
De Franse filosoof Paul Ricoeur heeft een aantal teksten nagelaten die na zijn dood zijn vertaald en gepubliceerd. Teksten die o.a. handelen over afscheid van het leven, de dood en het verdriet na de dood van een dierbare. In een van deze teksten “Tot aan de dood – over verdriet en vrolijkheid” staat hij stil bij de vraag wat het betekent om te moeten sterven en wat degene die aan het sterven is doormaakt. Sterft deze persoon alleen of bestaat er een mogelijkheid om hem tot in het laatste levensmoment bij te staan? Ricoeur argumenteert in deze teksten met de denkbeeldige lezer waarvoor hij deze tekst wil uitwerken. Getuige zijn van de doodsstrijd van een ander, jezelf proberen voor te stellen wat het zeggen wil dat de dood eraan zit te komen, je manifesteren met alles wat in je zit tot aan de grens van de dood als levende, dat zijn de thema’s die aan de orde komen in deze aantekeningen. Ricoeur noemt de ervaringen in de doodsstrijd van de persoon die zich manifesteert als levende (en niet als bijna dode) het wezenlijke, waarin religieuze en culturele verschillen worden opgeheven omdat dit wezenlijke in zijn woorden transcultureel, de confessie overstijgend en daarom algemeen religieus is. Getuige zijn van deze doodstrijd is een hele opgave en Ricoeur beschrijft deze houding als een vorm van mede-strijden. Hij verwijst naar de schrijver Jorge Semprun die uit eigen ervaring een dergelijke strijd beschrijft in een van zijn boeken waarin hij de stervende bijstaat in zijn doodstrijd. Ik citeer de hele tekst omdat zo helder wordt hoe Ricoeur dit proces beschrijft en waarin de kern van zijn betoog schuilt: een mens hoeft niet eenzaam te sterven. Nodig is een medestrijder die tot aan het einde erbij blijft. Hoe moeilijk en zwaar dat ook kan zijn.
Lebendig bis in den Tod:
Ricoeur, Paul, Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass. Vivant jusqu’à la mort, Französisch-Deutsch, Hamburg 2011, (Felix Meiner Verlag), pag. 15-25
Das Sterben als Ereignis: hinübergehen, enden, abschliessen. Einerseits ist mein Sterben von morgen auf derselben Seite wie mein bereits-tot-sein von morgen. Auf Seiten der vollendeten Zukunft. Der Todgeweihte ist ein solcher nur für denjenigen, der seinem Ringen mit dem Tod, seiner Agonie beiwohnt, ihm in seinem Ringen beisteht -ich werde an späterer Stelle darauf zurückkommen. Wenn ich mich selbst als einen dieser Todgeweihten denke, so stelle ich mich als den Todgeweihten vor, der ich für diejenigen sein werde, die meinem Sterben beiwohnen werden. In jedem Falle ist der Unterschied zwischen diesen beiden imaginären Situationen enorm. Dem Tod beiwohnen ist präziser, treffender als nur zu überleben. Das Beiwohnen ist eine punktuelle, ereignishafte Prüfung. Überleben dagegen ist ein langer Weg, im besten Falle derjenige der Trauer, d. h. man akzeptiert die Trennung vom Verstorbenen, der sich entfernt, sich vom Lebenden löst, damit dieser überlebt. Aber letztendlich liegt auch darin noch für mich eine verinnerlichte Antizipation, die erschreckendste, nämlich die des Todgeweihten, der ich für diejenigen sein werde, die meinem Tod beiwohnen werden, die ihm beistehen. Also gut! ich behaupte, es ist diese Antizipation der Agonie, die den konkreten Kern der »Angst vor dem Tod« bildet, in der ganzen Verwirrung ihrer Bedeutungen, die ineinander übergehen.
