Paul Valéry: Windstriche (1)

Paul Valéry, Windstriche

Die Vorstellungskraft des Wunsches erfasst immer nur einen Ausschnitt, ein vorteilhaftes Bruchstück der Wirklichkeit. 

Pag. 10

MORALIA

Selbstmorde.

Selbstmörder tun sich entweder Gewalt an, oder sie geben sich selber nach und scheinen einer verhängnisvollen Kehre ihres Schicksals zu folgen. Die einen stehen unter dem Zwang der Begebenheiten; die andern bezwingt ihre eigene Natur; und alle äußere Gunst, die ihnen das Schicksal erweist, wird sie nicht davor zurückhalten, den kürzesten Weg zu wählen. 

Noch eine dritte Art des Selbstmordes lasst sich aber denken. Es gibt Menschen, die ihr Leben so kühl betrachten und von ihrer Freiheit eine so unbedingte, so eifersüchtig gehütete Vorstellung haben, dass sie nicht gewillt sind, die Umstände ihres Todes dem Zufall der Geschehnisse oder der Wechselgeschicke ihres Organismus zu überlassen. Alter, Verfall, Überraschung widern sie an. In der Antike findet man einige Beispiele und das Lob solch unmenschlicher Standhaftigkeit.

Wogegen der von den Umstanden erzwungene Selbstmord, den ich zuerst erwähnt habe, von seinem Urheber zu einem bestimmten Zweck erdacht wird. Er erklärt sich aus der Unmöglichkeit, ein bestimmtes Übel genau auszumerzen. Der Teil kann nur über die Vernichtung des Ganzen getroffen werden. Man hebt das Ganze und die Zukunft auf, um das Einzelne und die Gegenwart zu zerstören. Man löscht das Bewusstsein überhaupt aus, weil man es nicht versteht, nur den einen Gedanken auszulöschen; das ganze Empfindungsvermögen, weil man mit einem bestimmten, unbesiegbar anhaltenden Schmerz nicht fertig wird.

Herodes lässt alle Neugeborenen erwürgen, weil er den einzigen nicht zu erkennen vermag, auf dessen Tod es ihm ankommt. Ein Mensch, verärgert durch eine Ratte, die sein Haus unsicher macht und sich nicht fangen lasst, brennt das ganze Gebäude nieder, weil er es nicht von diesem einen Tier zu reinigen weiß. Die Erbitterung über eine unerreichbare Stelle unseres Wesens reißt so das Ganze zur Selbstvernichtung hin. Der Verzweifelte wird dazu geführt oder gezwungen, ohne Unterscheidung zu handeln

Diese Art des Selbstmords ist eine grobe Lösung. Es ist nicht die einzige. Die Geschichte der Menschheit ist voll grober Losungen. Alle unsere Ansichten, die Mehrzahl unserer Urteile, die meisten unserer Handlungen sind bloßer Notbehelf.

Zur zweiten Art von Selbstmord werden Menschen getrieben, die der dusteren und grenzenlosen Trauer, der Besessenheit, dem Taumel der Nachahmung, der Benommenheit von einem unheilvollen und seltsam gehätschelten Bild widerstandslos verfallen. 

Die so Gearteten sind gleichsam empfänglich geworden für die Vorstellung oder den Begriff der Selbstzerstörung. Sie gleichen Rauschgift betäubten, denn in ihrer Verfolgung des Todes stellt man dieselbe Hartnäckigkeit fest, dieselbe Beklommenheit, List und Verstellung, wie bei Rauschgiftsüchtigen, die sich ihre Droge verschaffen wollen. Einige suchen nicht wirklich den Tod, sie wollen eine Art von Trieb befriedigen. Manchmal ist es die Todesart selbst, die sie fasziniert. Wer sich am Galgen sieht, der wird sich nie in den Fluss werfen. Der Tod durch Ertrinken inspiriert ihn nicht. Ein Schreiner verfertigte einmal eine sehr klug entworfene Guillotine um der Wollust willen, welche die reinliche Trennung des Kopfes vom Körper gibt. Dieser Selbstmord hat etwas Ästhetisches an sich und die Sorge um die gewissenhafte Ausführung der letzten Handlung. 

