Poëtische theologie – een pleidooi

BRON:

citaten uit:
R. Strunk, Poetische Theologie. Grundlagen Bausteine Perspektiven, Göttingen 2008 (Neukirchener Verlag)
„Warum hat sich eigentlich in der abendländischen Welt keine Theopoesie, nur Theologie entwickelt?“ Dorothee Sölle (Gegenwind)

„Poesie übertrumpft alles“ sagte er, „Sie setzt alle Regeln ausser Kraft.“ Pascal Mercier, (Nachtzug nach Lissabon)

„Die Welt wird nicht zu Ende erklärt. Das Leben auf der Erde tanzt über dem Abgrund des Vergehens und schöpft aus dem Brunnen unabsehbarer Möglichkeiten. Darum gibt es Poesie. Und darum gibt es Religion.“ R. Strunk p. 11
„Behält die Welt einen Horizont, und bewahrt das Leben seine Farben – ohne Poesie? Es könnte ja sein, dass Poesie die permanente Intervention übte gegen die Arroganz der Schlussworte, die sich mit Vorliebe wissenschaftlich gibt. Jener Schlussworte nämlich, die im Zeichen des q.e.d. ergehen: qua erat demonstrandum. Das Bewiesene ist das Fertige. Eine bewiesene Welt wäre eine fertige Welt; allerdings auch eine tote. Poesie steht unter anderen Zeichen des Einspruchs gegen alles Fertige und alle Fertigkeiten…Poesie atmet die Leidenschaft des Suchens sogar dort, wo die Einsicht Raum gewinnt, es konnte mit allem Suchen nach Sinn und nach Bedeutsamkeit auch ein Weg zur Verzweiflung beschritten werden.“ R. Strunk p.11-12
„Theologiam poeticam esse de Deo“ Petrarca (Strunk p. 15-16)
„Schon richtig, dass Abram die Eigenschaften Gottes mit Hilfe der eigenen Seelengrösse ausmachte – ohne diese hätte er sie nicht auszumachen und zu benennen gewusst, und sie waren im Dunkel geblieben. Darum blieb Gott aber doch ein gewaltig Ich sagendes Du ausser Abraham und ausser der Welt.(… ) Gleichwohl: Wenn wir jetzt, gegen die Annahme einer Gotterfindung gemäss Feuerbachs Reduktionspsychologie, die Entdeckung der Gotteswirklichkeit »ausser« Abraham betont haben, darf dies nicht das kontrare Moment eines »Hervordenkens« Gottes durch Abraham unterschlagen. Denn dies bekräftigt Thomas Mann ja nun ebenfalls, dass »Abram die Eigenschaften Gottes mit Hilfe der eigenen Seelengrösse ausmachte.« Ohne sie wäre alles, was Gott betrifft, »im Dunkel geblieben«. Das heisst: Der Anteil des Menschen Abraham am Vorgang der Gottentdeckung ist keineswegs gering zu veranschlagen. Es ist der Anteil seiner »Seelengrösse« (wobei eine wesensmässige Analogie zwischen Seele und Gott angenommen wird), die ihn in die Lage versetzt, den Höchsten » auszumachen und zu benennen«. Diese Aussage umschreibt aber zwei Akte im selben Prozess. Gott »auszumachen« ist der Akt von Entdeckung, end er ist alles andere als Widerfahrnis in einem Zustand vollkommenen Unbeteiligtseins. Entdeckung meint das Beleuchten von etwas, das abgesehen von solchem Beleuchten » im Dunkel« bliebe. Aber dieses, aus menschlichem Wahrnehmungsvermögen resultierende Beleuchten umfasst noch nicht das Ganze der Gottentdeckung. Das Ganze ereignet sich erst im Zweitakt von »ausmachen« und »benennen«. Und beides gehört zur Struktur des poetischen Verfahrens. Poesie vollzieht sich im Rhythmus von »ausmachen« und »benennen« oder, anders ausgedrückt: von »entdecken« und »gestalten«. Sie kann ohne das Moment von Imagination und »Erfindung« nicht sein. Aber das berechtigt keinesfalls zu der Schlussfolgerung, sie vermochte überhaupt nichts weiter als willkürliche Erfindung zu sein. (…)
Erfunden oder entdeckt: Es ist dekonstruktionistische Mode geworden, die bei Thomas Mann noch anzutreffende spannungsvolle Relation einseitig aufzulösen und nun alles zur „Erfindung“ zu machen.
