Mensch und Selbst

DRITTES BUCH
DER MENSCH UND SEIN SELBST ODER METAETHIK
uit: Rosenzweig, F., Der Stern der Erlösung (den Haag 1976) (Martinus Nijhof) p. 67-90

Negative psychologie

VOM Menschen – sollten wir auch von ihm nichts wis- sen? Das Wissen des Selbst von sich selber, das Selbst- bewußtsein, steht in dem Rufe, das bestgesicherte alles Wissens zu sein. Und der gesunde Menschenverstand sträubt sich fast noch heftiger als das wissenschaftliche Bewußtsein, wenn ihm die wahrhaft und wörtlich selbst-verständliche Grundlage des Wissens unter den Füßen fortgezogen werden soll. Dennoch ist es geschehen, freilich erst spät. Es bleibt eine der erstaunlichsten Leistungen Kants, daß er dies Selbstverständlichste, das Ich, recht eigentlich zum Problem, zum Allerfragwürdigsten, gemacht hat. Vom erkennenden Ich lehrt er, daß es nur in der Beziehung auf das Erkennen, an seinen Früchten also, nicht „an sich selbst“, zu erkennen ist. Und gar vom wollenden weiß er, daß die eigentliche Moralität, Verdienst und Schuld, der Handlungen, selbst unsrer eigenen, uns stets verborgen bleibt. Damit erstellt er eine negative Psychologie, die einem ganzen Jahrhundert, dem Jahrhundert einer Psychologie ohne Seele, zu denken gegeben hat. Wir brauchen kaum zu betonen, daß auch hier uns das Nichts nicht für ein Ergebnis, sondern für den Ausgangspunkt des Denkens gilt. Es mußte wohl einmal das Absurde gedacht werden. Denn es ist der tiefe Sinn des vielmißbrauchten Credo quia absurdum, daß aller Glaube zu seiner Voraussetzung ein Absurdum des Wissens braucht. Damit also der Inhalt des Glaubens selbstverständlich werde, ist es nötig, daß das anscheinend Selbstverständliche vom Wissen zu einem Absurden gestempelt sei. Das ist der Reihe nach mit den drei Elementen dieses Inhalts, mit Gott, der Welt und dem Menschen, geschehen: mit Gott schon in den Anfängen des Mittelalters, mit der Welt zu Beginn der Neuzeit, mit dem Menschen zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Erst nachdem so das Wissen nichts mehr einfach und klar ließ, erst seitdem kann der Glaube das vom Wissen ausgestoßene Einfache in seine Hut nehmen und dadurch selber ganz einfach werden.

Zur methode

Der Mensch ist unbeweisbar, so gut wie die Welt und wie Gott. Sucht das Wissen gleichwohl eins von diesen dreien zu beweisen, so verliert es sich mit Notwendigkeit ins Nichts. Diesen Koordinaten, zwischen denen jeder Schritt, jede Bewegung, die es tut, sich abzeichnet, kann es nicht entweichen – und nähme es Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer; denn aus der Bahn, die von jenen drei Elementen be- stimmt wird, kann es nicht herausspringen. So ist das Nichts des beweisenden Wissens hier immer nur ein Nichts des Wissens und genauer ein Nichts des Beweisens, dem gegenüber die Tatsache, die den Raum mit- gründet, worin das Wissen selber lebt und webt und ist, in ihrer ganzen schlechthinnigen Tatsächlichkeit ungerührt stehen bleibt. Und das Wissen kann deshalb hier nichts weiter als den Weg von dem Unbeweisbaren, dem Nichts des Wissens, hin zur Tatsächlichkeit der Tatsache nachgehn – eben das, was wir hier zweimal schon getan haben und nun ein drittes Mal tun.

MENSCHLICHE EIGENHEIT

Auch vom Menschen also wissen wir nichts. Und auch dieses Nichts ist nur ein Anfang, ja nur der Anfang ei- nes Anfangs. Auch in ihm erwachen die Urworte, das schaffende Ja, das zeugende Nein, das gestaltende Und. Und das Ja schafft auch hier im unendlichen Nicht- nichts das wahre Sein, das „Wesen“.
Was ist dies wahre Sein des Menschen? Das Sein Gottes war schlechthinniges Sein, Sein jenseits des Wissens. Das Sein der Welt war im Wissen, gewußtes, allgemeines Sein. Was ist gegenüber Gott und Welt das Wesen des Menschen? Goethe lehrt es uns: „Was unterscheidet Götter von Menschen? daß viele Wellen vor jenen wandeln – uns hebt die Welle, verschlingt die Welle, und wir versinken“. Und der Prediger lehrt es uns: „Geschlecht geht, Geschlecht kommt, doch die Erde steht ewiglich“. Vergänglichkeit, die Gott und Göttern fremde, der Welt das bestürzende Erlebnis ihrer eigenen, sich allzeit erneuernden Kraft, ist dem Menschen die immerwährende Atmosphäre, die ihn umgibt, die er mit jedem Zug seines Atems einsaugt und ausstößt. Der Mensch ist vergänglich, Vergänglichsein ist sein Wesen, wie es das Wesen Gottes ist, unsterblich und unbedingt, das Wesen der Welt, allgemein und notwendig zu sein. Gottes Sein ist Sein in Unbedingten, der Welt Sein Sein im Allgemeinen, des Menschen Sein ist: Sein im Besonderen. Das Wissen liegt nicht unter ihm wie für Gott, nicht um ihn und in ihm wie für die Welt, sondern über ihm; er ist nicht jenseits der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Wissens, sondern diesseits; er ist nicht, wenn das Wissen aufhört, sondern ehe es anfängt; und nur weil er vor dem Wissen ist, kommt es, daß er auch nachher noch ist und allem Wissen, mag es ihn noch so vollständig in die Gefäße seiner Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit aufgefangen zu haben wähnen, immer wieder sein sieghaftes „Ich bin noch da“ zuruft. Sein Wesen ist eben, daß er sich nicht auf Flaschen ziehen läßt, daß er immer „noch da“ ist, daß er in seiner Besonderheit stets gegen den Machtspruch des Allgemeinen auftrumpft, daß ihm die eigene Besonderheit nicht, wie es ihm die Welt wohl zugestehen möchte, Ereignis ist, sondern gerade sein Selbstverständliches, – sein Wesen. Sein erstes Wort, sein Urja, bejaht sein Eigensein. Im grenzenlosen Nicht seines Nichts gründet diese Bejahung sein Besonderes, sein Eigenes als sein Wesen. Ein Einzelnes also, aber kein Einzelnes wie das Einzelne der Welt, das momenthaft in einer unaufhörlichen Reihe von Einzelnen aufschießt, sondern ein Einzelnes im grenzenlosen leeren Raum, ein Einzelnes also, das von andern Einzelnen neben ihm nichts weiß, das überhaupt von einem „neben ihm“ nichts weiß, weil es „überall“ ist, ein Einzelnes nicht als Tat, nicht als Ereignis, sondern als immerwährendes Wesen.
Diese Eigenheit des Menschen ist also etwas anderes als die Individualität, die er als einzelne Erscheinung innerhalb der Welt annimmt. Sie ist keine Individualität, die sich gegen andre Individualitäten abscheidet, sie ist kein Teil – und das Individuum bekennt, grade indem es auf seine Unteilbarkeit pocht, daß es selber Teil ist. Sie ist eben zwar nicht selbst unendlich, aber „im“ Unendlichen; sie ist Einzelnes und dennoch Alles. Um sie herum liegt die unendliche Stille des menschlichen Nicht-nichts; sie selber ist der Ton, der in diese Stille tönt, ein Endliches und doch Grenzenloses.