All diese zweimal Sterblichen scheinen im Schatten ihrer Seele einen nachtwandlerischen Mörder, einen unversöhnlichen Träumer, einen Doppelgänger zu bergen – Vollstrecker einer unbeugsamen Weisung. Sie haben oft ein leeres, geheimnisvolles Lächeln: das Zeichen ihres immer gleichen Geheimnisses. Es bezeugt (wenn man dies überhaupt schreiben kann) die Anwesenheit ihrer Abwesenheit. Vielleicht gilt ihnen ihr Leben als vergeblicher oder mühseliger Traum, der ihnen immer mehr zur Last wird und aus dem sie immer lieber erwachen mochten. Alles scheint ihnen trauriger und nichtiger als das Nichtsein.

Ich will diese Betrachtungen mit der Untersuchung eines nur erdachten Falles beschließen. Man könnte sich einen Selbstmord aus Zerstreutheit vorstellen, der kaum von einem Unfall zu unterscheiden wäre. 

Ein Mann handhabt eine Pistole und weiß, dass sie geladen ist. Er hat weder Lust noch die Absicht, sich zu toten. Aber er ergreift die Waffe mit Vergnügen, seine Handflache umfasst den Kolben, sein Zeigefinger umschließt den Abzugbügel mit einer Art von Wollust. Er stellt sich die Handlung vor. Allmählich wird er zum Sklaven der Waffe. Sie bringt ihren Besitzer in Versuchung. Beiläufig richtet er die Mündung gegen sich. Er nähert sie seiner Schläfe, dann seinen Zähnen. Nun ist er beinah in Gefahr, weil der Gedanke an das Funktionieren, der Zwang einer vom Körper entworfenen und vom Geist vollzogenen Handlung ihn übermannt. Der Kreislauf des Impulses strebt sich zu schließen. Das Nervensystem erzeugt sich selber eine geladene Pistole, und der Finger will sich plötzlich krümmen. 

Eine kostbare Vase am Rand eines Tisches; ein Mann, der auf einer Brüstung steht, befinden sich in vollkommenem Gleichgewicht. Und doch sahen wir sie lieber etwas weiter von der Senkrechten des leeren Raumes entfernt. Wir haben die quälende Empfindung, wie wenig es braucht, um das Schicksal des Menschen oder des Dinges zu beschleunigen. Dies Wenige – wird es dem fehlen, dessen Hand bewaffnet ist? Falls er sich vergisst, der Schuss ihm entfahrt, der Gedanke an die Handlung siegt und sich verwirklicht, bevor er die Bremsvorrichtung ausgelost und die Selbstbeherrschung wiedererlangt hat – dürfen wir dann, was daraus folgt, einen Selbstmord aus Unachtsamkeit nennen? Das Opfer hat es geschehen lassen, und sein Tod ist ihm wie ein unüberlegtes Wort entfahren. Unmerklich hat es sich in eine gefährliche Zone seines Willensbereichs vorgewagt. Seine Willfährigkeit gegen irgendwelche Tast- und Machtgefühle hat es in ein Gebiet geführt, wo die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sehr groß ist. Es hat sich einem Lapsus, einem geringfügigen Vorfall des Gewissens oder der Übertragung anheimgegeben. Es tötet sich, weil es allzu leicht war, sich zu töten. 

Ich habe ziemlich lange bei diesem erdachten Model einer halb zufälligen, halb vorbestimmten Handlung verweilt, um die Unwägbarkeit der Unterschiede und Gegensatze anzudeuten, die zwischen den Wahrnehmungen, den Bestrebungen, den Bewegungen und deren Folgen – zwischen Tun und Geschehen lassen, Handeln und Erdulden – zwischen Wollen und Können zu bestehen scheinen. (Im eben ausgeführten Beispiel geht das Können aus dem Wollen hervor.) 

Die ganze Spitzfindigkeit eines Kasuisten oder eines Schülers von Cantor wäre erforderlich, damit sich vom Gewebe der Zeit aussondern ließe, was der Wirkung der einzelnen Machte unseres Schicksals zuzuschreiben ist. Unter dem Mikroskop erscheint der Faden, den die Parzen abspulen und durchschneiden, als ein Seil, dessen vielfarbige Fasern, einander ablösend, bald verschwinden, bald wieder hervortreten, während die Windung sie zieht und mit sich reißt.

Der Tod ist eine Überraschung, die das Unvorstellbare dem Vorstellbaren bereitet. 

Welches Maß an Vorwänden, an Fehlschlüssen, an Ausreden – an Fruchtbarkeit, an Findigkeit -, um weiterzuleben! Um die einschneidenden Grunde zur Vernichtung, die von all überall her auftauchen, niederzuhalten – die dem Individuum jeden Augenblick das Gefühl – der Nutzlosigkeit oder des Versäumten oder Überholten vermitteln.

