Genius
Uit: Giorgio Agamben, Profanierungen, Frankfurt am Main 2005(Suhrkamp) p. 7-17
Genius
Now my charms are all o’erthrown
And what strength I have is my own.
Prospero zum Publikum
Genius nannten die alten Römer den Gott, dessen Schutz jeder Mensch bei seiner Geburt anvertraut wird. Die Etymologie ist transparent und im Italienischen heute noch erkennbar an der Nähe zwischen genio (Genius) und generare (zeugen). Dass der lateinische genius mit generare zu tun hatte, geht im übrigen auch daraus hervor, dass genialis par excellence für die Lateiner das Bett war: genialis lectus, weil sich darin der Akt der Zeugung (generatia) vollzog. Und dem Genius heilig war der Tag der Geburt, der auf Italienisch noch heute genetliaco genannt wird (während im Deutschen nur noch Genethliakan -das antike Geburtstagsgedicht -existiert; A. d. Ü.). Die Geschenke und das Festessen, mit dem wir den Geburtstag feiern, sind trotz des widerwärtigen, aber wohl unvermeidlichen angelsächsischen Ohrwurms eine Erinnerung an das Fest und die Opfer, welche die römischen Familien an den Geburtstagen ihrer Angehörigen dem Genius darbrachten. Horaz spricht von ungemischtem Wein, einem zwei Monate alten Ferkel, einem »geopferten« (»im-mola-tus«), das heißt einem mit der salsa mala bestreuten Lamm; aber ursprünglich sollen es nur Weihrauch, Wein und köstliche Honigfladen gewesen sein, weil Genius, dem Gott, welcher der Herr über die Geburt ist, die blutigen Opfer nicht behagten.
»Er heißt mein Genius, weil er mich gezeugt hat (Genius meus naminatur, quia me genuit).« Aber das ist noch nicht alles. Genius war nicht nur die Personifizierung der sexuellen Energie. Freilich hatte jeder Mann seinen Genius und jede Frau ihre Juno, beide Manifestationen der Fruchtbarkeit, die das Leben zeugt und erhält. Aber wie sich deutlich zeigt an dem Begriff ingenium, der Bezeichnung für die Summe der körperlichen und geistigen Eigenschaften, die dem ins Sein Kommenden angeboren sind, war Genius gewissermaßen die Vergöttlichung der Person, das Prinzip, das ihr ganzes Dasein trägt und ausdrückt. Deshalb war dem Genius die Stirn geweiht, und nicht der Schamhügel; und die Geste, uns mit der Hand an die Stirn zu fassen, die wir, beinahe ohne es zu merken, in Augenblicken der Verwirrung machen, wenn es uns fast scheint, als wären wir uns selbst abhanden gekommen, erinnert an die rituelle Geste im Genius-Kult (unde venerantes deum tangimus frontem). Und da dieser Gott in gewissem Sinn der innerste und eigenste ist, muss man ihn in jeder Hinsicht und in jedem Augenblick des Lebens besänftigen und sich günstig stimmen.
Aufs wunderbarste tritt die geheime Beziehung, die jeder von uns mit seinem Genius pflegen sollte, in dem lateinischen Ausdruck indulgere Genio zu Tage. Man muss dem Genius nachgeben, sich ihm ergeben, dem Genius müssen wir alles gewähren, was er von uns verlangt, denn sein Bedürfnis ist unser Bedürfnis, sein Glück ist unser Glück. Auch wenn seine -unsere! -Ansprüche unsinnig und launenhaft erscheinen mögen, tun wir gut daran, sie ohne Widerrede zu akzeptieren. Wenn ihr -er -zum Schreiben genau das gelbliche Papier, einen bestimmten Stift braucht, und wenn es ausgerechnet das von links einfallende schwache Licht sein muss, dann sagt ihr euch vergeblich, dass jeder Stift zum Schreiben taugt, dass jedes Papier und jedes Licht in Ordnung ist. Wenn ohne das hellblaue Leinenhemd (um Gotteswillen nicht das weiße mit dem Angestelltenkragen!) das Leben nicht lebenswert ist, wenn ihr es ohne die langen Zigaretten mit dem schwarzen Papier absolut nicht schafft, dann hat es keinen Sinn, wenn ihr euch immer wieder sagt, das seien Verrücktheiten, man müsse endlich Vernunft annehmen. Genium suum defraudare, seinen Genius hintergehen bedeutet auf lateinisch: sich das Leben vergällen, sich selbst betrügen. Und genialis, dem Genius gemäß, ist das Leben, das den Blick vom Tod wegrückt und ohne Zaudern dem Antrieb des Genius folgt, der es gezeugt hat.