URWORT

Unsre Symbolsprache hat hier klare Bahn. Die ursprüngliche Bejahung, die stets die rechte Seite unsrer Gleichungen setzt, das ursprüngliche „So“, hatte in der Physis Gottes ihre Schlechthinnigkeit, im Logos der Welt ihre Allgemeingültigkeit ausgewirkt; im ersten Fall also war die Kraft wirksam geworden, die dem einzelnen Wort einen Sinn überhaupt, im zweiten die, welche ihm die Gleichheit seiner Bedeutung sichert. Hier tritt die Richtung des Urja in Kraft, die dem einzelnen Wort nicht bloß einen und immer den gleichen, sondern seinen besonderen Sinn begründet, im Unterschied also auch von der Besonderheit, die der einzelne Fall der Anwendung stets neu bestimmt, die Besonderheit, die das Wort schon vor aller Anwendung hat. Die Besonderheit nicht als Überraschung des Augenblicks und Augen-Blicks, sondern als daseiender Charakter findet ihre Stätte im persönlichen Ethos des Menschen – „nur allein der Mensch vermag das Unmögliche, er kann dem Augen- blick Dauer verleihn“; er kann es, eben weil er selbst gerade das, was den Augenblick „in schwankender Erscheinung schweben“ läßt, die Besonderheit, als sein dauerndes Wesen in sich trägt. Ihm allein wird die Besonderheit nicht zur teilhaften „Individualität“, sondern zur unbegrenzten Eigenheit des „Charakters“.

Zeichen

Als Besonderes kann die Eigenheit nur durch B be- zeichnet werden. Eine Richtung haben wir nicht darin feststellen können. Sie ist ebenso richtungslos, so jenseits von aktiv und passiv, ja in ihrer Endlichkeit eben- so schlechthin seiend, wie das unendliche Sein Gottes; seinem einfachen, vorzeichenlosen A tritt sie als ein ebenso einfaches vorzeichenloses B entgegen. Sein steht hier gegen Sein. Dem erfüllungsbedürftigen, un- endlich formalen Sein der Welt gegenüber aber ist das unbedürftige, grenzenlos besondere Sein des Menschen nicht gegensätzlich, sondern ganz geschieden. Zwischen =A und B gilt gar keine Beziehung. Käme es bloß auf das Wesen an, so wäre zwischen Gott und Mensch Feindschaft gesetzt; Welt und Mensch aber lägen auf verschiedenen Ebenen und nicht einmal Feindschaft wäre zwischen ihnen möglich. Es kommt nicht bloß auf das Wesen an, aber etwas bleibt von diesem Verhältnis der Elemente auch noch in der schließ- lichen Gestalt der Gleichung; da wird freilich dann auch wirksam, daß gerade zwischen Welt und Mensch doch andrerseits auch eine besonders enge Beziehung besteht, nämlich das gleichmäßige Vorkommen der richtungslosen schlechthinnigen Besonderheit, B, bei der Welt freilich als „Nein“, beim Menschen als „Ja“, dort als immer neues Wunder der Individualität, hier als das dauernde Sein des Charakters. Aber es ist immerhin das erste und wie wir sehen werden das einzige Mal, daß in unsern Gleichungen ein Glied mehr als ein Mal auftritt. Die Bedeutung dieses Umstandes kann erst später erkannt werden.

 

MENSCHLICHER WILLE

Auch vom Menschen also wissen wir nichts. Und auch bei dem So des Charakters hat es nicht sein Bewenden, sowenig wie bei einem früheren So. Auch an des Men- schen Nichts, nachdem es sich im Charakter als ein Nichts, aus dem Bejahung hervorgehen konnte, erwiesen hat, darf sich nun die Kraft des Nein erproben. Wieder gilt es, das Nichts im Nahkampf der Endlichkeit niederzuringen, wieder aus diesem tauben Felsen einen Brunnen lebendigen Wassers fließen zu lassen. Das Nichts der Welt kapitulierte vor dem sieghaften Nein in der sprudelnden Fülle der Erscheinung. Gottes Nichts zerbrach vor seinem Nein zur immer neuen göttlichen Freiheit der Tat. Dem Menschen erschließt sich sein Nichts in der Verneinung gleichfalls zu einer Freiheit, seiner Freiheit, einer sehr andern zwar als der göttlichen. Denn Gottes Freiheit war infolge ihres un- endlichen und ganz passiven Gegenstandes, des göttlichen Wesens, ohne weiteres unendliche Macht, das heißt Freiheit zur Tat. Die Freiheit des Menschen aber wird auf ein Endliches, wenn auch Unbegrenztes, nämlich Unbedingtes, stoßen; so wird sie selber schon in ihrem Ursprung ein Endliches sein. Nicht bloß, wie ja auch Gottes Freiheit, endlich in der stets erneuerten Augenblickshaftigkeit ihres Hervorschießens; das wäre die Endlichkeit, die schon gefordert ist durch das un- mittelbare Hervorspringen aus dem verneinten Nichts; denn alle Verneinung, soweit sie nicht nur die in der Form der Verneinung geschehende unendliche Bejahung ist, setzt ein Bestimmtes, Endliches. Nicht bloß also eine solche Endlichkeit, wie sie auch Gottes Frei- heit hat, sondern eine ihr selber abgesehen von ihrem Hervorgang innewohnende Endlichkeit ist die Endlichkeit der menschlichen Freiheit. Die menschliche Frei- heit ist endliche, aber infolge ihres unmittelbaren Ursprungs aus dem verneinten Nichts unbedingte, unbedingte, Nichts und nur Nichts und keinerlei Ding vor- aussetzende Freiheit. Sie ist also nicht, wie die Gottes, Freiheit zur Tat, sondern Freiheit zum Willen; nicht freie Macht, sondern freier Wille. Das Können ist ihr, im Gegensatz zur göttlichen Freiheit, schon in ihrem Ursprung versagt, aber ihr Wollen ist so unbedingt, so grenzenlos wie das Können Gottes.

ZEICHEN

Dieser freie Wille ist endlich und augenblickshaft in seinen Äußerungen, wie es die weltliche Erscheinungs- fülle ist. Aber im Gegensatz zu dieser begnügt er sich nicht einfach mit seinem Dasein und kennt ein andres Gesetz als das der eigenen Schwere; er stürzt nicht, er hat Richtung. Sein Symbol ist also wie bei der Erscheinungsfülle ein B auf der linken Seite der Gleichung, aber zum Unterschied kein einfaches B, sondern ein „B= „. Das Symbol hat also dieselbe Form wie das Symbol der göttlichen Freiheit, „A=„, aber den entgegengesetzten Inhalt, – der freie Wille ist so frei wie die freie göttliche Tat; aber Gott hat keinen freien Willen, der Mensch kein freies Können; „gut sein“ bedeutet beim Gott: das Gute tun, beim Menschen: das Gute wollen. Und das Symbol hat die entgegengesetzte Form, aber den gleichen Inhalt, wie das Symbol der weltlichen Erscheinung: die Freiheit erscheint in der Erscheinungswelt als ein Inhalt unter andern, aber sie ist das „Wunder“ in ihr; sie ist unterschieden von allen andern Inhalten.