Aus diesem Grunde möchte ich mich zunächst jener Vorstellung des Todes als antizipierter Agonie stellen. Dazu werde ich mich bemühen, die unausweichliche Antizipation des Sterbens und der Agonie selbst von dem Bild des Todgeweihten im Blick des anderen zu befreien. Dabei wird mich zunächst das Zeugnis der Mediziner unterstützen, die auf palliative Pflege von Aids-Kranken, unheilbar Krebskranken, kurzum Kranken, die sich in der Endphase befinden, »spezialisiert« sind. Sie behaupten nicht es sei einfach zu sterben. Sie sagen zwei, drei Dinge, die mir sehr wertvoll erscheinen. Zunächst dies: solange die Kranken, die im Sterben liegen, klar sind, betrachten sie sich nicht als Todgeweihte, als bald Tote, sondern als noch Lebende und dies sogar noch eine halbe Stunde vor ihrem Verscheiden, wie ich von Frau Hacpille erfahren habe. Noch lebend, das ist das entscheidende Wort. Dann noch dies: was die noch verbliebene Fähigkeit zu denken beschäftigt, ist nicht die Sorge darum, was nach dem Tod ist, sondern die tiefsten Lebensquellen dazu zu mobilisieren, sich noch zu behaupten. Die tiefsten Lebensquellen: was gilt es darunter zu verstehen? Hier werde ich etwas vorweg nehmen, ich kann gar nicht anders als dies vorweg zu nehmen, denn genau diese Erfahrung wird mir helfen, zwischen der Antizipation der Agonie und der Antizipation des Blickes eines aussenstehenden Betrachters auf den Todgeweihten zu unterscheiden. Der mit dem Tode ringende im Unterschied zum Todgeweihten. Das wirklich Bedeutsame in der Aussage des Mediziners der Abteilung für Palliative Pflege ist, dass die innere Gnade, die den mit dem Tode ringenden von dem Todgeweihten unterscheidet, darin besteht, dass im Laufe dieses Ringens selbst das Wesentliche auftaucht. Dieses Vokabular des Wesentlichen wird mich durch meine ganze Meditation begleiten. Ich nehme vorweg und nehme noch mehr vorweg: das Wesentliche, das ist in einem gewissen Sinne (den ich an späterer Stelle versuche genauer zu umreissen) das Religiöse; es ist, wenn ich so sagen darf, das Allgemeinreligiöse, das auf der Schwelle des Todes die Begrenzungen überschreitet, die unlösbar zum Wesen des bekennenden und bekannten Religiösen gehören. Dabei möchte ich erneut betonen, dass ich das, was ich aus Zeitgründen die “Codes” nenne (ich denke dabei an den Great Code von Blake, den Northrop Frye erneut aufgenommen hat) nicht verachte; nein, aber das Religiöse ist wie eine fundamentale Sprache, die nur in den natürlichen, historisch begrenzten Sprachen existiert. Ebenso wie jeder in eine Sprache hineingeboren wird und zu den anderen Sprachen nur durch späteres Lernen oder wie meistens nur durch die Übersetzung Zugang erhält, so existiert das Religiöse nur kulturell vermittelt in der Sprache und in dem Code einer historischen Religion; Sprache und Code, die nur durch ein Filtern vermitteln können und das bedeutet eben durch die Beschränkung jenes Ausmasses, jener Tiefe und jener Dichte des Religiösen, die ich hier das Wesentliche nenne. Um aber auf die Aussage des Palliativmediziners zurückzukommen, so zeugt sie von einer Gnade, die nur einigen mit dem Tode ringenden zuteil wird, nämlich die Gnade, dasjenige, was ich die Mobilisierung der tiefsten Lebensquellen im Aufscheinen des Wesentlichen nenne, das die Beschränkungen des konfessionell gebundenen Religiösen aufbricht, zu gewährleisten. Aus diesem Grunde, so der Mediziner, spiele es für die Qualität dieses Augenblicks der Gnade keine Rolle, dass sich der mit dem Tode ringende —so vage es der Zustand seines abnehmenden Bewusstseins auch erlaube — zu dieser oder jener Konfession oder Religion bekenne. Vielleicht erhebt sich das Religiöse nur angesichts des Todes bis zum Wesentlichen und wird nur hier die Schranke zwischen den Religionen, die Nicht-Religionen inbegriffen (ich denke hier natürlich an den Buddhismus), überwunden. Eben weil das Sterben transkulturell ist, ist es überkonfessionell, in diesem Sinne überreligiös: und zwar in dem Masse, in dem das Wesentliche die Lesart der »Sprachen« des Lesens durchbricht. Es handelt sich vermutlich dabei um die einzige Situation, in der man von einer religiösen Erfahrung sprechen kann. Ansonsten misstraue ich dem Unmittelbaren, dem Fusionellen, dem Intuitiven, dem Mystischen, mit einer Ausnahme, der Gnade eines bestimmten Sterbens.