Man rettet sich in das Unbekannte. Man verbirgt sich in ihm vor dem Bekannten. Das Unbekannte ist die Hoffnung der Hoffnung. Im Unbestimmten hatte das Denken ein Ende. Die Hoffnung ist jener innerste Akt, der Unwissenheit schafft die Mauer zur Wolke wandelt – und kein Skeptiker, kein Zweifler zerstört Urteil und Vernunft, Evidenz und Wahrscheinlichkeit, wie dieser rasende Damon Hoffnung Immer allein, meist schweigsam zuhöchst auf dem höchsten und äußersten Turm, halt die Hoffnung Ausschau, hinweg über Körper und Geist. 

Die Hoffnung blickt in den Spiegel und sieht sich mit Siegesflügeln.

Jede Moral prophezeit.

Pag. 15-19



Kürze.

Handeln ist eine kurze Tollheit. 

Das Kostbarste des Menschen ist eine kurze Epilepsie. 

Das Genie hängt an einem Augenblick. 

Liebe entsteht auf einen Blick; und ein Blick genügt, ewigen Hass hervorzubringen. 

Und wir sind nichts, wenn wir nicht imstande waren und imstande waren, einen Augenblick außer uns zu sein. 

Dieser kurze Moment, da ich außer mir bin, ist ein Keim oder drangt wie ein Keim hervor. Die übrige Zeit lässt ihn sich entwickeln oder zugrunde gehen.

Eine zum Erstaunen mächtige Spannkraft drängt sich in den Samen und in einzelnen Minuten zusammen. Es gibt Teilchen der Zeit, die sich voneinander wie ein Pulverkorn von einem Sandkorn unterscheiden. Nach außen sehen sie fast gleich aus, doch ihre Bahnen sind nicht zu vergleichen.

Pag. 19


Macht und Geld haben den Zauber des Unbegrenzten; es ist nichts Genaues eigentlich, nicht eine bestimmte Fähigkeit des “Handelns, die “man ausdrücklich zu besitzen wünscht. Niemand begehrt leidenschaftlich nach einer vernünftigen Macht; auch nicht nach der Ausübung der Staatsgewalt als eines klar umgrenzten, regelmassigen Berufs; noch nach Geld als dem Gegenwert genau bestimmter Dinge.

Hingegen ist es das Unbestimmte der Macht, dem mein Wunsch gilt – weil ich nie weiß, was ich vielleicht einmal begehren konnte. Ich gehe nicht dem Bemessenen nach und will nur das kaufen, was nicht im Handel ist. 

Drum sieht die Welt in einem sehr mächtigen oder sehr reichen Menschen immer den Spieler, der Gluck hat. Man halt einen außerordentlichen Glücksfall für den Ursprung solcher Vermögen. Keine Anstrengung, keine einzelne Leistung scheint jemals zu solcher Große fuhren zu können, der etwas gleichsam Transzendentes anhaftet. 

So ist es denn also den Trieb zum Missbrauch der Macht, der so leidenschaftlich an die Macht denken lässt. Macht ohne Missbrauch verliert an Reiz.

Schande umgibt den, der die allernotwendigsten Arbeiten verrichtet. Der Vornehmste findet am meisten Hilfe.

Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.

Ich kannte einen merkwürdigen Menschen, der alles glaubte, was er in der einen Zeitung las, und nichts, was in den andern stand. – Es war ein Original; seither im Gefängnis.

Pag. 21-22


Keine Neigung ist naiver als diejenige, die alle dreißig Jahre zur Entdeckung der »Natur« führt. 

Es gibt keine Natur. Oder genauer: was man als gegeben annimmt, ist allemal, früher oder später, hergestellt worden. Der Gedanke, dass man Dinge wieder in ihrer Ursprünglichkeit erfasst, ist von erregender Kraft. Man stellt sich vor, es gebe ein solches Ursprüngliches. Doch das Meer, die Baume, die Sonnen – und gar das Menschenauge -, all das ist Kunstgriff.

Die Veredelung und das Bedürfnis nach Edlem bei den Klassikern liegt nicht fern vom Hang zum Natürlichen. Beide Neigungen (ungleich an Scharfsicht und Wahrhaftigkeit) setzen voraus, dass die Ursprünge hinlänglich vergessen sind.

Ein Spieß ist edler – und mehr Natur als ein Gewehr. 

