M. Blachot: Das Geheimnis des Golem
in: Der Gesang der Sirenen. Essys zur modernen Literatur Berlin Wien 1982
Die Symbolische Erfahrung
Das Symbol hat es auf etwas völlig anderes abgesehen. Mit einem kühnen Satz hofft es den Bereich der Sprache, und zwar jeder Art von Sprache, zu überspringen. Das, worauf es abzielt, lässt sich auf keinerlei Weise ausdrücken; was es sehen oder hören lässt, entzieht sich jedem unmittelbaren Verstehen, ja dem Verstehen überhaupt, welcher Art es auch sein mag. Die Ebene, von der es uns ausgehen lässt, ist nichts weiter als ein Sprungbrett, das uns in einen anderen Bereich hinaufschnellen oder hinabstürzen soll, einen Bereich, der sonst keinerlei Zugang hat. Im Symbol findet also ein Sprung, ein Wechsel der Ebene statt, eine jähe und heftige Veränderung, Erhöhung oder Sturz, nicht aber ein Übergang von der einen Bedeutung zu der anderen, von der unscheinbaren Bedeutung zu grössere Bedeutungsfülle, sondern zu etwas völlig anderem, zu etwas, das anders ist als alle möglichte Bedeutungen. Dieser Wechsel der Ebene, gefährlich wenn es hinabgeht, noch gefährlicher, wenn es hinaufgeht, ist dat eigentliche Wesen des Symbols.
Schon das ist schwierig, verheissungsvoll und selten; es zeigt, dass man von Symbol nie ohne gewisse Vorkehrungen sprechen sollte. Aber noch andere Eigenheiten folgen daraus. Die Allegorie hat eine Bedeutung, eine Vielzahl von Bedeutungen, eine mehr oder minder grosse Doppelsinnigkeit von Bedeutungen. Das Symbol bedeutet nichts, drückt nichts aus. Es vergegenwärtigt lediglich eine Wirklichkeit, indem es sie uns gewärtigen lässt, eine Wirklichkeit, die sich jedem anderen Zugriff entzieht und vor unseren Augen, seltsam nahe und seltsam fern, wie eine fremdartige Anwesenheit aufzusteigen scheint. Ist also das Symbol die Lücke in einer Wand, die Bresche, durch welche unserem Empfinden jählings nahegebracht wird, was sich im übrigen allem, was wir empfinden und wissen, entzieht? Ist es ein Gitter, hinter dem sich das Unsichtbare verbirgt, eine Transparenz, die das Dunkel in seiner Dunkelheit ahnen lässt? Nein, so verhält es sich keineswegs. Und darum behält das Symbol für die Kunst einen so hohen Reiz. Wenn das Symbol eine Wand ist, so ist es nicht eine Wand, die sich auftut, sondern eine Wand, die nicht nur trüber wird, sondern derart dicht und gediegen, so mächtig und überragend in ihrer Wirklichkeit, dass sie auf uns selber veränderend einwirkt, dass sie für einen Augenblick den Umkreis unserer Perspektiven und unserer Haltungsgewohnheiten verändert, dass sie uns jedes gegenwärtige und jedes versteckte Wissen raubt, dass sie uns beweglicher macht und, indem sie uns aufstört und um und um kehrt, durch die neue Freiheit, die wir durch sie empfangen, der Gewärtigung eines anderen Raums aussetzt.
Es gibt dafür leider kein eindeutiges Beispiel. Denn sobald ein symbol in sich abgesondert, geschlossen und gebräuchlich wird, ist es im Wert gesunken. …
Es muss darum kurz gesagt werden: jedes Symbol ist eine erlebte Erfahrung, eine radikale Wandlung, die erlebt, ein Sprung, der vollzogen werden muss. Es gibt folglich kein Symbol, sondern es gibt nur ein Symbolerlebnis. Das Symbol wird niemals durch das Unsichtbare oder Unsagbare, worauf es hindeuten soll, vernichtet; es wird im Gegenteil durch seine Bewegung einer Wirklichkeit inne, die ihm normalerweise nie zugeschrieben worden ist; es wird also mehr Baum, je mehr es Kreuz wird, es gewinnt auf Grund dieser verborgen Wesensqualität grössere Sichtbarkeit, wird ausdrucksvoller und sprechender durch das Unausdrückbare, zu dem es uns auf Grund einer Augenblicksentscheidung aufsteigen lässt.
Versucht man, dieses Symbolerlebnis auf die Literatur zu übertragen, so stellt man nicht ohne Überraschung fest, dass es einzig und allein auf den Leser zutrifft, den es in seiner Haltung verändert. Nur für den Leser gibt es ein Symbol, der Leser ist es, der sich im Zug einer symbolischen Erkundung an das Buch gebunden fühlt, der Leser ist es, der sich angesichts der Fabel zu erlebnismässiger Bestätigung aufgeruften fühlt, und zwar mit einer Stärke, die über den begrenzten Rahmen, innerhalb dessen sie wirksam wird, unendlich weit hinausgeht, so dass er bei sich denkt: “Dies ist viel mehr als eine Geschichte, es ist die Vorahnung einer neuen Wahrheit, einer höheren Wirklichkeit, irgendetwas soll mir enthüllt werden, das dieser herrliche Autor mir zubestimmt, etwas, das er gesehen hat und mich sehen lassen will, unter der Bedingung freilich, dass ich mich nicht von dem unmittelbaren Sinn, von der bedrängenden Wirklichkeit seines Werkes blenden lasse.”So ist er drauf und dran, sich dem Werk mit einer leidenschaft zu vermählen, die manchmal bis zum Erleuchtung geht, die sich meistenfalls in subtilen Übertragungen erschöpft, sofern es ein spezialisierter Leser ist, der sich glücklich schätzt, wenn er sein Flämmchen in der Höhlung einer neuen Tiefe bergen kann….
Das jenseits des Werkes ist nur im Werk Wirklichkeit, ist nur die eigentliche Wirklichkeit des Werks.