Aber das Urteil, das da gefällt wird, ist ein Urteil von aussen. Es entzieht sich gerade jenem Vorgang, der unausweichlich wird, soll es überhaupt zu einer »Entdeckung« kommen: dem Vorgang existentiellen Einbezogenseins nämlich. Ich vermag keine Entdeckung zu machen, ohne in einen Prozess von Wahrnehmung und Erfahrung unmittelbar einbezogen zu werden. Im Entdecken – und erst recht im Entdecken einer Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes geschieht etwas mit mir. Das Entdecken bedeutet insofern auch ein Verwandelt werden. Das neu Entdeckte macht mich selber in gewissem Sinne neu: Grundwiderfahrnis allen Glaubens.
Beurteilung von aussen kommt dem nicht bei. Wer aussen bleibt und aus Gründen vernünftiger Distanzwahrung draussen bleiben will, hält sich freilich bei den Phänomenen auf, die er von aussen beobachten kann und kommentieren will. Er wird »Erfindung« nennen, was ihm als solche erscheint. Er wird das beobachtete Phänomen nach seinem Raster für Mögliches und Unmögliches überprüfen und entsprechend sein Urteil bilden. Er wird mit grosser Selbstverständlichkeit das dogmatische Raster für Mögliches und Unmögliches verwenden und nicht einmal das skeptische für Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches. Und es wird ihm die Selbstkritik fehlen einzuräumen, dass im Generalurteil »Erfindung« auch die problematische Hypertrophie des Erkenntnis-Subjekts zum Vorschein kommen dürfte. Jedenfalls setzt sich so das rationale Ich in eine Position, welche das Monopol zur Welterklärung für sich reklamiert. Dieses menschliche Ich wird zum Mass allerDinge und zum Ursprung aller geistigen Schöpfungen. Dieses Ich entdeckt nichts, es erfindet alles. “ R. Strunk p. 34-37
„Nicht das Poetische überhaupt bedurfte in Israel einer eigenen Legitimation. Es war ja, man denke bloss an die Psalmen, in täglichem Gebrauch. Aber die offenkundige Fiktion gelten zu lassen, die sich der Kraft einer poetischen Vorstellung und eines poetischen Ausdrucksverdankt und die sich die Freiheit nimmt, auch in den Raum der göttlichen Geheimnisse hineinzuschauen, das verlangte doch mehr als eine gewisse Vertrautheit mit Poesie. Es verlangte die Wahrnehmung der poetischen Fiktion als Fiktion. Und es verlangte die – bis heute keineswegs selbstverständliche – Fähigkeit, sich auf die Bedingungen der Fiktion einzulassen. Nur wer sich darauf einzulassen bereit und in der Lage ist, kann der Fiktion einen Sinn abgewinnen, auch wenn deren Inkongruenz mit erfahrbarer Wirklichkeit feststeht. Er vermag sogar zu ahnen und Zug um Zug besser zu begreifen, dass poetische Fiktion eben dazu dienen kann, einen Sinn freizulegen, der sich in der unmittelbaren Begegnung mit dem Alltäglichen keineswegs erschliesst.“ p. 41

„Fiktion holt als Möglichkeit ein, was aus der Wirklichkeit selbst nicht herausgelesen werden kann. Sie erweitert den Horizont des Erfahrbaren. Sie imaginiert einen besonderen Raum im Himmel, um von dessen Warte her ein besonderes Licht auf das menschliche Leidensgeschehen werfen zu können. Insofern präsentiert sich die Fiktion als Einladung zur Deutungshilfe. Und zwar zu einer Deutungshilfe, die nicht offen auf der Hand liegt, sondern im Verborgenen wartet. Sie erhebt nicht den Anspruch, eindeutig zu erklären und darzustellen, was ist und wie es so hat werden müssen. Aber sie spielt eine Möglichkeit durch, die geeignet erscheint, das Gesicht der vorgefundenen Wirklichkeit entscheidend zu verwandeln. Die fiktiven Szenen von der himmlischen Ratsversammlung stellen also die poetische Funktion des Fiktiven, ausserbiblisch und biblisch, in beispielhafter Weise heraus. Fiktion steht nicht einfach im Gegensatz zur Realität. Es gehört zu den Ergebnissen der neueren Fiktionalitätsdiskussion in Philosophie und Literaturwissenschaft, dass die frühere erkenntniskritische Grundoption, welche Fiktionalität an Realität zu messen pflegte, als überholt zu gelten hat. Sie unterstellte ja, dass das Reale an sich wahrzunehmen und zu klären und dass es umgekehrt dem Fiktiven eigentümlich sei, aus allen Räumen des Realen unbekümmert herauszuspringen. Ein Urteil darüber jedoch, was Realität eigentlich ausmacht, wird ohne fiktive Anteile gar nicht vollziehbar. Und es wird umgekehrt auch keine Fiktion möglich, die auf Erfahrungswerte aus der realen Welt verzichten könnte. Ihre poetische Funktion aber gewinnt das Fiktive in dem Augenblick, wo es mit seinen besonderen Bezug zum Realen absichtsvoll eingesetzt wird.