Ein Paar Stiefel sind vornehmer als ein Paar Stiefeletten. Dass der Mensch vergisst; dass er nicht mehr weiß; dass er untätig ist; dass ihm alte Bedingungen des Menschseins entfallen sind – führt zum »Edeln« und zur »Natur«, und . . zum sogenannten »Humanen«.

Pag 23-24


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In jeder Gesellschaftsordnung tritt einer auf, der als Verwalter der vagen Dinge eingesetzt ist. Er destilliert sie, gliedert sie, versieht sie mit Verordnungen, Methoden, Einweihungsriten, mit Gepränge, Symbolen, Versmaßen, »geistlichen « Übungen – bis sie die Gestalt ursprünglicher Gesetze annehmen. – Es ist der Priester, der Magier, der Dichter, der Geheime Zeremonienmeister; auch der Demagoge und der Held. Aus Dampfen errichten sie Gebäude, die nicht fest, doch ewig stehen. Jeder Angriff vertreibt sie, keiner zerstört sie. 

Das Geschäft der Intellektuellen ist es, mittels Zeichen, Namen, Symbolen alles aufzurühren, ohne das Gegengewicht realer Handlungen. Das macht ihre Reden verblüffend, ihre Politik gefährlich, ihr Vergnügen oberflächlich. 

Es sind soziale Reizmittel, mit den Vorteilen und Gefahren aller Reizmittel.

Der Redner und der Sophist: Salz der Erde. Götzendiener sind alle übrigen, die Wörter für Dinge, Sätze für Handlungen halten. 

Aber die ersteren nehmen ihre ganze Gruppe wahr, in ihnen ist das Reich des Möglichen. 

Daraus folgt, dass der Mann der klaren, großen, kühnen Tat nicht sehr verschieden ist von diesen meisterlichen und freien Gestalten. Sie sind innerlich miteinander verbrüdert. 

(Napoleon, Cäsar, Friedrich – Literaten, ungemein begabt, um Menschen und Dinge zu manipulieren – durch Worte.)

Pag. 25


Ich sehe den »modernen Menschen« mit einer Idee von sich und der Welt einhergehen, die nicht länger eine bestimmte Idee ist. – Er kann nicht mehr ohne eine Vielzahl von Ideen auskommen; ohne diese Vielfalt widerstreitender Sichtweisen konnte er schwerlich leben; es ist ihm unmöglich geworden, ein Mensch mit einem einzigen Gesichtspunkt zu sein und tatsächlich einer einzigen Sprache, einer einzigen Nation, einer einzigen Konfession, einer einzigen Physik anzugehören. 

Dies sowohl infolge seiner Lebensweise als aufgrund der gegenseitigen Durchdringung der verschiedenen Losungen. 

Außerdem büßen die Ideen, selbst die grundlegenden, den Wesenscharakter allmählich ein und nehmen den Charakter von Werkzeugen an.

Pag. 25-26


Die Unmenschliche.

Die Wissenschaft hat das gute Gewissen des Gemeinsinns und des gesunden Menschenverstandes zerstört. Beide behaupten ihr Ansehen nur noch im Bereich des Unbestimmten. Sie hat das Denken dazu gebracht, immer mit Überraschungen zu rechnen, auf allen Gebieten, wo Sprache und Gespräch nicht alles bedeuten. Sie entwertet unsere naiven Bilder und selbst unsere Vorstellungskraft, die von unseren körperlichen Erfahrungen und Gewohnheiten herrührt. Sie lässt uns glauben, dass unendlich viel Unvorstellbares sich abspielt, wovon das Vorstellbare einen winzigen, völlig untergeordneten Bruchteil ausmacht; und sie entzieht dem Menschen sogar seinen Begriff von Wissen: Wesenheiten, Prinzipien, Kategorien, Deduktionen – diese Trugbilder der Ordnung und absoluten Zentralisation einer Erkenntnis, die ihre Reichweite im Voraus zu errechnen strebt und behauptet. Sie führt zur Formulierung von Aussagen, die dem Gemeinsinn unerträglich sind, weil sie sich in den Formen der herkömmlichen Sprache, denen jener aufs engste verhaftet ist, absonderlich ausnehmen. 

Dies alles ist höchst unangenehm für den gesunden Menschenverstand, der ja ein statistisches Gefühl ist, eine Erwartung oder Wahrscheinlichkeit, die auf verworrenen Erfahrungen beruht; auf den Vorstellungen, die verwendbar sind; auf der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich etwas vorzustellen; auf einer Logik, die nur folgert und die Voraussetzungen für gesichert halt. Die Evidenz ist nur das Erschauen eines naiven Bildes. Was ist evidenter, als dass es keine Antipoden gibt? Doch welches Bild ist nicht naiv?