Aber dieser innerste und persönliche Gott ist auch das, was in uns an Unpersönlichem ist, die Personifizierung von etwas, das in uns ist, aber über uns hinausgeht und uns übersteigt. »Genius ist unser Leben, insofern es nicht aus uns entstanden ist, sondern uns hat entstehen lassen.« Gelegentlich scheint er sich mit uns zu identifizieren, aber nur, um gleich darauf zu offenbaren, dass er mehr ist als wir selbst, um uns zu zeigen, dass wir selbst mehr und weniger als wir selbst sind. Die in Genius enthaltene Auffassung vom Menschen begreifen heißt verstehen, dass der Mensch nicht nur Ich und individueller Bewusstsein ist, sondern dass er von der Geburt bis zum Tod eigentlich mit einem unpersönlichen und vorindividuellen Element zusammenlebt. Der Mensch ist somit ein einziges Wesen in zwei Phasen, das aus der komplizierten Dialektik zwischen einem (noch) nicht ausgemachten und gelebten Teil und einem schon vom Geschick und der individuellen Erfahrung gezeichneten entsteht. Doch ist der unpersönliche und nicht ausgemachte Teil keine chronologische Vergangenheit, die wir ein für allemal hinter uns gelassen haben und die wir im Bedarfsfall mit dem Gedächtnis heraufbeschwören können er ist immer noch anwesend, in uns und mit uns, im Guten und im Bösen und nicht von uns zu trennen. Das Knabengesicht des Genius, seine langen bebenden Flügel zeigen an, dass er die Zeit nicht kennt, so dass wir ihn in größter Nähe, in uns, wie in Kinderzeiten er schauern, atmen und als eine unerinnerbare Gegenwart gegen unsere fiebrigen Schläfen klopfen spüren.
Deshalb kann der Geburtstag nicht die Erinnerungsfeier eines vergangenen Tages sein, sondern, wie jedes wahre Fest, eine Aufhebung der Zeit, Epiphanie und Anwesenheit des Genius. Es ist diese Anwesenheit, die wir nicht von uns wegschieben können, die uns daran hindert, uns in einer substantiellen Identität abzukapseln, es ist Genius, der den Anspruch des Ichs, sich selbst zu genügen, in Stücke schlägt.
Die Geistigkeit, so wurde gesagt, ist vor allem das Bewusstsein dessen, dass das ausgemachte Wesen nicht gänzlich ausgemacht ist, sondern noch einen gewissen Schwung nicht ausgemachter Wirklichkeit enthält, der nicht nur aufbewahrt, sondern auch respektiert und in gewissem Sinn honoriert werden muss, so wie man seine Schulden honoriert. Aber Genius ist nicht nur Geistigkeit, er betrifft nicht nur die Dinge, die wir als edel und erhaben zu betrachten pflegen. Alles Unpersönliche in uns ist genialis, vor allem die Kraft, die das Blut in unseren Adern antreibt oder uns in Schlaf sinken lässt, die unbekannte Macht, die so sanft die Wärme in unserem Körper reguliert und verteilt und die Fasern unserer Muskeln entspannt oder zusammenzieht. Es ist der Genius, den wir dunkel ahnen im Inneren unseres physiologischen Lebens, dort, wo das Ureigenste das Fremdeste und Unpersönlichste, das Nächste das Entfernteste und Unbeherrschbarste ist. Wenn wir uns nicht dem Genius überließen, wenn wir nur Ich und Bewusstsein blieben, wären wir nicht einmal imstande zu urinieren. Mit dem Genius leben heißt in diesem Sinn im Innersten eines fremden Wesens leben, beständig eine Beziehung zu einer Region der Nichtkenntnis aufrechterhalten. Aber diese Region der Nichtkenntnis ist keine Verdrängung, sie verrückt und verlegt keineswegs die Erfahrung vom Bewusstsein ins Unbewusste, wo sie sich dann als eine unheimliche Vergangenheit ablagert, bereit, in Symptomen und Neurosen wieder aufzutauchen. Der vertraute Verkehr mit einer Region der NichtKenntnis ist eine tägliche mystische Praxis, in der das Ich in einer Art besonderer, freudiger Esoterik lächelnd seiner eigenen Auflösung beiwohnt und, sei es bei der Verdauung der Speisen oder bei der Erhellung des Geistes, ungläubiger Zeuge seines eigenen fortwährenden Schwundes ist. Genius ist unser Leben, insofern es uns nicht gehört.