Dann nämlich erscheinen Fiktionen nicht als beliebige Vorstellungsfiguren, die sich allein in Opposition zur Realität befänden. Denn dadurch, dass sie in eine gezielte Spannung zum Realen eintreten, übernehmen sie eine heuristische Aufgabe. (…)
Aus dem Bestand einer Sprache, welche Wirklichkeit zu bezeichnen hat, können die Antworten nicht genommen werden. Darum braucht es neben der bezeichnenden eine verweisende Sprache. Bezeichnende Sprache hat die Aufgabe, zu erklären und zu bestimmen. Verweisende Sprache hat die Aufgabe, zu betrachten und zu deuten. Sie bewegt sich darum von Hause aus im Horizont des nicht eindeutig Gegebenen. Und sie unterläuft und transzendiert Feststellungen, welche unter Verwendung einer nur bezeichnenden Sprache über Gegenstände und Erscheinungen gemacht werden können.
Verweisende Sprache ist poetische Sprache. Sie ist Sprache mit zielgerichtetem Verweisungsbezug. Denn sie springt nicht willkürlich über erfahrene Realität hinaus, sondern überschreitet deren durchs reine Bezeichnen – abgesteckte Grenzen, um von jenseits dieser Grenzen nun gerade auf dieselbe Wirklichkeit zurückzukommen. In dieser Hinsicht wird poetische Sprache zum Medium von Fiktionen, die mehr sein sollen als beliebige Gestaltwerdungen des Imaginären. Menschliche Imagination kann sich ja ganz unabhängig von irgendwelchen Zwecken und Zielen entfalten. Sie kann das reine Spiel des Phantasievermögens aufführen. Aber dann bewirkt sie nichts im Blick auf die Realitäten und will dies auch gar nicht. Erst wo Imagination in der Weise an Wirklichkeit gebunden bleibt, dass sie diese nicht zu verlassen, sondern deutend zu verändern gestimmt ist, kommt ihr eine Funktion im poetischen Verstehens- und Darstellungszusammenhang zu. Sie kann so zum Treibstoff für die Ausbildung von Fiktionen werden, welche ihrerseits im Dienst eines eigenen Wahrnehmens und Deutens von Wirklichkeit stehen. “ P. 43-44

„Poesie, die sich dem Schrecklichen stellt, um den Schrecken zu ermässigen, gehört zum Urbestand menschlicher Weltdeutung im Mythos. Der Mythos ist eine Poesie erster Ordnung, in welcher der Mensch mit den Mitteln sprachlicher Imagination die Schrecken einer allseits bedrohlichen und unvertrauten Wirklichkeit zu mindern sucht. Auf dieser Grundannahme errichtet Hans Blumenberg seine weitläufige Theorie des Mythischen. Der Mythos deutet. Indem er poetisch deutet und den diffusen Schreckensmächten, denen der Mensch sich ausgesetzt sieht, Namen gibt und Geschichten zuschreibt, gewinnt er die Funktion akuter Schreckensminderung. Die Felder des Bedrohlichen werden überschaubar, die Akteure des Schrecklichen werden eingebunden in ein Netz von differenzierten Beziehungen und Zuständigkeiten, die den Horror menschlicher Ausgesetztheit verwandeln in eine begrenzte Furcht vor möglicher Gefahr. Der schreckliche Tod kann nicht aus der Welt genommen werden, aber er wird mit seinem Machtzentrum in die Unterwelt verwiesen.“ p. 47-48

„Instrumentell ist jedes Verhältnis zur Wirklichkeit, das von der Absicht geleitet wird, sie zu bearbeiten. Die Welt wird zum Raummenschlicher Aktivität, und der Mensch selbst versteht sich darin als homo faber, der etwas herstellt und unter Anwendung seines technischen Vermögens sich seine eigene Welt baut. Seinem instrumentellen Weltverhältnis entspricht eine instrumentelle Sprache, deren Leistung darin besteht, Wirklichkeit so zu begreifen, dass methodisch auf sie eingewirkt werden kann. Sprache wird brauchbar, und sie wird zum vorrangigen Gebrauchsmittel für die menschlichen initiativen der Weltbemächtigung.