Ein Einwand. Ich kämpfe gegen das Imaginäre des Sterbens, das an den Blick des Betrachters gebunden ist, für den der mit dem Tode ringende bereits ein Todgeweihter ist, von dem man voraussehen kann, von dem man mit einer relativen Genauigkeit weiss, dass er bald tot sein wird. Gerade von diesem Blick von aussen auf den Todgeweihten und der verinnerlichten Antizipation dieses Blicks von aussen auf mich als Todgeweihten will ich mich frei machen. Sei es. Aber, so wird man entgegnen, Sie haben sich auf eine Aussage berufen, auf die eines Mediziners der Palliativabteilung. Also berufen sie sich in ihrem Bemühen, den mit dem Tode ringenden vom Todgeweihten zu trennen ebenfalls auf einen Blick von aussen. Sie haben keinen anderen Zugang zum Erleben des mit dem Tode ringenden an und für sich, wenn ich so sagen darf, als durch eine Interpretation der van dem Zeugen, den Sie in den Zeugenstand Ihres Argumentes rufen, gesammelten Anzeichen. Ein trefflicher Einwand und eine gute Frage gegen Ende des Einwands. Zugegeben, auch ich berufe mich auf einen Blick, aber er unterscheidet sich van demjenigen, der den mit dem [Tode ringenden] als Todgeweihten sieht, der bald aufgehört haben wird zu leben. Der Blick, der den mit dem Tode ringenden noch als lebend betrachtet, der die tiefsten Lebensquellen zur Hilfe ruft, der sozusagen van dem Aufscheinen des Wesentlichen in seinem Erleben als noch lebender getragen wird, ist ein anderer Blick. Es handelt sich um den Blick des Mitgefühls und nicht des Betrachters, der dem bereits Toten voraus ist.
Mitgefühl haben Sie gesagt? Ja, aber dabei gilt es, das mitfühlen, das das Wort bedeutet, herauszuhören. Es ist kein mit-seufzen, wie das Mitleid oder Erbarmen, Gestalten des Bedauerns, es sein könnten; es ist ein mit-streiten, ein Begleiten -mangels einer identifikatorischen Anteilnahme, die weder möglich, noch wünschenswert ist; die rechte Distanz zu wahren ist eine Regel der Freundschaft sowohl als der Gerechtigkeit. Begleiten ist vielleicht der treffendste Ausdruck um die Haltung zu bezeichnen, dank der sich der Blick auf den Sterbenden einem mit dem Tode ringenden zuwendet, der bis zum Tode um sein Leben ringt [Bemerkung am Rand: Verständnis + Freundschaft], und nicht einem Todgeweihten, der bald ein Toter sein wird. Man kann trotz des Vorbehalts bezüglich des fusionellen Hangs einer identifikatorischen Anteilnahme von Anteilnahme sprechen. Aber Anteilnahme woran? an der transzendenten Bewegung -immanente Transzendenz, oh, welches Paradox -, der innerlichen Transzendenz des Wesentlichen, das die Schleier der Codes des konfessionell gebunden Religiösen zerreisst.