Wir müssen also das Subjekt als ein Spannungsfeld ansehen, dessen antithetische Pole der Genius und das Ich sind. Durch dieses Feld gehen zwei miteinander verbundene, aber entgegengesetzte Kräfte, die eine vom Individuellen zum Unpersönlichen und die andere vom Unpersönlichen zum Individuellen. Die zwei Kräfte leben zusammen, schneiden einander, trennen sich, aber sie können sich weder vollständig voneinander emanzipieren noch vollkommen miteinander identifizieren. Auf welche Weise kann dann das Ich am besten vom Genius zeugen? Nehmen wir an, das Ich möchte schreiben. Nicht dieses oder jenes Werk schreiben, sondern einfach nur schreiben. Dieser Wunsch bedeutet: Ich spüre, dass der Genius irgendwo steckt, dass eine unpersönliche Gewalt in mir ist, die zum Schreiben drängt. Aber das letzte, was der Genius braucht, ist ein Werk, er, der nie eine Feder, geschweige denn einen Computer berührt hat. Man schreibt, um unpersönlich zu werden, um genialis zu werden, und doch legen wir uns schreibend als Autor dieses oder jenes Werkes fest, entfernen uns vom Genius, der nie die Form eines Ichs haben kann, geschweige denn eines Autors. Jeder Versuch des Ichs, des persönlichen Elements, sich den Genius anzueignen, ihn zu zwingen, im Namen des Ichs zu unterschreiben, ist notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Hierher gehören so erfolgreiche, ironische Aktionen wie die der Avantgarde, bei denen die Anwesenheit von Genius durch die Ent-Schaffung und die Zerstörung des Werks bestätigt wird. Aber wenn auch nur ein widerrufenes und zerstörtes Werk des Genius würdig sein könnte, wenn der wahrhaft »geniale« Künstler ohne Werk ist, so kann das Ich Duchamp doch nie mit dem Genius zusammenfallen und zieht unter der allgemeinen Bewunderung durch die Welt als der melancholische Beweis seines eigenen Nicht-Daseins, als der berüchtigte Träger seiner eigenen Untätigkeit.
Deswegen ist die Begegnung mit Genius schrecklich. Poetisch ist das Leben, das sich in der Spannung zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen, zwischen dem Ich und dem Genius befindet, aber panisch ist das Gefühl, dass Genius uns überall überragt und übertrifft, dass uns etwasunendlich Größeres geschieht, als wir ertragen zu können glauben. Deswegen fliehen die meisten Menschen entsetzt vor ihrem unpersönlichen Teil oder versuchen ihn heuchlerisch ihrer eigenen winzigen Statur anzupassen. Da kann es geschehen, dass das zurückgewiesene Unpersönliche in der Gestalt noch unpersönlicherer Symptome und Ticks, mit einer noch übertriebeneren Grimasse wieder auftaucht. Aber ebenso lächerlich und oberflächlich sind die, welche die Begegnung mit dem Genius als ein Privileg erleben, der Dichter, der sich in Positur wirft und sich wunder was einbildet oder, schlimmer, mit vorgetäuschter Bescheidenheit für die erwiesene Gnade dankt. Vor Genius gibt es keine großen Menschen, sondern alle sind gleich klein. Aber einige sind so kopflos, dass sie sich von ihm erschüttern und durchdringen lassen, bis sie schließlich zerbrechen. Andere, ernster, aber weniger glücklich, weigern sich, das Unpersönliche zu verkörpern, ihre Lippen einer Stimme zu leihen, die nicht ihre eigene ist.
Es gibt eine Ethik in den Beziehungen zu Genius, die den Rang jedes Wesens bestimmt. Den niedrigsten Rang belegen die -und es sind manchmal hochberühmte Autoren -, die auf ihr Genie zählen wie auf einen persönlichen Hexenmeister (»es gelingt mir alles hervorragend!«, »wenn du, mein Genius, mich nicht verlässt …«). Wievielliebenswerter und nüchterner ist da die Geste des Dichters, der ohne den zwielichtigen Helfershelfer auskommt, weil er weiß, dass »uns die Abwesenheit Gottes hilft«!