Als poetisch darf den gegenüber ein Grundverhältnis zur Wirklichkeit gelten, das nicht auf aktive Bearbeitung, sondern auf passiven Empfang ausgerichtet ist. Poesie gewinnt ihre Sterke aus dem Betrachten, dem Lauschen, dem Empfinden, dem Berührtsein. Nicht was sie selber hervorbringt, sondern was sie wahr- und aufzunehmen imstande ist, begründet an erster Stelle ihre Bedeutung. Ihr Werk ist primär und im wesentlichen Resonanz. (…)
Wer sich generell durchs Handeln definiert und durch Erfolge seines Handelns bestätigt sieht, verlegt sich ganz darauf, aufs Wirkliche einzuwirken, und lässt darüber die Fähigkeit verkümmern, Wirkliches auf sich einwirken zu lassen. Der Mensch im Aktiv droht seine Existenz im Passiv zu verschleudern. Er wird tätig, ohne zu empfangen, lebt operativ und nicht resonant.
So ist der Mensch, erklärt HöIderlin. Und so wird ihm alles Göttliche fremd. Denn: »Göttliches trifft untheilnehmende nicht«. Unteilnehmend sind Menschen dort, wo sie das Empfangen verlernt haben, um sich desto ungebremster ihrem Leisten zu widmen. Sie werden so Menschen mit beschränktem Wahrnehmungsvermögen, und was von Göttlichem gegenwärtig wird, geht an ihnen vorbei.
Fulbert Steffensky hat vom Beten und Meditieren als »Stellen hoher Passivität« gesprochen. Spirituelles Erleben meint Leben im Zustand empfangen der Passivität. Es gründet in der Fähigkeit, »sich zu lassen, sich zu vergessen und sich selber nicht zu beabsichtigen«. Ausdrücklich legt Steffensky den Finger darauf, dass Spiritualität nicht gleichbedeutend mit Selbsterfahrung sei. Sie geht nicht etwa mit den Strategien einer Selbsterfahrung zusammen, die immer absichtsvoll geschieht, sondern mit der Kunst einer Selbstvergessenheit, die sich ganz dem öffnet, was ins Leben kommen und Leben bereichern will. Darum ist der Segen ein »Ort höchster Passivität«, »an dem wir werden, weil wir angesehen werden vom Blick der Güte.« »Der Gesegnete erlaubt sich den Sturz in das Versprechen der Geste und des Wortes.«Was Steffensky als kennzeichnend für die Beschaffenheit von Spiritualität erhebt, gilt aber genauso fürs Poetische. Empfangsbereite Passivität ermöglicht Spiritualität und Poesie in gleichem Mass und macht beide zu Geschwistern.
(…)
Man kann die Intention Hölderlins, die er an dieser Stelle seiner Elegie dem »Tragen« beimisst, in einer schönen Sentenz bei Franz Rosenzweig wiederfinden, die freilich noch pointierter den Passivcharakter im Tragen hervorkehrt: »Es gibt kein Stehen, nur ein Getragen werden«. Wo Hölderlin noch aktivisch redete, um eine besondere Art von Passivität geltend zu machen, formuliert Rosenzweig direkt passivisch. Alles Leben ist ein Getragen werden und nur zum Schein ein Stehen auf eigenem sicheren Grund. Dieses Passiv ist keineswegs am Tage. Es muss als verborgene Wahrheit überhaupt erst entdeckt werden. Wenn es jedoch entdeckt und bekannt wird, gewinnt es die Form eines Eingeständnisses, wonach menschliches Leben in dem gründet, was mehr als menschlich ist. Das Passiv wird in der Sache und auch im Sprachgebrauch zum Signal für eine Erfahrungswirklichkeit, die biblisch >Gnade< heisst.“ p. 62-65
„Indem Jesus Gleichnisse erzählt, vergegenwärtigt er die Gottesherrschaft. Das geschieht in drei, untereinander eng verbundenen Hinsichten. Denn erstens leitet das Gleichnis an zu einer neuen Wirklichkeits-Wahrnehmung. Zweitens lasst es auf dem Weg der poetischen Irritation eine unverhoffte Entdeckung zu. Und drittens erschliesst es Zukunfts-Möglichkeit.Wir wollen diese drei Aspekte am Beispiel des Gleichnisses von der aufwachsenden Saat (Mk 4,26-29) nachvollziehen.