UNABHÄNGIGKEIT DES MENSCHEN

Kant, den wir ja eben zitierten, hat also mit unleugbar großartiger Intuition das Wesen der Freiheit sichergestellt. Auch die weitere Entwicklung wird uns hier im- mer wieder in seine Nähe führen, wenn auch immer wieder in die Nähe nur seiner Intuitionen. Wir gehen jetzt zunächst wieder den Weg nach, der vom freien Willen zur Eigenheit führt und auf dem der Mensch, der als freier Wille und als Eigenheit noch eine bloße Abstraktion war, erst Selbst gewinnt. Denn was ist der freie Wille, solange er bloß Richtung, aber noch keinen Inhalt hat? Und was ist die Eigenheit, solange sie bloß – ist? Wir suchen den lebendigen Menschen, das Selbst. Das Selbst ist mehr als Wille, mehr als Sein. Wie wird es dieses Mehr, dies Und? Was geschieht dem menschlichen Willen, wenn er seiner inneren Richtung folgend den Weg zum menschlichen Sein einschlägt?
Er ist von vornherein endlich, und da er Richtung hat, so ist er es mit Bewußtsein; er will gar nichts andres als das, was er ist; er will, wie Gottes Freiheit, sein eigenes Wesen; aber dies eigene Wesen, das er will, ist kein unendliches, in dem die Freiheit sich als Macht erkennen dürfte, sondern ein endliches. Der freie Wille also noch ganz in seinem eigenen Bereich, aber doch schon seinen Gegenstand von ferne sichtend, erkennt sich in seiner Endlichkeit, ohne doch im mindesten etwas von seiner Unbedingt- heit preiszugeben. An diesem Punkt seines Wegs, noch ganz unbedingt und doch schon seiner Endlichkeit bewußt, wird er aus dem freien Willen zum trotzigen Willen. Der Trotz, das stolze Dennoch, ist dem Men- schen, was dem Gotte die Macht, das erhabene Also, ist. Gleich souverän ist der Anspruch des Trotzes wie das Recht der Macht. Als Trotz nimmt das Abstraktum des freien Willens Gestalt an.
Als Trotz läuft er nun weiter seine Bahn – wir erinnern uns: es handelt sich nur um innere Bewegungen im Menschen, das Verhältnis zu den Dingen kommt gar nicht in Frage – bis zu dem Punkt, wo die Existenz der Eigenheit sich ihm so fühlbar macht, daß er nicht mehr unverändert weitergehen kann, ohne sie zu be- achten. Diesen Punkt, wo die Eigenheit in ihrer stummen daseienden Tatsächlichkeit dem freien Willen in den Weg zu liegen kommt – in den Weg tritt, wäre schon zu viel gesagt -, diesen Punkt bezeichnet ein Name, den wir schon vorhin, etwas vorgreifend, mehr- fach zur Erläuterung des Begriffs der Eigenheit gegen- über der „Individualität“ verwendet haben: der Charakter. Der Wille würde an der Eigenheit sich in Nichts auflösen; mit dem Hinweis auf die Eigenheit demütigt ihn Mephistos „du bleibst doch immer was du bist“. Am Charakter geschieht dem Trotz nicht wie dem Willen an der Eigenheit seine Vernichtung, sondern er bleibt noch durchaus als Trotz erhalten; nicht seine Aufhebung findet er hier, aber seine Bestimmung, sei- nen Inhalt. Der Trotz bleibt Trotz, er bleibt formell un- bedingt, aber er nimmt den Charakter zum Inhalt: der Trotz trotzt auf den Charakter. Das ist die Selbstbewußtheit des Menschen oder kürzer gesagt: das ist das Selbst. Das „Selbst“ ist das, was in diesem Übergriff des freien Willens auf die Eigenheit, als Und von Trotz und Charakter, entsteht.
Das Selbst ist schlechthin in sich geschlossen. Das verdankt es seiner Verwurzelung im Charakter. Wurzelte es in der Individualität, hätte sich also der Trotz auf die Besonderheit des Menschen gegenüber andern, auf seinen unteilbaren Anteil am allgemeinen Menschentum geworfen, so würde nicht das Selbst, das in sich geschlossene, nicht aus sich her- ausblickende, entstanden sein, sondern die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ist, wie schon der Ursprung des Namens sagt, der Mensch, der seine ihm vom Schicksal her zugewiesene Rolle spielt, eine Rolle neben andern, eine Stimme in der vielstimmigen Symphonie der Menschheit. Sie ist wirklich „höchstes Gut der Erden- kinder“, – eines jeden von ihnen. Das Selbst hat keine Beziehung zu den Menschenkindern, immer nur zu einem einzigen Menschen, eben dem „Selbst“. Allen- falls kann auch die Gruppe, wenn sie sich für schlecht- hin einzig hält, das Volk etwa, dem alle andern Völker „Barbaren“ sind, ein Selbst haben. Vom Selbst gibt es keinen Plural. Die Einzahl „Persönlichkeit“ ist nur eine Abstraktion, die ihr Leben aus dem Plural „Persönlichkeiten“ zieht. Die Persönlichkeit ist immer eine unter andern; sie wird verglichen; das Selbst vergleicht sich nicht und ist unvergleichbar. Das Selbst ist kein Teil, kein Unterfall, auch kein eifersüchtig bewachter Anteil am gemeinsamen Gut, den „aufzugeben“ verdienstlich sein könnte. Das sind alles Gedanken, die nur für die Persönlichkeit gedacht werden können. Das Selbst ist nicht aufgebbar – wem denn? es ist ja niemand für es da, dem es etwas „geben“ könnte; es ist allein; es ist keines von den „Menschenkindern“; es ist Adam, der Mensch selbst.



Zeichen

Von der Persönlichkeit sind zahlreiche Aussagen möglich, so zahlreiche wie von der Individualität. Sie folgen alle als einzelne Aussagen dem Schema B=A, in welchem alle Aussagen über die Welt und ihre Teile vorgebildet sind; die Persönlichkeit wird stets als einzelne in ihrem Verhältnis zu andern einzelnen und zu einem Allgemeinen definiert. Vom Selbst gibt es keine abgeleiteten Aussagen, nur die eine ursprüngliche, B=B; so wie es von Gott oder der Welt keine Mehrheit von Aussagen gibt, sondern nur die einen ursprünglichen, in den Gleichungen symbolisierten. Obwohl doch der Charakter an sich etwas ebenso Einzelnes ist wie die Individualität und infolgedessen an sich auch durch das gleiche nackte Symbol B bezeichnet wird, so ist er doch dadurch, daß er im Gegensatz zur Individualität auf der rechten Gleichungsseite erscheint, von ihr aufs vollkommenste unterschieden. Die Individualität ist dadurch, daß sie auf der linken Gleichungsseite auftritt, als Gegenstand gekennzeichnet. Der Charakter als auf der rechten Seite der Gleichung stehend erweist sich als selber Aussage, Behauptung. Daß er Besonderes ist, darauf wird, wie eben dieser Platz in der Gleichung zeigt, nicht weiter zurückgekommen; denn das Besondere entwickelt seine Besonderheit, indem es, wie alles Besondere in der Welt, einschließlich auch der Individualität, sich zum Gegenstand von Aussagen machen läßt. Ein Besonderes, das selbst auf die Aussageseite der Gleichung tritt, verzichtet darauf, daß von ihm Aussagen gemacht werden; es verzichtet auf die Entwicklung und Darstellung seiner Besonderheit. Es macht sich selbst zum Aussageinhalt für etwas andres. Das tut von allem Besonderen nur dies eine, der Charakter. Der Charakter ist die Aussage, die den freien Willen „näher bestimmt“. Was will der freie Wille? den eigenen Charakter. So wird der freie Wille zum trotzigen Willen, und Willenstrotz und Charakter ver- dichten sich zur Gestalt des Selbst.
Das Selbst, in der Gleichung B=B symbolisiert, stellt sich also unmittelbar dem Gott gegenüber. Wir sehen, wie die völlige äußere Gegensätzlichkeit des Inhalts bei ebenso völliger Gleichheit der Form wie in der fertigen Gleichung, so schon in der werdenden sichtbar war. Die fertige Gleichung bezeichnet die reine Insichgeschlossenheit bei ebenso reiner Endlichkeit. Als Selbst, wahrhaftig nicht als Persönlichkeit, ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen. Adam ist wirklich, im Gegensatz zur Welt, genau „wie Gott“, nur lauter Endlichkeit, wo jener lauter Unendlichkeit ist, – die Schlange wendet sich mit gutem Grund an den Menschen allein in der ganzen Schöpfung. Zur Welt steht der Mensch als fertiges Selbst nicht mehr in dem komplizierten Verhältnis wie die Elemente vor ihrem Zusammentreten im Und, sondern ganz einfach als ein Gleiches, von dem jedoch Entgegengesetztes ausgesagt wird. Das Subjekt B kann entweder A sein oder B. Im ersten Falle, B=A, ist es Welt, im zweiten, B=B, ist es Selbst. Der Mensch kann offenbar, so lehren uns die Gleichungen, beides sein; er ist nach Kants Wort „Bürger zweier Welten“.
Wobei freilich dieser an sich starke Ausdruck auch schon wieder die ganze Schwäche Kants verrät, über der sein Unvergängliches zunächst in Vergessenheit geriet: in der Gleichsetzung der beiden Sphären als „Welten“. Welt ist eben nur die eine. Die Sphäre des Selbst ist nicht Welt und wird es auch nicht dadurch, daß man sie so nennt. Damit die Sphäre des Selbst „Welt“ wird, muß „diese Welt vergehn“. Der Ver- gleich, der das Selbst in eine Welt einordnet, verführt schon bei Kant selbst und ganz offen bei seinen Nach- folgern zur Verwechslung dieser „Welt“ des Selbst mit der vorhandenen Welt. Er täuscht hinweg über den Kampf des Unversöhnlichen, über die Härte des Raums und die Zähe der Zeit. Er verwischt das Selbst des Menschen, eben indem er es zu umreißen meint. Unsre Gleichung, welche die formale Verschiedenheit so stark betont – durch die Gleichsetzung zweier Ungleicher im einen, zweier Gleicher im andern Fall -, läuft diese Gefahr nicht; sie kann deshalb den inhaltlichen Parallelismus, daß in beiden Fällen Aussagen über ein Gleiches gemacht werden, wenn auch entgegengesetzte Aussagen, ruhig zur Anschauung bringen.

