Zbigniew Herbert (3)

Herbert, Zbigniew, Gesammelte Gedichte, Berlin 2016 (Suhrkamp)


Stimme

Ich geh ans Meer
um die Stimme zu hören
zwischen einem Wellenschlag
und dem anderen

aber die Stimme fehlt
nur die greise Geschwätzigkeit des Wassers
das salzige Nichts ist da
der Flügel des weißen Vogels
festgetrocknet am Stein

ich geh in den Wald
wo das ununterbrochene Rauschen
der riesigen Sanduhr waltet
die Blätter in Schwarzerde
und Schwarzerde in Blätter schüttet
mächtige Insektenbacken
verdauen das Schweigen der Erde

ich geh ins Feld
grüne und gelbe Streifen
befestigt mit den Nadeln der Insektenleben
tönen bei jeder Berührung des Windes

wo ist die Stimme
sie müsste sich melden
wenn das unermüdliche Selbstgespräch der Erde
für eine Weile verstummt

nichts außer Geräuschen
Klatschen Explosionen

ich kehre nach Hause zurück
und die Erfahrung bekommt
die Form einer Alternative
entweder ist die Welt stumm
oder ich bin taub

aber vielleicht
sind wir beide
verstümmelt

wir müssen daher
untergehakt
vorwärts gehen
zu neuen Horizonten
zu den verkrampften Gurgeln
aus denen das unverständliche
Blubbern kommt


Niemals von dir


Niemals wag ich zu sprechen von dir
riesiger Himmel meines Stadtteils
oder von euch: Dächer Dämme gegen den Wasserfall der Luft
schöne flaumige Dächer Haar unserer Häuser
Auch euch verschweige ich Schornsteine Laboratorien der Trauer
vom Mond verlassen die Hälse reckend
und euch offen-verschlossene Fenster
die bersten wenn wir jenseits der Meere sterben

Ich beschreibe nicht einmal das Haus
das alle Fluchten und meine Heimkünfte kennt
obwohl es klein ist und mit geschlossenem Lid verharrt
nichts gibt den Geruch des grünen Türvorhangs wieder
oder das Knarren der Treppe über die ich die brennende Lampe trage
oder das Blatt überm Tor

Eigentlich wollt ich vom Griff an der Pforte des Hauses schreieben
von seinem rauhen Druck und freundlichen Knirschen
und weiß ich auch viel von ihm
so wiederhole ich nur die grausam alltägliche Wortlitanie
So viel Gefühl hat Platz zwischen zwei Herzschlägen
so viele Gegenstände kann man in beide Hände nehmen

Wundert euch nicht dass wir die Welt nicht beschreiben können
Wir nennen die Dinge nur zärtlich beim Namen


Lebenslauf

1

Er schrieb das erste Gedicht über die Rose
und wusch die künstliche im “Tränenregen
Gymnasium
Klasse 2 A

er schwor auf das einzige Herz
dass er die Schöne immer verteidigen
und sich nicht fürchten werde vor Gewalt
dass niemals niemals
immer immer

unter dem Pult der Bank
liegt dieser Junge
und drückt an die Brust
sein hilfloses Bekenntnis

auf dem Pult sein Name
ein Modell für das Volumen des Kegels

die Deklination von puer bonus
und das Wort Jadzia

2

der Hausmeister kam mit der großen Glocke gerannt
öffnete den Mund
und läutete Feueralarm
schnell wandten sich die Bilder ab

das weiße Gebäude wurde rot
und dann traten die Baume ins Bild
die hinter der Schule standen

auf den Hof
wo die Jungen spielten
liefen bewaffnete Männer
und es begann das Fangen
die denen es gelang
in den Wald zu laufen
spielten weiter
Räuber und Gendarm

3

der aus der 2A-
eigentlich war er
ein ganz anderer Junge

mit Devisen handelnd
ins Gesicht geschlagen
zur Hinrichtung geführt
auf dem Beton liegend
robbte er beharrlich
hinter der Schüssel her die randvoll war
mit Hunger nach Leben

wund bis auf die Knochen
und doch lebendig
als man ihn befreite
von der Scham
weinte er das zweite Mal