Das Gleichnis setzt ein mit der Formel, die das Gottesreich mit einem bestimmten Geschehen vergleicht. Das ist auch beim Gleichnis vom Schatz im Acker (Mt 13,44) nicht anders, das um seinen Sinn gebracht würde, wollte man es nach der Einleitungsformel kappen. Die Aussage: »Das Reich der Himmel ist gleich einem im Acker verborgenen Schatz« ergebe in dieser Form eine blosse Satzmetapher, welche die
heterogener Begriffe »Reich der Himmel« sowie »verborgener Schatz« zusammenzwingt und dadurch eine nähere Zustandsbestimmung des Reichs der Himmel zu erreichen sucht. Aber im Gleichnis geht es nicht um einen Zustand und dessen Klärung, sondern um eine Geschehen und dessen Ablauf und Wirkung. Und deshalb ist das Gleichnis vom>Schatz im Acker< genauer besehen ein Gleichnis vom>Finden des Schatzes im Acker<, wie entsprechend das Gleichnis in Mk4,26f nicht eines von der >Saat<, sondern vom>Aufwachsen der Saat< ist.
Die im Gleichnis angesprochene Wirklichkeit ist zunächst wohlvertraut. Wie es zugeht bei der Aussaat, darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, jedenfalls in einer antiken Agrargesellschaft. Der poetische Charakter des Gleichnisses erweist sich hier den Realitäten verpflichtet, er springt nicht von vornherein hinüber ins Fiktive. Die »Textwelt«(P. Ricoeur)deckt sich an dieser Stelle mit der geläufigen Wahrnehmungswelt. Aber nicht lange. Denn sogleich gerät in den Gang der Wahrnehmung ein Moment von Störung. Es wind angezeigt durch die Bemerkung: »er weiss selbst nicht wie«. Der Landmann, der den Samen aussät, erscheint plötzlich wie einer, der nicht recht weiss, was er tut. Die vertraute Wirklichkeitswahrnehmung von Säen und Ernten wird also aufgerufen, um in ihrer Vertrautheit nun doch eine irritierenden Betrachtung unterzogen zu werden. Weiss der Landmann tatsächlich nicht, was er tut, wenn er nach erfolgter Aussaat das Wachstum sich selber überlässt?
Die Antwort und damit die erweiterte, neue Wahrnehmung nach der Irritation besagt: Gewiss weiss der Landmann, was er tut, indem er bei diesem Vorgang nun gerade nichts tut. Er lässt geschehen, was von sich aus so zu geschehen Macht hat. Denn er lässt -so die neue Wahrnehmung – die Erde von selbst (automáty) Frucht hervorbringen. Dieses Geschehen lassen ist seitens des Landmanns kein Ausdruck von Faulheit. Es wird vielmehr zu einem Ausdruck qualifizierter Passivität, welche imstande ist, geschehen zu lassen, was nicht Resultat eigener Anstrengungen sein kann. Solche äussere Passivität ist innerlich getragen von Vertrauen. Der Landmann vermag so auf die Ernte zu warten, ohne ungeduldig zu werden oder verzweifelt zum Lauf der Dinge selbst Hand anlegen zu wollen. Dies ist die Entdeckung, die das Gleichnis erschliesst. Nicht menschliche Sorge ist es, die der Saat zur Ernte verhilft, sondern das Vertrauen ist es, welches Zeit gewährt, weil nur im Vertrauen ein Mensch kommen lassen kann, was auf ihn zukommen will.