DAS HEROISCHE ETHOS

LINIEN DES LEBENS

Das Selbst ist also von außen gesehen nicht von der Persönlichkeit zu unterscheiden. Innerlich aber sind sie genau so verschieden, ja, wie gleich deutlich werden wird, entgegengesetzt, wie – Charakter und Individualität. Wir haben das Wesen der Individualität als einer Welterscheinung verdeutlicht an dem Kreis ihres Laufs durch die Welt. Die natürliche Geburt war auch die Geburt der Individualität; in der Begattung starb sie den Tod in die Gattung zurück. Der natürliche Tod gibt hier nichts mehr hinzu; der Kreislauf ist schon er- schöpft; daß das individuelle Leben noch über die Erzeugung des Nachkommen hinaus fortdauert, ist gerade von der Individualität aus unbegreiflich; vollends das Phänomen der Fortdauer des individuellen Lebens so- gar über die Jahre der Zeugungskraft hinaus, das Greisentum, ist für eine rein natürliche Ansicht des Lebens ganz unfaßbar. Schon von hier aus also müßten wir auf das Unzulängliche der Gedanken von Individualität und Persönlichkeit zum Begreifen des menschlichen Lebens hingeführt werden.
Hier aber leiten uns die Begriffe von Selbst und Charakter weiter. Der Charakter, und so das Selbst, das auf ihm sich gründet, ist nicht die Begabung, welche die Himmlischen „bei der Geburt schon“ dem jungen Erdenbürger als seinen Anteil am gemeinsamen Menschheitsgut in die Wiege legten. Ganz im Gegen- teil: der Tag der natürlichen Geburt, der der große Schicksalstag der Individualität ist, weil bei ihr das Schicksal des Besonderen bestimmt wird durch den Anteil am Allgemeinen, dieser Tag ist für das Selbst mit Dunkel bedeckt. Der Geburtstag des Selbst ist ein andrer als der Geburtstag der Persönlichkeit. Auch das Selbst nämlich, auch der Charakter hat seinen Geburtstag; er ist eines Tages da. Es ist unwahr, daß der Charakter „wird“, daß er „sich bildet“. Das Selbst überfällt den Menschen eines Tages wie ein gewappneter Mann und nimmt von allem Gut seines Hauses Besitz. Bis zu diesem Tag – es ist immer ein bestimmter Tag, auch wenn der Mensch ihn nicht mehr weiß – bis zu diesem Tag ist der Mensch ein Stück Welt auch vor seinem eigenen Bewußtsein; die Sachlichkeit des Kindes erreicht kein späteres Lebensalter je wieder. Der Einbruch des Selbst beraubt ihn mit einem Schlage all der Sachen und Gü- ter, die er zu besitzen sich vermaß. Er wird ganz arm, er hat nur sich, kennt nur sich, niemand kennt ihn; denn es ist niemand da außer ihm. Das Selbst ist der einsame Mensch im härtesten Sinn des Worts. Das „politische Tier“ ist die Persönlichkeit.
Das Selbst also wird an einem bestimmten Tag im Menschen geboren. Welcher Tag ist das? Der gleiche, an dem die Persönlichkeit, das Individuum, den Tod in die Gattung stirbt. Eben dieser Augenblick läßt das Selbst geboren werden. Das Selbst, der „Daimon“, nicht im Sinne von Goethes orphischer Stanze, wo das Wort grade die Persönlichkeit bezeichnet, sondern im Sinn des Heraklitworts „Sein Ethos ist dem Menschen Daimon“, dieser blinde und stumme, in sich verschlossene Daimon überfällt den Menschen das erste Mal in der Maske des Eros, von da an geleitet er ihn durchs Leben bis zu jenem Augenblick, wo er die Maske ab- legt und sich ihm enthüllt als Thanatos. Dies ist der zweite, und wenn man so will der geheimere, Geburts- tag des Selbst, wie es der zweite, und wenn man so will erst der offenkundige, Sterbetag der Individualität ist. Der natürliche Tod läßt ja auch dem blödesten Auge offenbar werden, daß die Persönlichkeit sich entpersönlichen, das Individuelle sich re-generieren lassen muß. Der Teil des Menschen, an dem die Gattung sich ihr Recht nicht schon hatte nehmen können, der fällt im Tode dem nackten, dem übergattungsmäßigen Allgemeinen, der Natur selber zur Beute. Aber während so in diesem Augenblick das Individuum den letzten Resten seiner Individualität entsagt und heimkehrt, er- wacht das Selbst zur letzten Vereinzelung und Einsamkeit. Es gibt keine größere Einsamkeit als in den Augen eines Sterbenden, und es gibt keine trotzigere, hochmütigere Vereinzelung als die, welche sich auf dem erstarrten Antlitz eines Toten malt. Zwischen diesen beiden Geburten des Daimon liegt alles, was uns vom Selbst des Menschen sichtbar wird; was vorher, was nachher? – das sichtbare Dasein dieser Gestalten ist gebunden an den Lebenskreislauf der Individualität und verliert sich ins Unsichtbare, wo es sich in diesem Kreislauf löst. Daß es nur wie an einen Stoff, an dem es sich sichtbar macht, daran gebunden ist, das lehrt schon die entgegengesetzte Richtung, die es in den entscheidenden Punkten dem Kreislauf gegenüber einhält. Das Leben des Selbst ist kein Kreislauf, sondern eine aus Unbekanntem in Unbekanntes führende Grade; das Selbst weiß nicht, woher es kommt noch wohin es geht. Aber daß die zweite Geburt des Daimon, die als Thanatos, kein bloßes Nachspiel ist wie das Sterben der Individualität, das gibt dem Leben über die Grenzen der Gattung, das im Lichte des Persönlichkeitsglaubens eitel und sinnlos ist, seinen eigenen Rang: dem Greisenalter. Der Greis hat keine Persönlichkeit mehr zu eigen; sein Anteil am Gemeinsamen der Menschheit ist zur bloßen Erinnerung verflüchtigt; aber je weniger er noch Individualität ist, um so härter wird er als Charakter, um so mehr wird er Selbst. Das ist die Wesensverwandlung, die Goethe am Faust durchführt: der alle seine reiche Individualität schon zu Beginn des zweiten Teils eingebüßt hat und eben deswegen zuletzt im Schlußakt als Charakter von vollkommenster Härte und höchstem Trotz, eben wahrhaft als Selbst erscheint, – ein treues Bild der Lebensalter.
Das Ethos ist diesem Selbst zwar Inhalt; das Selbst ist der Charakter; aber es wird von diesem seinem In- halt nicht bestimmt; es ist nicht Selbst dadurch, daß es dieser bestimmte Charakter ist. Sondern Selbst ist es schon dadurch, daß es überhaupt einen, einerlei welchen, Charakter hat. Während also die Persönlichkeit Persönlichkeit ist durch ihren festen Zusammenhang mit der bestimmten Individualität, ist das Selbst Selbst durch sein bloßes Festhalten an seinem Charakter überhaupt. Oder mit andern Worten: das Selbst „hat“ seinen Charakter. Eben die Unwesentlichkeit des bestimmten Charakters wird ja auch in der allgemeinen Gleichung B=B ausgesprochen. Dieselbe Besonderheit, die in der Gleichung B=A Individualität, Gegenstand aller Aussagen, Zielpunkt alles Interesses ist, muß sich hier begnügen, der in seiner Besonderheit allgemeine Boden zu sein, auf dem sich das stets einzelne und doch immer gleiche Gebäude des einzelnen Selbst erhebt.

