch beim Kopulieren. Das Tier kann sich nicht kontemplativ in sein Gegenüber versenken, weil es gleichzeitig den Hintergrund bearbeiten muss. Nicht nur das Multitasking, sondern auch Aktivitäten wie Computerspiele erzeugen eine breite, aber flache Aufmerksamkeit, die der Wachsamkeit eines wilden Tieres ähnlich ist. Die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen und der Strukturwandel der Aufmerksamkeit nähern die menschliche Gesellschaft immer mehr der freien Wildbahn an. Inzwischen erreicht z.B. das Mobbing ein pandemisches Ausmaß. Die Sorge um das gute Leben, zu dem auch das gelingende Zusammenleben gehört, weicht immer mehr der Sorge ums Überleben.

Die kulturellen Leistungen der Menschheit, zu denen auch die Philosophie gehört, verdanken wir einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit. Die Kultur setzt eine Umwelt voraus, in der eine tiefe Aufmerksamkeit möglich ist. Diese tiefe Aufmerksamkeit wird zunehmend von einer ganz anderen Form der Aufmerksamkeit, der Hyperaufmerksamkeit (hyperattention), verdrängt. Ein rascher Fokuswechsel zwischen verschiedenen Aufgaben, Informationsquellen und Prozessen kennzeichnet diese zerstreute Aufmerksamkeit. Da sie auch eine sehr geringe Toleranz für die Langeweile hat, lasst sie genauso wenig jene tiefe Langeweile zu, die nicht unwichtig wäre für einen kreativen Prozess. Walter Benjamin nennt diese tiefe Langeweile einen »Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet«. 14 Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen, so sei die tiefe Langeweile der Höhepunkt der geistigen Entspannung. Eine reine Hektik bringt nichts Neues hervor. Sie reproduziert und beschleunigt das bereits Vorhandene. Benjamin beklagt, dass diese Entspannungs- und Zeitnester des Traumvogels in der Moderne immer mehr verschwinden. Es werde nicht mehr »gewebt und gesponnen«. Die Langeweile sei ein »warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist« und in das »wir uns wickeln, wenn wir träumen«. Wir seien »in den Arabesken seines Putters zuhause«.” Mit dem Verschwinden der Entspannung verliere sich die »Gabe des Lauschens« und verschwinde die »Gemeinschaft der Lauschenden«. Ihr ist unsere Aktivgemeinschaft diametral entgegengesetzt. Die »Gabe des Lauschens« beruht gerade auf der Fähigkeit zur tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit, zu der das hyperaktive Ego keinen Zugang hat.

Wer sich beim Gehen langeweilt und dabei keine Toleranz für die Langeweile besitzt, wird unruhig and zappelnd umhergehen oder dieser und jener Tätigkeit nachgehen. Wer aber mehr Toleranz für die Langeweile besitzt, wird nach einer Weile erkennen, dass möglicherweise das Gehen als solches ihn langeweilt. So wird er dazu getrieben, eine ganz neue Bewegung zu erfinden. Das Laufen oder Rennen ist keine neue Gangart. Es ist ein beschleunigtes Gehen. Der Tanz etwa oder das Schweben stellen eine ganz andere Bewegung dar. Der Mensch allein kann tanzen. Womöglich ergriff ihn beim Gehen eine tiefe Langweile, so dass er durch diesen Anfall der Langeweile hindurch vom Laufschritt in den Tanzschritt überging. Verglichen mit dem linearen, geraden Gang ist der Tanz mit seinen verschnörkelten Bewegungen ein Luxus, der sich dem Leistungsprinzip ganz entzieht.

Mit dem Titel »Vita contemplativa« sollte nicht jene Welt wiederbeschworen werden, in der sie ursprünglich beheimatet ist. Sie ist an jene Seinserfahrung gebunden, nach der das Schone und das Vollkommene unveränderlich und unvergänglich ist und sich jedem menschlichen Zugriff entzieht. Ihre Grundstimmung ist das Staunen über das So-Sein der Dinge, das jeder Machbarkeit und Prozessualität enthoben ist. Der cartesianisch- neuzeitliche Zweifel lost das Staunen ab. Das kontemplative Vermögen ist jedoch nicht notwendig an das unvergängliche Sein gebunden. Gerade das Schwebende, das Unscheinbare oder das Flüchtige erschließen sich allein einer tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit. 16 Auch den Zugang zu dem Langen und Langsamen hat nur das kontemplative Verweilen. Formen oder Zustände der Dauer entziehen sich der Hyper-Aktivität. Paul Cézanne, dieser Meister der tiefen, kontemplativen Aufmerksamkeit, bemerkt einmal, er könne auch den Duft der Dinge sehen. Diese Visualisierung der Düfte erfordert eine tiefe Aufmerksamkeit. Im kontemplativen Zustand tritt man gleichsam aus sich heraus und versenkt sich in die Dinge. Merleau-Ponty beschreibt Cézannes kontemplative Betrachtung der Landschaft als eine Entäußerung oder Entinnerlichung: »Zunächst versuchte er sich Klarheit über die geologischen Schichten zu  verschaffen. Dann bewegte er sich nicht mehr von der Stelle und schaute nur noch, bis ihm die Augen, wie Madame Cézanne sagte, aus dem Kopf heraustraten.

(… ) Die Landschaft, sagte er, denkt sich in mir, ich bin ihr Bewusstsein.«17 Allein die tiefe Aufmerksamkeit unterbindet die »Unstetigkeit der Augen« und erzeugt die Sammlung, die in der Lage ist, »die umherirrenden Hände der Natur zu verschränken«. Ohne diese kontemplative Sammlung irrt der Blick unruhig umher und bringt nichts zum Ausdruck. Die Kunst ist aber eine »Ausdruckshandlung«. Selbst Nietzsche, der das Sein durch den Willen ersetzt hat, weiß, dass das menschliche Leben in einer tödlichen Hyper-Aktivität endet, wenn aus ihm jedes beschauliche Element ausgetrieben wird: »Aus Mangel an Ruhe lauft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Masse zu verstärken.«18

Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft. Um die Essays Burnoutgesellschaft und Hoch-Zeit, Berlin 2018, (Matthes & Seitz) pag. 26 – 31