Die Kinder verspüren eine besondere Lust, wenn sie versteckt sind. Und nicht, weil sie zu guter Letzt gefunden werden wollen. Versteckt zu sein, sich im Wäschekorb oder in einem Schrank zu verkriechen oder sich in einer Ecke des Dachbodens verschwindend klein zusammenzukauern bereitet ihnen eine unvergleichliche Freude, auf die sie um nichts auf der Welt verzichten wollen. Von diesem kindlichen Herzklopfen stammt sowohl die Wollust, mit der sich Robert Walser die Bedingungen für seine Unlesbarkeit sichert (die Mikrogramme), wie auch das hartnäckige Verlangen Walter Benjamins, nicht erkannt zu werden. Sie sind die Wächter jener solitären Glorie, die dem Kind einst von seinem Bau geoffenbart wurde. Denn im Nicht-Erkannt werden feiert der Dichter seinen Triumph, genau wie das Kind, das sich bebend als der Genius loci seines Verstecks entdeckt.
Simondon sagt, wir treten durch die Gemütsbewegung in Beziehung zum Vorindividuellen. Sich erregen heißt das Unpersönliche spüren, das in uns ist, den Genius als Angst oder Freude, Sicherheit oder Wanken erleben.
Auf der Schwelle zur Region der Nicht-Kenntnis muss das Ich seine Eigenschaften ablegen, muss sich rühren lassen. Und die Leidenschaft ist das zwischen uns und Genius gespannte Seil, über das seiltänzerisch das Leben geht. Bevor uns noch die Außenwelt verwundert und erstaunt, betrifft uns die Anwesenheit dieses ewig unreifen, unendlich halbwüchsigen Teils in uns, der auf der Schwelle zu jeder Festlegung zögert. Und es ist dieser ausweichende Knabe, dieser hartnäckige puer, der uns zu den anderen hinschiebt, bei denen wir nur die Gemütsbewegung suchen, die in uns unverständlich geblieben ist, in der Hoffnung, dass sie sich wie durch ein Wunder im Spiegel des anderen kläre und erhelle. Wenn das Betrachten der Lust und der Leidenschaft des anderen die höchste Gemütsbewegung, die erste Politik ist, dann deshalb, weil wir beim anderen die Beziehung zum Genius, mit der wir allein nicht zu Rande kommen können unsere geheime Wonne und unsere hochmütige Agonie suchen.
Mit der Zeit spaltet sich Genius und beginnt eine ethische Färbung anzunehmen. Die Quellen sprechen, vielleicht beeinflusst von den zwei Dämonen in jedem Menschen bei den Griechen, von einem guten und einem bösen Genius, von einem weißen (albus) und von einem schwarzen (ater). Der erste treibt und rät uns zum Guten, der zweite verdirbt uns und macht uns dem Bösen gefügig. Horaz meint wahrscheinlich mit Recht, es handle sich in Wirklichkeit um einen einzigen Genius, der aber wandelbar ist, bald hell bald düster, bald weise bald verworfen. Das bedeutet, genau betrachtet, dass sich nicht der Genius wandelt, sondern unsere Beziehung zu ihm, die zuerst hell und klar ist und dann durchsichtig und düster wird. Unser Lebensprinzip, der Gefährte, der unser Dasein lenkt und liebenswert macht, verwandelt sich dann plötzlich in einen schweigsamen illegalen Begleiter, der uns auf Schritt und Tritt wie ein Schatten folgt und insgeheim gegen uns konspiriert. Die römische Kunst stellt die beiden Genii nebeneinander so dar: der eine hält eine brennende Fackel in der Hand, und der andere, der Todesbote, hält die Fackel nach unten gekehrt.
In dieser späten moralisierenden Darstellung tritt das Paradox des Genius in aller Deutlichkeit hervor: Wenn Genius unser Leben ist, insofern es uns nicht gehört, dann müssen wir etwas verantworten, für das wir nicht verantwortlich sind, dann haben unser Heil und unser Verderben ein knabenhaftes Antlitz, das nicht unser eigenes Antlitz ist.