Bestimmt hat diese Kultur des mitfühlenden, begleitenden Blicks auch einen professionellen Aspekt: eine Übung darin, seine Emotionen zu beherrschen, die zum Fusionellen neigen; wie auch einen deontologischen Aspekt im Hinblick darauf, wie man sich zu verhalten hat (unter anderem hinsichtlich jener beiden Extreme, die sich einander so schnell annähern, nämlich des therapeutischen Übereifers einerseits und der passiven, besonders aktiven Euthanasie andererseits); aber es liegt auch eine rein ethische Dimension in der Fähigkeit, den Kampf des mit dem Tode ringenden, noch lebenden, bis zum Tode lebenden in seiner Vorstellung und mit Sympathie zu begleiten.
Sollten wir diesen anderen Blick tatsächlich nur bei jenem Mediziner finden, der darin »geschult« ist, die Kranken gegen Ende ihres Lebens zu begleiten? Dabei fällt mir ein anderes Zeugnis ein, dasjenige Jorge Sempruns in Schreiben oder Leben (1994). Es handelt sich um das Zeugnis eines Überlebenden der Deportationslager (ich werde an späterer Stelle über jene andere Bedeutung der Begriffe Überleben, Überlebender sprechen, die an eine andere Bedeutung des Todes gebunden ist als diejenigen, die wir hier bislang betrachtet haben), darin der Tod von Maurice Halbwachs im Block der Sterbenden von Buchenwald im Jahre 1944 geschildert wird zum Preis einer langen Agonie als schreibend erzählender. Der völlig erschöpfte Maurice Halbwachs wird von Jorge Semprun begleitet. Zunächst findet man in der Erzählung die unscheinbarsten, aber unauslöschlichen Zeichen des Geben-Nehmen, das laut Peter Kemp in seinem Buch Ethique et Médicine das unhintergehbare Band der Menschlichkeit -ich wollte vorwegnehmend sagen, der Freundschaft im begleiteten Sterben -bildet: »Er lächelte, sterbend, sein Blick ruhte auf mir, brüderlich. [ … ] Ich hatte die Hand von Halbwachs genommen, der nicht die Kraft gehabt hatte, die Augen zu öffnen. Ich hatte lediglich eine Antwort in seinen Fingern gespürt, einen leichten Druck: eine kaum wahrnehmbare Botschaft [ das noch vorhandene Bis zum Tod geben-nehmen]« Und hier das Zeugnis über das Aufblühen des Wesentlichen: in den Augen, »eine Flamme der Würde, besiegter, doch unversehrter Menschlichkeit. Das unsterbliche Leuchten eines Blicks, der das Nahen des Todes feststellt, der weiss, woran er ist, der ihn genau kennt, Auge in Auge alle Risiken und Einsätze abwägt, frei und souverän«. Doch eine nichtmedizinische, unkonfessionelle, poetische Sprache und insofern nahe dem Wesentlichen, musste dem mit dem Tode ringenden, noch nicht Todgeweihten helfen: »Und in jäher Panik, da ich nicht weiss, welchen Gott ich anrufen könnte, damit er Maurice Halbwachs begleite, doch im Bewusstsein, dass ein Gebet notwendig ist, spreche ich mit zugeschnürter Kehle und lauter Stimme, wobei ich versuche, sie zu beherrschen, ihr die nötige Klangfarbe zu geben, einige Verse von Baudelaire. Das ist das einzige, was mir einfällt.
O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit! lafs uns die Anker lichten …
Der Blick von Halbwachs wird weniger verschwommen, scheint sich zu wundern. Ich deklamiere weiter. Und bei den Worten .
.. unsere Herzen, die du kennst, sind voller Strahlen,
huscht ein leichtes Beben über die Lippen von Maurice Halbwachs. Er lächelt, sterbend, sein Blick ruht auf mir, brüderlich.«
Dieser letzte Satz sagt alles. M.H. allein muss in diesem Augenblick sterben, aber er stirbt nicht allein.
Ricoeur, Paul, Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass. Vivant jusqu’à la mort, Französisch-Deutsch, Hamburg 2011, (Felix Meiner Verlag), pag. 15-25
