»LIRE AUX ÉCLATS«

 

»LIRE AUX ÉCLATS« 
-Wie lässt sich diese »Unordnung«, dieses ständige Infragestellen in der Talmud mit der Idee eines einzigen Gottes vereinbaren?
– Diese Einstellung wirft meiner Meinung nach ein Licht auf das Denken der Juden und ihre Beziehung zu dem einzigen Gott. Sie ist ein direkter Ausdruck der Ablehnung jedweder Götzendienste. Sie lehnen vor allem alles ab, was die Bedeutung dieses einzigen Gottes festschreiben könnte. Daran lässt sich auch erkennen, wie eng die Verbindung des geschriebenen Gesetzes mit dem mündlich überlieferten Gesetz ist, d.h. mit dem Gesetz der Interpretation.
In der muslimischen Tradition bezeichnet man die Juden (und auch die Christen) als »Völker des Buches«. Aber diese Bezeichnung ist zu Recht zurückgewiesen worden. Nach der Auffassung des großen zeitgenössischen jüdischen Denkers Armand Abécassis ist das jüdische Volk nicht das »Volk des Buches«, sondern das »Volk der Interpretation des Buches«. Lesen ist die wesentliche Beschäftigung eines Juden. Diese Neigung zum Lesen und zur Interpretation, also zur Hermeneutik, wie man es wissenschaftlich ausdrückt, bedeutet, dass man sich für Gott verantwortlich fühlt und für die Tatsache, dass er lebt.
-Gott hängt also folglich van der Interpretation der Menschen ab?
-Ja, Gott kann nur dann als ewiges Wesen existieren, wenn die Menschen aus ihm durch ihre Interpretation ein lebendiges Wesen machen und sich nicht an einem starren Götzenbild orientieren. lm Talmud steht etwas sehr Wichtiges: »Worte der einen und der anderen, Worte des lebendigen Gottes. « Anders ausgedrückt, wenn es Worte der einen und Worte der anderen gibt, sind Gottes Worte also die eines lebendigen Gottes. Wenn man dagegen bei einem einzigen Wort bleibt, wenn man in die Falle geht und sagt: »Wir denken, dass Gott dieses ist, wir sagen, dass Gott jenes ist«, schaffen wir uns eine Ideologie von Gott, eine Theologie, die die eine Wahrheit ausdrückt, wie man sich Gott vorstellen muss und wie man über ihn redet. Auf diese Weise kommt man unweigerlich zum Tode Gottes. Wenn man versucht, ihn in einem einzigen verständlichen Gedanken zu fixieren, bedeutet das, dass man ihn tötet oder sterben lässt. Aufgabe des Talmud, also des mündlichen Gesetzes der Juden, ist es, das einzigartige Wort der biblischen Offenbarung zu erhellen, um die Unendlichkeit Gottes zu bewahren oder wiederherzustellen.
-Aber trotz dieser Bedeutungsvielfalt der Thora ist es für einen Juden nicht gleichgültig, ob er einen oder mehrere Götter hätte, nicht wahr?
-Ein Jude, ganz gleich, ob er gebildet ist oder nicht, hat keine Probleme mit der Frage nach der Einzigartigkeit Gottes: »Gott ist eins«, das ist das erste Glaubensbekenntnis aller Juden. Nicht der Gegensatz zwischen »einem Gott« und »vielen Götter« ist entscheidend, sondern der Gegensatz zwischen Gott und dem Gott, der aus Unachtsamkeit zu einem Götzenbild werden kann. Deshalb lege ich so großen Wert darauf dass die Juden die Thora lesen, die –um es noch einmal zu sagen -in jedem ihrer Buchstaben und Worte Gott ist. Der Talmud selbst stellt nicht eine bestimmte Interpretation der Bibel dar; sondern ist der Ort, an dem die Juden die Bibel interpretieren. Wenn ein Talmudgelehrter eine Deutung eines bestimmten Verses oder Bibelwortes vorschlägt, wird es sofort einen anderen Gelehrten geben, der eine entgegen gesetzte Meinung formuliert, und dann noch einen dritten, der wiederum eine andere Bedeutung in den Vordergrund rückt. Es gibt in diesem Zusammenhang keine endgültige Wahrheit, sondern lediglich eine oder mehrere Interpretationen, die im Widerspruch zueinander stehen können, sich berichtigen oder sich ergänzen. Der wahre Sinn liegt eben in dem Spannungsfeld zwischen den verschiedenen Bedeutungen, zugleich jedoch aber in der Überzeugung, dass es dort niemals etwas Endgültiges geben wird.
– Keine endgültige Wahrheit, keine »Glaubenssätze«, keine strengen Begriffsbestimmungen, dass es sich um Gott oder die Thora handelt?
-Nein, alle diese Ausdrücke verweisen auf etwas in sich Geschlossenes, auf etwas Unveränderliches. Wenn man ein Wort finden müsste, das am genauesten das zum Ausdruck bringt, was man unter den Kommentaren und der Interpretation versteht, könnte man sagen: »Öffnung«, Aufbrechen der Texte und der Worte. In meiner Sprache nenne ich das »lire aux éclats«, das ist ein Wortspiel, um zum  Ausdruck zu bringen, dass man die Wahrheit gewissermaßen »explodieren« lassen muss. Es geht darum, das Götzenbild von Gott zu töten, um dadurch den lebendigen und unendlichen Gott zum Leben zu erwecken. In diesem Sinne ist der Talmud tatsächlich ein Bilderstürmer: Er »tötet« alle existierenden Bilder von Gott.
Uit: Die schönsten Geschichten von Gott. Jean Bottéro, Marc-Alain Ouaknin, Joseph Moingt im Gespräch mit Hélène Monacré und Jean-Louis Schlegel, Verlag Bastei Lübbe, 2004 – deze passage is een deel uit het gesprek over het Jodendom met M.A. Ouaknin.