 

GESETZE DER WELT

Indem aber das Selbst die Besonderheit der Individualität so zu seiner bloßen „besonderen Voraussetzung“ macht, wird nun gleichzeitig auch die ganze Welt ethischer Allgemeinheit, die an dieser ethischen Besonderheit der Individualität hängt, in diesen bloßen Hintergrund des Selbst geschoben. Mit der Individualität zusammen sinkt also auch die Gattung, sinken Gemeinschaften, Völker, Staaten, sinkt die ganze sittliche Welt zur bloßen Voraussetzung des Selbst herab. Dies alles ist dem Selbst nur etwas, was es hat; es lebt nicht darin wie die Persönlichkeit; es ist ihm nicht die Luft seines Daseins, in der es atmet; Atmosphäre des Daseins ist ihm nur – es selbst. Die ganze Welt, und insbesondere die ganze sittliche Welt, liegt in seinem Rücken; es ist „darüber hinaus“, – nicht als ob es sie nicht brauchte, aber in dem Sinn, daß es ihre Gesetze nicht als seine Gesetze anerkennt, sondern als bloße Voraussetzungen, die ihm gehören, ohne daß es hin- wiederum ihnen gehorchen müßte. Die Welt des Ethischen ist dem Selbst bloß „sein“ Ethos; weiter ist nichts von ihr geblieben. Das Selbst lebt in keiner sittlichen Welt, es hat sein Ethos. Das Selbst ist meta-ethisch.

DER ANTIKE MENSCH

Das Selbst in seiner gebirgshaft „edel-stummen“ Einsamkeit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens, seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst – woher ist es uns bekannt, wo haben wir es schon mit Augen gesehen? Die Antwort wird leicht, wenn wir uns erinnern, wo wir den metaphysischen Gott, die metalogische Welt als Gestalten des Lebens erblickt haben. Auch der metaethische Mensch ist in der Antike, und vornehmlich wieder in der wahrhaft klassischen Antike der Griechen, lebendige Gestalt gewesen. Gerade dort, wo die persönlichkeitenverzehrende Kraft der Gattung sich in der Erscheinung der Polis, uneingeschränkt durch Gegenkräfte, Gestalt gab, gerade dort nahm auch die aller Rechte der Gattung sich überhebende Gestalt des Selbst in stolzer Vereinzelung ihren Thronsitz ein, wohl auch in den Ansprüchen der sophistischen Theorien, die das Selbst zum Maß der Dinge machten, vornehmlich aber, mit der Wucht der Sichtbarkeit, in den großen Gleichzeitern jener Theorien, den Helden der attischen Tragödie.

ASIEN: DER UNTRAGISCHE MENSCH
INDIEN

Der antike tragische Held ist nichts andres als das metaethische Selbst. Deswegen ist das Tragische nur dort lebendig geworden, wo das Altertum den ganzen Weg bis zur Erstellung dieses Menschenbildes ausgeschritten ist. Indien und China, die auf dem Wege vor erreichtem Ziel Halt machten, haben das Tragische we- der im dramatischen Kunstwerk noch in der Vorform der volkstümlichen Erzählung erreicht. Indien ist nie bis zur trotzigen Gleichheit des Selbst in allen Charakteren gekommen; der indische Mensch bleibt im Charakter stecken; es gibt keine charakterstarrere Welt als die der indischen Dichtung; es gibt auch kein Menschheitsideal, das so allen Gliederungen des natürlichen Charakters eng verhaftet bleibt wie das indische; nicht den Geschlechtern etwa oder den Kasten nur gilt ein besonderes Lebensgesetz, sondern sogar den Lebensaltern; dies ist das Höchste, daß der Mensch diesem Gesetz seiner Besonderheit gehorcht; nicht jeder hat das Recht oder gar die Pflicht, etwa Heiliger zu sein; ganz im Gegenteil ist es dem Manne, der noch keine Familie gegründet hat, gradezu ver- wehrt; auch Heiligkeit ist hier eine Besonderheit unter anderen, während das Heroische das allgemeine und gleiche innere Lebensmuß eines jeden ist. Wieder greift erst die in Buddha aufgipfelnde Askese hinter diese Besonderheit des Charakters zurück. Der Voll- endete ist von allem erlöst, nur von seiner eigenen Vollendetheit nicht. Alle Bedingungen des Charakters sind fortgefallen, es gilt hier weder Alter noch Kaste noch Geschlecht; aber geblieben ist der eine unbedingte nämlich von aller Bedingung erlöste Charakter, eben der des Erlösten. Auch das ist ja noch Charakter; der Erlöste ist geschieden vom Unerlösten; aber die Scheidung ist eine ganz andre als die, welche sonst Charakter von Charakter scheidet; sie liegt hinter die- sen bedingten Scheidungen als die eine unbedingte. So ist der Erlöste der Charakter im Augenblick seines Hervorgehens aus – oder richtiger: seines Eingehens in das Nichts. Zwischen dem Erlösten und dem Nichts liegt wirklich nichts weiter mehr als der Beisatz von Individualität, mit dem der Charakter infolge der Weltteilhaftigkeit alles Lebendigen, solange es lebt, versetzt ist. Der Tod, der dies Stück Individualität in die Welt zurückfluten läßt, räumt diese letzte Scheidewand, die den Erlösten vom Nichts scheidet, weg und entkleidet ihn sogar des Charakters der Erlöstheit.

