Ernst Jüngel: Thesen

 

Thesen
1. Metaphorische Rede ist weder uneigentliche noch vieldeutige Sprache, sondern eine besondere Weise eigentlicher Rede und eine in besonderer Weise präzisierende Sprache.
2. Zur eigentlichen und präzisierenden Redeweise der Metapher gehört die Dimension der Anrede. Metaphern sprechen an und sollen ansprechen. Das unterscheidet sie von der definierenden Aussage, die nicht anreden, sondern ausschließlich feststellen will.
3. Als besondere Weise eigentlicher und präzisierender Rede hat die Metapher eine dem Definieren insofern vergleichbare Funktion, als sie etwas als etwas zur Sprache bringt – allerdings mit dem Unterschied, dass sie einen Sachverhalt mit Hilfe eines diesem gegenüber völlig neuen Sachverhaltes zur Sprache bringt und dadurch Sprachlich in Bewegung setzt, was die Definition feststellt. Die Metapher setzt Sprachlich frei, während die Definition Sprachlich begrenzt und festsetzt. Auf beide Weisen wird Seiendes Sprachlich präzisiert.
4. Metaphorische Rede präzisiert, indem sie mit der Dialektik von Vertrautheit und Verfremdung arbeitet. Sie verfremdet sowohl einen Sachverhalt als auch einen Sprachgebrauch, indem sie ein für die Bezeichnung des Sachverhaltes ungewöhnliches Wort und dieses in einer ungewöhnlichen Bedeutung verwendet. Zugleich geht sie aber davon aus, dass die Verfremdung als solche in die vertraute Welt eingeholt wird, so dass es zu einer Erweiterung der vertrauten Welt kommt.
5. Metaphern erweitern den Verstehenshorizont, indem sie die Fixiertheit auf das Wirkliche durch Mögliches aufheben und so das Sein von Seiendem intensivieren.
6. Metaphern sind Ereignisse unmittelbaren Lernens. Sie lehren, spielend zu lernen.
7. Metaphorisch ist nicht das Wort, das anders als üblich gebraucht wird, sondern die Prädikation mit Hilfe eines anders als üblich gebrauchten Wortes.
8. In einer metaphorischen Aussage wird ein als Prädikat fungierendes Wort so gebraucht, dass es seine übliche Bezogenheit auf einen durch es bezeichneten Sachverhalt (seine proprie-Bedeutung) für diesmal verliert, obwohl die verlorene Bedeutung vorausgesetzt wird. Man darf in dem Satz »Christus ist ein Weinstock« nicht den Weinstock im Weinberg meinen und muss doch an ihn denken. Das in einer metaphorischen Prädikation metaphorisch gebrauchte Wort wird – mit Luther geredet – zu einem »verneweten Wort«.
9. Die Destruktion der üblichen Bedeutung des in einer metaphorischen Prädikation gebrauchten Wortes geschieht zugunsten einer neuen Bedeutung dieses Wortes aufgrund einer für diesen Bedeutungswechsel sich vollziehenden Selektion eines Aspektes des Sinnes, der diesem Wort üblicherweise in einer Satzsinneinheit zukommt. Durch den Bedeutungswechsel kommt es innerhalb der metaphorischen Aussage zu einer hermeneutischen Spannung, von der das grammatische Subjekt profitiert: es wird in seinem Sein Präzisiert. .
10. Metaphorische Prädikationen setzen wegen der Verfremdung sowohl des Sachverhaltes, von dem eine metaphorische Aussage gemacht wird, als auch des Wortes, mit dem eine metaphorische Prädikation vollzogen wird, Vertrautheit sowohl mit diesem Sachverhalt als auch mit der ursprünglichen Bedeutung jenes Wortes voraus. Diese Vertrautheit muss, wenn sie nicht natürlicherweise da ist, durch Erzählung hergestellt werden. Metaphern erweitern und Präzisieren die erzählte Welt.
11. Metaphern sind Erinnerungen an die durchgängig metaphorische Struktur der menschlichen Sprache. Die menschliche Sprache ist durchgängig metaphorisch strukturiert, insofern durch sie der Mensch als Angesprochener ist und sich aufgrund seines immer schon Angesprochenseins von Seiendem (von dem, was der Fall ist) als Welt ansprechen lässt, um sich mit der ihn ansprechenden Welt in die Sprache zu übertragen und in dieser das eine auf das andere zu übertragen.
12. Die durchgängig metaphorische Struktur der Sprache verdankt sich der Wahrheit als Ereignis, in dem Welt schon immer in Sprache übertragen ist und deshalb Seiendes sich entdecken ist. Wahrheit als Sich-entdecken-Lassen von Seiendem geschieht, indem das Entdeckte mit dem schon Entdeckten in einen Zusammenhang gebracht wird, wobei es zum Entdeckenden in ein Gegenüber und mit der Entdeckung in Übereinstimmung gelangt.
12.1 Schon entdeckt ist auf jeden Fall auch der Entdeckende, insofern er sich als Angesprochener entdeckt hat (worden ist) und insofern er sich beim Entdecken als Entdeckender entdeckt.
12.2 Entdecken heißt: etwas als etwas wahr-nehmen. In der Sprache wird das Wahrgenommene als wahr genommen. Das Wesen der Wahrheit als Entdecken-Lassen und das entdeckende Wesen der Sprache zeichnen Wahrheit und Sprache als anschaulich aus. Wahrheit und Sprache sind konkret.
12.3 Die Übereinstimmung der Entdeckung mit dem Entdeckten im Sinne der adaequatio intellectus ad rem ist ontologisch nur möglich aufgrund des Zusammenhanges von Entdecktem und schon Entdecktem und aufgrund des Gegenübers von Entdeckendem und Entdecktem, also aufgrund des Ereignisses, in dem sich Seiendes entdecken ist.