Genius hat eine Entsprechung in der christlichen Vorstellung vom Schutzengel-eigentlich zweier Engel, eines guten und heiligen, der uns zum Heil führt, und eines bösen und perversen, der uns in die Verdammung treibt. Aber am klarsten und unerhörtesten wird er in der iranischen Engelskunde beschrieben. Nach dieser Lehre leitet ein Engel namens Daena, der die Gestalt eines schönen Mädchens hat, die Geburt jedes Menschen. Die Daena ist der himmlische Archetyp, nach dessen Bild das Individuum geschaffen wurde, zugleich der stumme Zeuge, der uns bespitzelt und in jedem Augenblick unseres Lebens begleitet. Trotzdem bleibt das Antlitz des Engels im Lauf der Zeit nicht unverändert, sondern verwandelt sich, wie das Bildnis des Dorian Gray, unmerklich bei jeder unserer Gebärden, bei jedem unserer Worte und jedem unserer Gedanken. So sieht die Seele im Augenblick des Todes ihren Engel je nach ihrer Lebensführung in ein noch schöneres Geschöpf oder in einen grauenhaften Dämon verwandelt auf sich zukommen und hört ihn flüstern: »Ich bin deine Daena, die deine Gedanken, deine Worte, deine Taten gebildet haben.« In einer schwindelerregenden Wende formt und zeichnet unser Leben den Archetyp, nach dessen Bild wir erschaffen wurden.
Wir geben in gewissem Maß alle klein bei mit Genius, mit dem, was in uns und nicht unser eigen ist. Die Art und Weise, wie sich jeder von Genius wegzuwenden, ihm zu entkommen sucht, macht seinen Charakter aus. Es ist die Grimasse, die Genius, insofern er gemieden und unausgedrückt gelassen wurde, auf das Gesicht des Ichs zeichnet. Der Stil eines Autors, wie die Anmut jedes Geschöpfs, hängt aber nicht so sehr von seinem Genius ab als vielmehr von dem, was in ihm ohne Genius ist, nämlich von seinem Charakter. Wenn wir jemanden lieben, so lieben wir deshalb weder seinen Genius noch seinen Charakter (geschweige denn sein Ich), sondern seine besondere Weise, den beiden zu entwischen, sein rasches Hin und Her zwischen Genius und Charakter. (Zum Beispiel den kindlichen Charme, mit dem jener Dichter aus Neapel heimlich ein Eis nach dem anderen verschlang oder die elastische Gangart des Philosophen, wenn er redend sein Zimmer durchmaß und plötzlich stehenblieb, um seinen Blick auf eine entfernte Ecke der Decke zu heften.)
Es kommt aber für jeden der Augenblick, in dem er sich von Genius trennen muss. Es kann nachts sein, unvermutet, wenn du beim Lärm einer vorbeiziehenden Gesellschaft, du weißt nicht warum, spürst, dass dich dein Gott verlässt. Oder sind wir es, die wir ihn verabschieden, in der klarsichtigen, letzten Stunde, in der wir zwar wissen, dass es ein Heil gibt, aber nicht mehr heil davonkommen wollen. Geh, Ariel! Es ist die Stunde, in der Prospero seine Zaubereien niederlegt und weiß, dass die Kraft, die ihm jetzt noch bleibt, seine eigene ist: die letzte Saison, die Spätzeit, in der der alte Künstler seinen Pinsel zerbricht und betrachtet. Was? Die Gebärden: zum ersten Mal nur unsere Gebärden, vollkommen entzaubert, bar jeglicher Magie. Denn gewiss, das Leben hat ohne Ariel sein Geheimnis verloren -und trotzdem wissen wir von irgendwoher, dass es uns erst jetzt gehört, dass wir erst jetzt ein rein menschliches und irdisches Leben zu leben beginnen, das Leben, das seine Versprechen nicht gehalten hat und uns deshalb jetzt unendlich mehr geben kann. Es ist die erschöpfte und in der Schwebe befindliche Zeit, der jähe Halbschatten, in dem wir Genius allmählich vergessen, es ist die erhörte Nacht. Hat Ariel je existiert? Was ist diese Musik, die verklingt und entschwindet? Nur der Abschied ist wahr, erst jetzt beginnt das lange, lange Verlernen seiner selbst. Bevor der langsame Knabe sich gebieterisch, eins nach dem anderen, sein Erröten, sein Zögern wiederholt.