CHINA

Was Indien dem Charakter und der Besonderheit zu viel gibt, das tut China zu wenig. Während die Welt hier reich und überreich an Individualität ist, ist der Mensch, soweit er nicht als Weltteil gewissermaßen von außen gesehen wird, der innere Mensch also, gradezu charakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klassisch wieder Kongfutse verkörpert, wischt über alle mögliche Besonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charakterlose, nämlich der Durchschnittsmensch. Es mag zur Ehre des Menschengeschlechts gesagt sein, daß wohl nirgends als nur hier in China ein so langweiliger Mensch wie Kongfutse zum klassischen Musterbild des Menschlichen hat werden können. Etwas ganz andres als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefühls. Das chinesische Ge- fühl ist ohne jede Beziehung zum Charakter, gewissermaßen ohne jede Beziehung zu seinem eigenen Träger, etwas rein Gegenständliches; es ist, in dem Augenblick wo es gefühlt wird, und ist, weil es gefühlt wird. Keine Lyrik irgend eines Volks ist so reiner Spiegel der sichtbaren Welt und des unpersönlichen, aus dem Ich des Dichters entlassenen, ja gradezu aus ihm abgetropften Gefühls. Es gibt Verse des großen Litaipe, die kein Übersetzer ohne das Wort Ich wieder- zugeben wagt und die gleichwohl im Urtext, wie es die Eigenart der chinesischen Sprache erlaubt, ohne jede Andeutung irgendwelcher Personalität, gewissermaßen also rein in der Es-Form, gehalten sind. Die Reinheit des doch ganz augenblicklichen Gefühls – was ist das anders als der Wille, dem es nicht beschieden ward, sich an einem Charakter zu verkörpern, die Wallung, die nur Wallung bleibt ohne irgend ein Substrat. Hinter diese Reinheit und Unverstelltheit des Gefühls langt nun wieder der große Weise, der in China selber China überwand, Laotse. Das Gefühl, so elementar und so charakterentblößt es war, hatte noch Inhalt; so war es noch sichtbar, aussprechbar, – benennbar. Von Laotse aber heißt es: er wollte namenlos bleiben. Diese „Verborgenheit des Selbst“ ist es, die er auch seinem Vollkommenen vorschreibt: Unmerkbarkeit, Unbezeugtheit, ein Gehenlassen der Dinge; wie der Urgrund selber so muß auch der Mensch jenseits sein von Tun und Nichttun; er schaut nicht zum Fenster heraus und deshalb sieht er den Himmel; er hilft, indem er selber das Nichttun tut, allen Wesen zu ihrem Tun; seine Liebe ist namenlos und verborgen wie er selbst.

 

PRIMITIVER IDEALISMUS

Zwiefach wie die vollkommene Gottesleugnung und die vollkommene Weltverneinung ist so auch die vollkommene Selbstauflösung in Buddhas Selbstüberwindung, in Laotses Selbstverhehlung. Zwiefach müssen sie alle sein, denn die lebendigen Götter lassen sich nicht leugnen, die gestaltete Welt läßt sich nicht verneinen, das trotzige Selbst läßt sich nicht auslöschen. Nur über die bloßen Elemente, die Hälften, die noch nicht zur Einheit der Gestalt zusammengewachsen sind, haben die Mächte der Vernichtung und Entwesung Gewalt. Im Selbstüberwinden also und Selbstverhehlen geschieht allezeit die Auslöschung des Selbst, die einzige, die hart an das völlige Nichts des Selbst heranführt, ohne doch darin zu verschwinden; denn im Überwinden wie im Verhehlen ist doch immerhin noch der Mensch es, der überwindet und verhehlt. Neben die Gottesangst und den Weltwahn tritt die letzte der elementaren Mächte der Urzeit: der Menschendünkel des Magiers, der sich dem nur über das Selbst gewaltigen Schicksal durch Kraft oder List zu entziehen weiß und so sich den Trotz des Helden erspart. Wieder haben Indien wie China da für immer die beiden einzigen Wege gezeigt, auf die der Mensch allezeit vor seinem Selbst ausweichen kann, wenn er den Mut tragisch zu werden nicht aufbringt. Mag das streng erst für jene beiden letzten Steigerungen dieses urmenschlichen Dünkels, den buddhistischen Erlösten und den Vollkommenen des Laotse gelten, – geschichtlich erzeugt Indiens wie Chinas Boden überhaupt das Gewächs des Tragischen nicht. Die Bedingtheit der Charakterbesonderung dort, die Unpersönlichkeit des Gefühls hier, und die Trennung der beiden von einander – dies alles läßt das Tragische nicht aufkommen; denn das setzt zu sei- nem Aufkommen die Ineinandergewachsenheit eines Willens und Wesens zur seßhaften Einheit des Trotzes voraus. Statt zum tragischen Heros kommt es auf jenem Boden höchstens zur rührenden Situation. Im Rührenden erstickt das Selbst in seinem Unglück. Im Tragischen verliert das Unglück alle selbständige Macht und Bedeutung; es gehört zu den Elementen der Besonderheit, auf die das Selbst das Siegel seines Trotzes drückt, dies immer gleiche Siegel – si fractus illabatur orbis: Sterbe meine Seele mit den Philistern!

DER TRAGISCHE HEROS GILGAMESCH

Noch vor Simsons und Sauls tragischem Trotz hat das älteste Vorderasien in jener Gestalt, die an der Grenze des Göttlichen und Menschlichen steht, in Gilgamesch, den Urtyp des tragischen Helden aufgestellt. Gilgameschs Lebenskurve führt durch die drei festen Punkte: der Anfang ist das Erwachen des menschlichen Selbst in der Begegnung mit Eros; es folgt die gerade Linie der tatenreichen Fahrt, die jäh abbricht in dem letzten und entscheidenden Ereignis, der Begegnung mit Thanatos. Diese ist hier gewaltig vergegenständlicht, in- dem es zunächst nicht unmittelbar der eigene Tod ist, der dem Helden entgegentritt, sondern der Tod des Freundes; aber er erfährt an ihm die Furcht des Todes überhaupt. Die Zunge versagt ihm in dieser Begegnung den Dienst; er „kann nicht schreien, kann nicht schweigen“, aber er unterwirft sich auch nicht; sein ganzes Dasein wird zum Bestehen dieser einen Begegnung; sein Leben bekommt den Tod, den eigenen Tod, den er im Tode des Freunds erblickt hat, zum einzigen Inhalt. Es ist gleichgültig, daß ihn zuletzt der Tod auch noch selber holt; das Eigentliche liegt da schon hinter ihm; der Tod, der eigne Tod ist beherrschendes Ereignis sei- nes Lebens geworden; er selbst ist in die Sphäre getreten, wo die Welt mit ihrem Wechsel von Schreien und Schweigen den Menschen anfremdet, in die Sphäre der reinen erhabenen Stummheit, des Selbst.