Mit dem Einwand des gesunden Menschenverstandes weicht der Mensch vor dem Unmenschlichen zurück, denn im gesunden Menschenverstand liegt nichts als der Mensch, seine Vorfahren, die Maßstäbe des Menschen und die menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen. Doch die Forschung und selbst die Machte rücken vom Menschen ab. Die Menschheit wird sich daraus retten, so gut sie kann. Die Unmenschlichkeit hat vielleicht eine große Zukunft…

Niemand kann mehr ernsthaft vom Universum reden. Dieses Wort sucht seine Bedeutung. Auch der Name Natur wird seltener. Das Denken überlässt ihn der Sprache. All diese Wörter sind für uns, mehr und mehr, nur noch Wörter. Denn der Abstand zwischen dem Wörterbuch der Umgangssprache und dem Verzeichnis der klaren, zur Fixierung und Kombinierung präziser Erkenntnisse sorgfältig zubereiteten Begriffe beginnt fühlbar zu werden.

Schon liegt Dämmerung über dem Vagen, tagt das Reich des Unmenschlichen, das hervorgehen wird aus der Klarheit, Strenge und Reinheit in den menschlichen Dingen. 

Die Sprache ist unbedacht – vergesslich. Die sukzessiven Bedeutungen eines Wortes wissen nichts voneinander. Sie stammen von Assoziationen ohne Erinnerung ab, und die dritte weiß nichts von der ersten.

Höflichkeit ist geregelte Gleichgültigkeit.

Lächeln ist ein System.

Rücksicht ist Voraussicht.

Pag. 26-27


Es gibt die Wissenschaft von den einfachen Dingen und die Kunst der komplizierten Dinge. Wissenschaft, wenn die veränderlichen Größen aufgezählt werden können und ihre Zahl geringfügig ist, wenn ihre Kombinationen klar und deutlich unterschieden sind.

Man strebt dem Zustand der Wissenschaftlichkeit zu, man wünscht ihn herbei. Der Künstler erzielt gute Ertrage für sich. Der Vorteil der Wissenschaft beruht in der Kunst, Wissenschaft zu erzeugen

Pag. 27-28

Alle Kritik, aller Tadel läuft auf den Satz hinaus: Ich bin nicht du. Deshalb spielt eine Grausamkeit mit, das heißt eine Unempfindlichkeit, eine wesentliche Ungleichheit – wie zwischen einem fallenden Stein und dem von ihm erschlagenen Tier. 

Man kann unmöglich verstehen und zugleich strafen. Wenn der Richter sich nicht in den Schuldigen versetzt, wird er selbst gerichtet durch die Abgründe des Schuldigen, die die gleichen sind wie die seinen. Dringt er aber ein in das Innerste der Schuld – wo ist dann der Schuldige, wo der Richter?

Pag. 28


Schreiben heisst voraussehen.

Wie wenig man sich kennt, ermisst man, wenn man sich wieder liest.

Viele Schriftsteller betrachten ihre Kunst nicht als etwas, das man beherrschen muss – sine qua non -, sondern als Hasardspiel, in dem man sein Glück versuchen darf. Sie verlassen sich ganz auf das Gluck und geben sich den Wert, den es ihnen zu verleihen geneigt ist. (Sie’. werden sogar noch ein wenig hinzugeben.) 

So gibt es zwei Klippen, zwei Arten irrezugehen und zu scheitern: die allzu genaue Anpassung an das Publikum; die zu enge Treue zum eigenen System.

Entwurf zu einem Vorwort. 

Seht da, unsere Mythen, unsere Irrtümer, die wir mit solcher Mühe gegen die frühern aufgerichtet haben! . . .

Pag. 30


Paradox

Es gibt nur ein Mittel, um einem werk Einheit zu geben: es unterbrechen und wieder aufnehmen.

Dichter ist, wer durch die eigentümliche Schwierigkeit seiner Kunst auf Einfälle kommt – und der ist es nicht, bei dem sie ihretwegen ausbleiben.

Dichter. – während er seine Verse macht, weiß er eine Zeitlang nicht, ob er ganz nah am Ziel ist oder noch nichts getan hat. Beides trifft zu; und dieser Zustand dauert oft fast so lang wie die ganze Arbeit.

Mancher Dichter gleicht einem, der mühsam und wie besessen auf der ganzen Erde nach Felsen sucht, die zufälligerweise eine menschenähnliche Form haben.