12.4 Die Möglichkeit des Seienden, sich – als Welt – entdecken zu lassen, ist begründet in der Wendung des Seienden in die Sprache als einem Ereignis von Seinssteigerung. Wahr zu sein ist mehr, als zu sein.
13. Die metaphorische Struktur der Sprache, die sich der Wahrheit als Ereignis von Übertragung des Seienden in die Sprache verdankt, impliziert die Freiheit der Wortwahl als Freiheit des Sprechenden. Diese Freiheit der Sprache ist bedingt durch das Wechselspiel von Mensch und Welt, in welchem der Mensch sich kosmomorph und die Welt anthropomorph versteht. In diesem Wechselspiel von Mensch und Welt kommt die anschauliche (sinnliche) Kraft der Wahrheit als Entdecken lassen zur Wirkung.
14. Die Freiheit metaphorischer Sprache schließt das Verlangen nach einer diese Freiheit kontrollierenden begrifflichen Sprache, in der die Übereinstimmung der Entdeckung mit dem Entdeckten aussagbar wird, keineswegs aus.
15. Die Sprache des christlichen Glaubens ist – wie jede religiöse Sprache – durchweg metaphorisch. Das Verhältnis von Glaube und Religion entscheidet sich am Gebrauch der Metapher, nicht aber am metaphorischen Gebrauch von Wörtern.
16. Die Sprache des christlichen Glaubens teilt die Eigenart religiöser Rede, Wirkliches so auszusagen, dass ein Mehr an Sein zur Sprache kommt.
17. Dieser Seinsgewinn, der sich seinerseits an der Erfahrung von Wirklichkeit ausweisen lassen muss, Iässt sich nicht in einer Sprache aussagen, die Wirkliches abzubilden versucht, indem sie für es Begriffe substituiert. Gleichwohl wird eine solche BegriffsSprache zur Kontrolle verlangt.
18. Der vom christlichen Glauben behauptete Seinsgewinn, der primär als Rechtfertigung des Sünders zu verkündigen ist, ist zwar durch Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi als »wirkliches« Potential dieser Welt da, muss aber in einer Sprache zu Worte kommen, die diesen Gewinn für die Angesprochenen Ereignis werden Lasst.
19. Eine mehr als das Wirkliche zur Aussage bringende und gleichwohl das Wirkliche treffende Sprache ist in einem fundamentalen Sinne ansprechend. Die Sprache des Glaubens ist als aussagende Rede ansprechende Sprache. Ihr Aussage-Charakter und ihr Anrede-Charakter sind nur methodisch unterscheidbar. Ein Grundvorgang, der die Einheit von Anrede und Aussage vollzieht, ist das Erzählen. Ein anderer Grundvorgang dieser Art ist die kerygmatische Proklamation, ein anderer die Homologie.
20. Als Sprache, die einen Seinsgewinn Sprachlich Ereignis werden lässt, ist die religiöse Sprache metaphorisch. Als Rede von dem zur Welt kommenden und in Jesus Christus zur Welt gekommenen Gott ist die Sprache des christlichen Glaubens in besonderer Weise metaphorisch.
21. Die theologische Metapher hat in der Sprache des christlichen Glaubens ihre besondere Funktion darin, den Menschen so anzusprechen, dass er die Möglichkeit des Nichtseins als eine nicht nur allein durch Gott überwindbare, sondern als von Gott im Leben, Tod und Auferweckt werden Jesu Christi ein für allemal überwundene Möglichkeit mit dem Zusammenhang seiner Erfahrungen in Übereinstimmung bringen kann. Dabei kommt es zu einer Erfahrung mit der Erfahrung, die im Zusammenhang der gemachten Erfahrungen als Seinsgewinn glaubhaft werden muss.
22. Die besondere Schwierigkeit christlicher Rede von Gott entspring diesem Ereignis von Seinsgewinn, insofern zu reden ist von einem Gott, der nicht zum Sein der Welt gehört und gerade als solcher (im Zusammenhang des weltlich Seienden) zur Welt kommt. Es muss also von Gott so geredet werden, dass mit den Mitteln der Welt in der Welt genau der Raum für Gott gewonnen wird, den dieser beansprucht hat, als er in Jesus Christus zur Welt gekommen ist. Die Metapher vermag dieser Aufgabe strukturell zu genügen.
23. Indem Gott mit den Mitteln der Welt in der Welt dadurch Raum gewinnt, dass er zur Sprache kommt, erweitert sich der Horizont der Welt so, dass die Wirklichkeit der Welt (in ihren Problemen, Konflikten, Werten) schärfer erfasst wird. Die Sprache des Glaubens schärft den Wirklichkeitssinn, indem sie den Menschen auf mehr anspricht, als wirklich ist. Strukturell geschieht dies in metaphorischer Rede.
24. Dass der Seinsgewinn metaphorischer Rede von Gott eine solche Erweiterung des Horizontes der Welt wird, die Erneuerung der Welt genannt zu werden verdient, ist eine der theologischen Metapher nur aufgrund der erneuernden Kraft göttlichen Geistes mögliche Wirkung. Die hermeneutische Spitze theologischer Metaphern ist deshalb die Bitte um den Heiligen Geist, in der nunmehr Gott metaphorisch angesprochen wird.
25. Die Ausarbeitung einer theologischen Metaphorologie ist sowohl für die Dogmatik als auch für die Praktische Theologie ein dringendes Desiderat.

E. Jüngel, Entsprechungen: Gott-Wahrheit-Mensch. Theologische Erörterungen II, Tübingen 2002  (Mohr Siebeck) p. 153-157

 

 

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