DIE ATTISCHE TRAGÖDIE

Denn das ist das Merkzeichen des Selbst, das Siegel seiner Größe wie auch das Mal seiner Schwäche: es schweigt. Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an. Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können. In der erzählenden Dichtung ist das Schweigen die Regel, die dramatische kennt im Gegenteil nur das Reden, und dadurch erst wird das Schweigen hier beredt. Indem der Held schweigt, bricht er die Brücken, die ihn mit Gott und Welt verbinden, ab und erhebt sich aus den Gefilden der Persönlichkeit, die sich redend gegen andre abgrenzt und individualisiert, in die eisige Einsamkeit des Selbst. Das Selbst weiß ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst, anders betätigen als eben indem es schweigt? Und so tut es in der äschyleischen Tragödie, wie schon den Zeitgenossen auffiel. Das Heroische ist stumm. Wenn die großen aktlangen Schweigen der äschyleischen Personen bei den Späteren sich nicht finden, so wird dieser Gewinn an „Natürlichkeit“ durch einen größeren Verlust an tragischer Kraft erkauft. Denn es ist mitnichten etwa so, daß die stummen Helden des Äschylos bei Sophokles und Euripides Sprache, die Sprache ihres tragischen Selbst, gewönnen. Sie lernen nicht sprechen, sie lernen bloß debattieren. Hier überwuchert jene uns heute verzweifelt frostig anhauchende Disputierkunst des dramatischen Zwiegesprächs, das in endlosen Hin- und Herwendungen den Inhalt der tragischen Situation verstandesmäßig auseinanderlegt und dadurch das eigentlich Tragische, das jenseits aller Situationen trotzende Selbst, dem Blick solange entzieht, bis einer je- ner lyrischen Monologe, zu denen das Dasein des Chors immer wieder den Anlaß gibt, dann doch wieder das Tragische in die Mitte rückt. Die ungeheure Wichtigkeit dieser lyrisch-musikalischen Partien in der Ökonomie des dramatischen Ganzen beruht eben darauf, daß die Attiker im eigentlich Dramatischen, im Dialog, nicht die Form fanden, das Heroisch-Tragische zum Ausdruck zu bringen. Denn das Heroische ist Wille, und der attische Dialog ist, um den Ausdruck des ältesten Theoretikers, des Aristoteles selber, zu gebrauchen, „dianoetisch“, – verstandesmäßige Auseinandersetzung.
Diese Grenze des attischen Dramas ist nun freilich keine bloß technische. Das Selbst kann eben nur schweigen. Allenfalls kann es noch sich lyrisch-monologisch zu äußern suchen, obwohl ihm schon diese Äußerung, eben als Äußerung, nicht mehr ganz angemessen ist; das Selbst äußert sich nicht, es ist vergraben in sich. Aber sowie es ins Gespräch tritt, hört es auf, Selbst zu sein; Selbst ist es nur, solang es allein ist. So büßt es im Dialog selbst den Anlauf zu einer Sprache ein, den es im Monolog schon genommen hatte. Der Dialog bringt keine Beziehung zwischen zwei Willen zustande, weil jeder dieser Willen nur sei- ne Vereinzelung wollen kann. So kommt es, daß das attische Drama das technische Glanzstück des modernen, die Überredungsszene, wo ein Wille einen andern Willen bricht und lenkt, die Szene etwa, wo „in solcher Laun’ ein Weib gefreit” wird, nicht kennt. Auch die vielbemerkte Tatsache, daß der antiken Dramatik die Liebesszene fremd ist, findet hier ihre letzte, zugleich technische und geistige Erklärung; die Liebe kann höchstens monologisch als unerfülltes Verlangen er- scheinen; Phädras Unglück des erwiderungslosen Gefühls ist antik bühnenmöglich, Julias Glück des wechselweis gesteigerten Gebens und Habens nicht. Vom Willen des tragischen Selbst führt keine Brücke nach irgend einem Außen, und sei dies Außen auch ein andrer Wille. Sein Wille sammelt als auf den eigenen Charakter gerichteter Trotz alle Wucht nach innen.
Dies Fehlen aller Brücken und Verbindungen, dies nur nach innen Gekehrtsein des Selbst ist es auch, was jene eigentümliche Dunkelheit über Göttliches und Weltliches ausgießt, in der sich der tragische Held bewegt. Er versteht nicht, was ihm widerfährt, und er ist sich bewußt, es nicht verstehen zu können; er versucht gar nicht, in das rätselhafte Walten der Götter einzudringen. Die Hiobsfragen nach Schuld und Schicksal mögen von den Dichtern gestellt werden; die Helden selber, anders als Hiob, kommen gar nicht auf den Ge- danken, sie zu stellen. Täten sie es, so müßten sie ihr Schweigen brechen. Das bedeutete aber ein Heraustreten aus den Mauern ihres Selbst, und ehe sie das tun, dulden sie lieber stumm und steigen die Stufen der in- neren Erhöhung des Selbst hinan wie Ödipus, dessen Tod das Rätsel seines Lebens ganz ungelöst läßt und dennoch, gerade weil er es gar nicht berührt, den Hel- den in seinem Selbst ganz einschließt und befestigt.
Überhaupt ist dies der Sinn des Untergangs des Hel- den. In der Tragödie wird leicht der Anschein erweckt, als müßte der Untergang des Einzelnen irgend ein gestörtes Gleichgewicht der Dinge wiederherstellen. Aber dieser Anschein beruht nur auf dem Widerspruch zwischen dem tragischen Charakter und der dramatischen Fabel; das Drama als Kunstwerk braucht beide Hälften dieses Widerspruchs, um zu bestehen; aber das eigentlich Tragische wird dadurch verwischt. Der Held als solcher muß nur untergehen, weil der Untergang ihm die höchste Verheldung, nämlich die geschlossenste Verselbstung seines Selbst ermöglicht. Er verlangt nach der Einsamkeit des Untergangs, weil es keine größere Einsamkeit gibt als diese. Deshalb stirbt der Held eigentlich auch nicht. Der Tod sperrt ihm gewissermaßen nur die Temporalien der Individualität. Der zum heldischen Selbst geronnene Charakter ist unsterblich. Die Ewigkeit ist ihm gerade gut genug, sein Schweigen wiederzutönen.



PSYCHE

Unsterblichkeit – damit haben wir ein letztes Ver- langen des Selbst berührt. Nicht die Persönlichkeit, aber das Selbst fordert für sich Ewigkeit. Die Persönlichkeit begnügt sich an der Ewigkeit der Beziehungen, in die sie ein- und aufgeht; das Selbst hat keine Beziehungen, es kann keine eingehen, es bleibt immer es selbst. So ist es sich bewußt, ewig zu sein; seine Unsterblichkeit ist Nichtsterbenkönnen. Alle antike Unsterblichkeitslehre kommt auf dies Nichtsterbenkönnen des losgelösten Selbst hinaus; die Schwierigkeit besteht theoretisch nur darin, diesem Nichtsterbenkönnen einen natürlichen Träger, ein „etwas“, das nicht sterben kann, ausfindig zu machen. So kommt die antike Psychologie zustande. Die Psyche soll das natürliche Etwas sein, das schon von Natur wegen todesunfähig ist. So wird sie vom Leib theoretisch getrennt und Träger des Selbst. Aber diese Verkettung des Selbst mit einem letzthin eben doch nur natürlichen Träger, eben der „Seele“, macht die Unsterblichkeit zu einem höchst prekären Besitz. Die Seele, wird behauptet, kann nicht sterben; aber da sie in die Natur verflochten ist, so wird das Nichtsterbenkönnen zur unermüdlichen Verwandlungsfähigkeit; die Seele stirbt nicht, aber sie wandert durch die Leiber. So wird dem Selbst in der Unsterblichkeit das Danaergeschenk der Seelenwanderung mitgegeben und damit die Unsterblichkeit gerade für das Selbst entwertet. Denn das Selbst, wenn es denn im Trotz auf die Unbeschränktheit seines vergänglichen Wesens Unsterblichkeit verlangt, verlangt eine Unsterblichkeit ohne Wandel und Wanderung; es verlangt Selbst-Erhaltung. Indem es aber mit der „Seele“ ver- kettet wird, der „Seele“ nach dem antiken Sinn des Worts, der ausdrücklich nicht das Ganze des Men- schen, sondern nur einen „Teil“, den nichtsterbenkönnenden, bezeichnet, wird dem Selbst sein Verlangen nur wie zum Hohne erfüllt. Das Selbst bleibt es selbst, aber es geht durch die unkenntlichsten Gestalten, denn keine jener Gestalten wird sein Besitz; aber es behält auch sein Eigenes, den Charakter, die Eigenart, nur dem Namen nach; in Wahrheit bleibt ihm bei seinem Gang durch die Gestalten nichts Erkennbares davon übrig. Es bleibt Selbst nur in seiner vollkommenen Stummheit und Beziehungslosigkeit; die behält es auch bei seiner Verwandlung; es bleibt immer das einzelne, einsame, sprachlose Selbst. Eben auf die- se Sprachlosigkeit müßte es Verzicht tun, es müßte aus dem einsamen Selbst zur sprechenden Seele werden, – Seele aber hier in einem andern Sinn, wo das Wort ein Ganzes des Menschen jenseits des Gegensatzes von „Leib und Seele“ meint. Würde das Selbst zur Seele in diesem Sinn, dann wäre ihm auch Unsterblichkeit in einem neuen Sinn gewiß, und der gespenstische Ge- danke der Seelenwanderung verlöre seine Kraft. Aber wie das geschehen sollte, wie dem Selbst die Zunge gelöst, das Ohr erschlossen werden sollte, das ist vom Selbst aus, wie wir es bis jetzt kennen, gar nicht vorzustellen. Vom in sich versenkten „B=B“ führt kein Weg hinaus ins tönende Freie, alle Wege nur tiefer ins Schweigen des Innern hinein.