Die Pythia vermochte kein Gedicht zu diktieren. Wohl aber einen Vers – das heißt eine Einheit – und dann wieder einen. Diese Göttin der Kontinuität ist selber außerstande fortzufahren. 

Und die Lücken füllt die Diskontinuität.

Mögen uns die Götter vor prophetischem Delirium bewahren! 

In solcher Verzückung sehe ich vor allem die schlechte Leistung einer Maschine – die unvollkommene Maschine. 

Eine gute Maschine ist geräuschlos. Die vom Zentrum entfernten Teile versetzen die Achse nie in Schwingung. – Sprecht, ohne zu schreien. 

Also keinerlei Verzückung – denn sie befördert schlecht.

Pag. 32


Inspiration.

Angenommen die Inspiration wäre das, wofür man sie hält – was absurd wäre, weil es besagen wurde, dass unter dem Diktat einer Gottheit ein ganzes Gedicht entstehen könnte -, so folgte mit ziemlicher Genauigkeit daraus, dass der Inspirierte, ebensogut wie in der eigenen, in einer fremden Sprache schreiben konnte, die er gar nicht zu kennen brauchte.

(So sprachen einst die Besessenen, die dabei gänzlich unwissend sein konnten, in ihren Anfällen hebräisch oder griechisch. Und ebendies munkelt man auch von den Dichtern …)

Der Inspirierte brauchte ebensowenig Kenntnis zu haben von seiner Zeit oder vom Stand des Geschmacks in seiner Zeit oder von den Werken seiner Vorgänger und Rivalen – es sei denn, man verstünde unter Inspiration eine so bewegliche, geordnete, scharfsinnige, unterrichtete und berechnende Kraft, dass man sie ebensogut Intelligenz oder Kenntnis nennen könnte.

Wer »Werk« sagt, sagt: »Opfer«.

Das große Problem ist zu entscheiden, was zu opfern ist: man muss wissen, wer, was gefressen wird.

Was mich – gegebenenfalls – interessiert, ist nicht das Werk, ist nicht der Autor – ist das, was ein Werk zu einem solchen macht.

Jedes Werk ist das Werk von ganz anderen Dingen als einem »Autor«.


Pag. 32-33

Was man an Können in seiner Kunst erwirbt, verliert man an »Persönlichkeit« –  zunächst . . . Jeder Zuwachs von außen wird mit einer Einbüße am (ursprünglichen) Selbst bezahlt.

Der Mittelmäßige findet den Weg zu seiner eigenen Natur nicht mehr; einige aber kehren zurück, bewaffnet mit Werkzeugen, die zu Organen geworden sind, und stärker denn je, ganz sie selber zu sein.

Ich bewunderte dieses Werk. Ich fühlte mich dazu nicht imstande, gedemütigt … Und dabei fühlte ich, dass ein gewisses Maß von Dummheit nötig war, um es zu schreiben – um es auszudenken.

Originalität. – Es gibt Leute – ich habe solche gekannt -, die ihre »Originalität« bewahren wollen. Dadurch werden sie zu Nachahmern. Sie gehorchen denen, die ihnen den Glauben an den Wert der »Originalität« beigebracht haben.

Ein Schnabelvoll.

. . . Dieses ist eines jener Bücher, aus denen die Dummen holen, was der Autor geistreichen Leuten verdankt.

Worin ein Mensch nicht nachgeahmt werden kann, darin kann er sich selber nicht nachahmen. Wo ich unnachahmlich bin, bin ich es für mich.

Die Nachahmung, die man von einem Werk herstellt, entlastet es von dem, was nachahmbar ist.

Sich selber nachahmen.

Es ist für den Künstler wichtig, dass er sich selber nachzuahmen versteht. Nur so kann er ein Werk aufbauen – das heißt ein Unternehmen wagen, das sich notwendig gegen die Beweglichkeit und Unbeständigkeit des Geistes, des Lebens, der Stimmung richtet. 

Der Künstler nimmt seinen glücklichsten Zustand zum Vorbild. Das Beste, was er nach seinem Urteil gemacht hat, dient ihm als Maßstab.

Es ist nicht immer gut, man selber zu sein.

Pag. 34-35



Valery, Paul, Windsriche. Aufzeichnungen und Aphorismen. Aus dem Franszösischen von Bernhard Bösenstein, Hans Staub und Peter Szondi, Frankfurt am Main 20187, (Suhrkamp)