Das Reich Gottes, das auf ihn zukommen will, kommt aus eigener Kraft, insofern wahrhaftig automaty, und es kommt in dieser Kraft zugleich so, dass es beim Menschen eine – ihm sonst ganz und gar nicht zu Gesicht stehende – Haltung qualifizierter Passivität erzeugt. Nun kann der Mensch vertrauensvoll entgegennehmen, was von Gott her lebensbedeutsam auf ihn zukommt. Es ist die erwartete Ernte, die den Landmann instand setzt, Vertrauen zu haben und nicht Tage und Nächte in Sorge und Hektik zu vertun. Und es ist die kommende Gottesherrschaft, die den Hörer des Gleichnisses buchstäblich ins Vertrauen zieht. Derart ins Vertrauen gezogen, muss er nicht länger mit die Zukunft seines Lebens besorgt sein. Er kann, da die Saat ausgestreut ist,mit Grund auf die Ernte hoffen. Seine Existenz zwischen den Zeiten, nämlich zwischen Saatzeit und Erntezeit, wird zur Zeit im Advent. Sie ist damit auch die Zeit des messianischen Poeten selbst. Zeit dessen, der die Gottesherrschaft aktuell herbeibringt und jetzt schon vergegenwärtigt in seiner Person und in seinem Wort.
Im Gleichnis von Senfkorn (Mk 4,31f) verläuft der Weg von der Wirklichkeitswahrnehmung über die Irritation zur Entdeckung ähnlich. Auch dieses kurze Gleichnis setzt ein beim Vorgang der Saat, freilich nun bei der Saat eines winzigen Senfkorns, und zielt ab auf das unwahrscheinliche Mass seiner Wachstumsmöglichkeit. Der Akzent liegt hier also weniger auf der Selbstmächtigkeit des Wachstums als auf der unglaublichen Differenz zwischen dem winzigen Korn und dem gewaltigen Baum. Dass beides jedoch innigst zusammengehöre und bloss zwei Seiten derselben Sache, einmal zu deren Anfang, das andere Mal zu deren Vollendung, ausmache, ergibt das Moment von Irritation, das zu der Entdeckung überzuleiten vermag: Die kommende Gottesherrschaft verliert nicht dadurch ihre Glaubwürdigkeit, dass sie sich in denkbar kleinen und überaus bescheidener Anzeichen vermittelt. Was da als klein erscheinen mag, ist doch nur der Anfang eines Grossen. Im Kleinen – klein wie ein Senfkorn – wirkt bereits die ganze Macht der Gottesherrschaft und im unscheinbaren Anfang das göttliche Ziel. Das Gleichnis bestätigt so die Wahrnehmung, dass ein Senfkorn eine Winzigkeit darstellt. Und es verwandelt diese Wahrnehmung, indem es eine dieser Winzigkeit zugehörige unglaubliche Grösse ins Spiel bringt. Damit schafft es Vertrauen auf den Gang der Gottesherrschaft und ermöglicht im Gegenwärtigen, jenseits aller spektakulären Erscheinungen, den Richtungssinn der Hoffnung.
Diese Hoffnung aber setzt auf Möglichkeiten, die im gewohnten Kanon des Wirklichen nicht schon vorgezeichnet sind. Der Hoffnungsimpuls in den Gleichnissen Jesu nimmt nicht Abstand von der Wirklichkeit, aber er imaginiert für die Wirklichkeit, was mehr als wirklich zu sein beansprucht. Insofern können Gleichnisse durchaus als »implizit revolutionär« bezeichnet werden. Sie sind es, weil sie im Horizont einer in der Person und Geschichte Jesu nahen Gottesherrschaft eine Weltverwandlung ansagen. Und zwar eine Weltverwandlung, die im Augenblick bereits ihren Anfang nimmt. Sie tut es damit, dass sie den Hörer des Gleichnisses in einen Prozess von Verwandlung hineinnimmt, welcher nicht allein sein Denken und Verstehen, sondern seine ganze Existenz betrifft. Und das Gleichnis erzählt nicht nur von solchem Geschehen. Es ist und es bedeutet die sprachlich-poetische Verkörperung dieses Geschehens. Der Hörer kann, sobald er sich auf die Gleichniserzählung einlässt, nicht distanziertes Gegenüber bleiben. Er wird involviert oder er hat nichts verstanden. Und dass er involviert wird, geschieht ihm zum Heil. Die Poesie des Gleichnisses versetzt ihn ins Wahrnehmen und ins Staunen. Und sie versetzt ihn in eine gewandelte neue Wirklichkeit. Das ist Poesie und Provokation zugleich. Herausrufung aus einer Wirklichkeit, die bislang gegolten hat und vor allen ein Leben in der Sorge mit sich brachte. Und Einbeziehung in die Möglichkeit eines neuen Lebens des Vertrauens, das die Sorge unendlich hinter sich lässt.“ P. 126-129