ÄSTHETISCHE GRUNDBEGRIFFE: GEHALT

Und dennoch, eine Welt gibt es, wo dies Schweigen selber schon Sprache ist, nicht freilich Sprache der Seele, aber dennoch Sprache, eine Sprache vor der Sprache, Sprache des Unausgesprochenen, Unaussprechlichen. Wie das Mythische der metaphysischen Theologie in der ausschließenden Abgeschlossenheit der äußeren Form das Reich des Schönen, wie das Plastische der metalogischen Kosmologie in der Insichgeschlossenheit der inneren Form das Kunstwerk, das schöne Ding, gründete, so legt das Tragische der metaethischen Psychologie in dem beredten Schweigen des Selbst den Grund des wortlosen Verstehens, auf dem die Kunst erst eine Wirklichkeit werden kann. Der Gehalt ist es, der hier entsteht. Der Gehalt ist das, was zwischen dem Künstler und dem Betrachter, ja zwischen dem Künstler als lebendigen Menschen und dem Künstler, der über seine Lebendigkeit hinaus das Werk in die Welt setzt, die Brücke schlägt. Und dieser Gehalt ist nicht die Welt, denn die ist zwar allen gemeinsam, aber so, daß jeder seinen individuellen Anteil, seinen besonderen Standpunkt in ihr hat.
Der Gehalt muß etwas unmittelbar Gleiches sein, et- was, was die Menschen nicht untereinander teilen wie die gemeinsame Welt, sondern etwas, was in allen gleich ist. Und das ist nur das Menschliche schlechthin, das Selbst. Das Selbst ist das, was im Menschen zum Schweigen verurteilt ist und dennoch überall sofort verstanden wird. Es braucht bloß sichtbar gemacht, bloß „dargestellt“ zu werden, um in jedem andern gleichfalls das Selbst zu erwecken. Es selber verspürt dabei nichts, es bleibt gebannt in die tragische Lautlosigkeit, es starrt unverwandt in sein Inneres; wer es aber sieht, in dem erwachen, wie es wiederum schon Aristoteles voll ahnenden Tiefsinns formulierte, „Furcht und Mitleid“. Im Beschauer werden sie wach und richten sich sofort in sein eigenes Inneres, machen ihn zum Selbst. Würden sie im Helden selber wach, so hörte er auf, stummes Selbst zu sein; „Phobos“ und „Eleos“ würden sich als „Ehrfurcht und Liebe“ enthüllen, die Seele Sprache gewinnen und das neugeschenkte Wort von Seele zu Seele ziehen. Nichts von solchem Zueinanderkommen hier. Alles bleibt stumm. Der Held, der Furcht und Mitleid in andern erweckt, bleibt selber unbewegtes starres Selbst. Im Beschauer wiederum schlagen sie sofort nach innen, machen auch ihn zum in sich selber eingeschlossenen Selbst. Jeder bleibt für sich, jeder bleibt Selbst. Es entsteht keine Gemeinschaft. Und dennoch entsteht ein gemeinsamer Gehalt. Die Selbste kommen nicht zueinander, und dennoch klingt in allen der gleiche Ton, das Gefühl des eigenen Selbst. Diese wortlose Übertragung des Gleichen geschieht, obwohl noch keine Brücke führt von Mensch zu Mensch. Sie geschieht nicht von Seele zu Seele – es gibt noch kein Reich der Seelen; sie geschieht von Selbst zu Selbst, von einem Schweigen zum andern Schweigen.
Das ist die Welt der Kunst. Eine Welt stummen Einverständnisses, die keine Welt ist, kein wirklicher, hin und her lebendiger Zusammenhang der hin und wider ziehenden Rede, und dennoch an jedem Punkt fähig, auf Augenblicke belebt zu werden. Kein Laut durch- bricht dies Schweigen, und dennoch kann in jedem Augenblick ein jeder das Innerste des andern in sich selber spüren. Es ist die Gleichheit des Menschlichen, die hier als Gehalt des Kunstwerks wirksam wird, vor aller wirklichen Einheit des Menschlichen. Noch vor aller wirklichen Menschensprache schafft die Kunst als Sprache des Unaussprechlichen die erste und für alle Zeit unter und neben der eigentlichen Sprache unentbehrliche stumme Verständigung. Das Schweigen des tragischen Helden schweigt in aller Kunst und wird in aller Kunst verstanden ohne alle Worte. Das Selbst spricht nicht und wird doch vernommen. Das Selbst wird gesehen. Das reine stumme Schauen vollzieht in jedem Beschauer die Wendung hinein ins eigene Innere. Die Kunst ist keine wirkliche Welt; denn die Fäden, die in ihr von Mensch zu Mensch gezogen werden, laufen nur für Augenblicke, nur für die kurzen Augenblicke des unmittelbaren Schauens und nur am Ort des Schauens. Das Selbst wird nicht lebendig, indem es vernommen wird. Das Leben, das im Betrachter erweckt wird, erweckt nicht das Betrachtete zum Leben; es wendet sich im Betrachter selber sogleich nach innen. Das Reich der Kunst gibt den Boden, wo überall das Selbst erwachsen kann; aber jedes Selbst ist wieder ein ganz einsames, einzelnes Selbst; die Kunst schafft nirgends eine wirkliche Mehrheit von Selbsten, obwohl sie überall die Möglichkeit zum Erwachen von Selbsten herstellt: das Selbst, das erwacht, weiß dennoch nur von sich selbst. Mit andern Worten: das Selbst bleibt in der Scheinwelt der Kunst stets Selbst, wird nicht – Seele.

DER EINSAME MENSCH

Und wie sollte es Seele werden? Seele, das hieße her- austreten aus der in sich gekehrten Verschlossenheit; aber wie sollte das Selbst heraustreten? wer sollte es rufen – es ist taub; was sollte es hinauslocken – es ist blind; was sollte es draußen anfangen – es ist stumm. Es lebt ganz nach innen. Die Zauberflöte der Kunst allein konnte das Wunder vollbringen, den Gleichklang des menschlichen Gehalts in den Getrennten erklingen zu lassen. Und wie begrenzt war noch diese Magie! Wie blieb es eine Scheinwelt, eine Welt der bloßen Möglichkeiten, die hier entstand. Der gleiche Klang ertönte und wurde doch überall nur im eigenen Innern vernommen; keiner spürte das Menschliche als das Menschliche in andern, jeder nur unmittelbar im eigenen Selbst. Das Selbst blieb ohne Blick über seine Mauern, alle Welt blieb draußen. Hatte es sie in sich, so nicht als Welt, sondern nur als seinen eigenen Be- sitz. Die Menschheit, von der es wußte, war allein die in seinen eigenen vier Wänden. Es selbst blieb sich der einzige andre, den es sah, und jeder andre, der von ihm gesehen werden wollte, mußte in diesen seinen Sehraum hineingehn und darauf verzichten, als andrer gesehen zu werden. Die ethischen Ordnungen der Welt verloren so in diesem Sehraum des eigensinnigen Selbst allen eigenen Sinn; sie wurden zum bloßen Inhalt seiner Selbstschau. So mußte es wohl bleiben, was es war, das über alle Welt weggehobene, mit starrem Trotz ins eigene Innere star- rende und alles Fremde allein dort im Eignen und also nur als Eignes zu erblicken fähige, – alle ethische Ordnung eingeheimst zum eignen Ethos: so war und blieb das Selbst der Freiherr seines Ethos – das Metaethische.

 

 

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