4

man muss ihn gerecht beurteilen
nur langsam stimmte er dem Leben zu

der reißende Strom der Ereignisse schwoll an
da stand er in der Ödnis und klagte

er suchte Andenken in den Ruinen
und betete die Namen Toter

die Dichtung ist die Tochter der Erinnerung
steht Wache für die Körper in der Wüste

das Murmeln der Gedichte ist so viel wert
wie Atem in ihnen ist von jenen

einsam sitzt er am Tisch
trommelt mit Fingern ruft die Leere

5

ein Wohlwollender setzte sich dazu
und sagt
man kann nicht zusehen wie du leidest

sogar das Schreiben wird immer schlechter
du wirst ausgesaugt
von den gierigen Mündern der Toten
auf einer Saite nur
spielst du die Klage einer Mücke
du wirst verstoßen
von den gierigen Händen der Lebenden

ich weiß
das Zustimmen fallt schwer
nicht alles ist
wie es sein sollte

doch richte trotzdem
die Schritte in die Zukunft
komm aus den Erinnerungen
heraus ins Land der Hoffnung

du hast versucht die Zeit zu übertönen
indem du dich an die Tote
n wandtest
versuch die Zeit zu übertönen
indem du dich an die Ungeborenen wendest

niemand will
dass du dich selbst betrügst
bleib bei deinem Thema
schreib über das was es nicht gibt

6

nachts liest der Dichter
Broschüren über Wirtschaft
nachts baut der Dichter
ein Paradies für seine Toten

es ist ein weißer Klotz
wie ein Stück Käse
in dem jeder sein Loch haben wird
fett still und warm

das Paradies wird fertig sein
wenn der Klassenkampf endet
und wenn wir vom Hektar
soundso viel bekommen

dann werden
eine Milliarde Glühbirnen leuchten
und durch die Lautsprecher Lieder ertönen

7

wieder schreibt der Dichter
ruft die Ungeborenen
ins Paradies der Zukunft

über den steinernen Abgrund
spannt er eine Brücke aus Stroh

und läuft über sie
leichtsinnig wie die Hoffnung

8

man hat dem Dichter den Tisch
im Stadtzentrum wiederaufgebaut

man hat das Café wiederaufgebaut
das Aquarium für die Künstler

jetzt ist er nicht mehr allein
da sitzen mit ihm ein junger Musiker
ein gewisser Bildhauer
ein rothaariger Kritiker
und zwei Mannequins

wie gut mit dem Volk zu gehen
denkt der Dichter
und baumelt unter dem Tisch mit den Füßen

manchmal diskutieren sie darüber
ob die Diktatur des Proletariats
echte Kunst nicht ausschließt

dann sehen sie einander an
und fangen arı zu lachen
dass sie sich nicht abgewöhnt haben
rhetorische Fragen zu stellen


Inschrift

Du schaust auf meine Hände
und sagst sie sind schwach wie Blumen

du schaust auf meinen Mund
zu klein um zu sagen: Welt

—schaukeln wir lieber auf dem Stengel der Augenblicke
trinken wir Wind
und sehen zu wie uns die Augen versinken
der Duft des Welkens ist der schönste
und die Gestalt der Ruinen betäubt

ich habe eine Flamme die denkt
und Wind für den Brand und die Segel

meine Hände sind ohne Geduld
ich kann
den Kopf eines Freundes
aus Luft formen

ich wiederhole ein Gedicht
das ich übersetzen möchte
in Sanskrit oder in eine Pyramide:

wenn die Quelle der Sterne verdorrt
werden wir den Nächten leuchten

wenn der Wind versteinert
werden wir die Luft erschüttern


Von der Rose

Für Tadeusz Chrzanowski

1

Süße trägt den Namen einer Blume —

Kuglige Gärten zittern
über der Erde hängend
ein Seufzer wendet den Kopf
das Gesicht des Windes am Zaun
unten betten sich Gräser
Zeit der Erwartung
die Ankunft wird die Düfte löschen
die Ankunft wird die Farben öffnen

die Bäume bauen eine Kuppel
aus grüner Ruhe
es ruft dich die Rose vermisst dich
ein zerrissener Schmetterling
Faden für Faden reißt
Augenblick für Augenblick vergeht
grüne Larve der Knospe
öffne

Süße trägt einen Namen: Rose

ein Ausbruch —
aus dem Innern treten die
Fähnriche des Purpurs
ungezählte Reihen
die Trompeter der Düfte
auf langen Schmetterlingstrompeten
rufen sie die Erfüllung aus

2

verworrene Krönungen
Klostergärten des Gebets
Bräuche voller Gold
brennende Kandelaber
dreifache Türme des Schweigens
Strahlen gebrochen an den Spitzen
der Grund —

o Quelle des Himmels auf Erden
o Konstellation der Blätter

*

frag nicht was die Rose ist Der Vogel wird vielleicht erzählen
der Duft tötet Gedanken Gesicht mit leichter Geste weggewischt
o Farbe des Begehrens
o Farbe weinender Lider
schwangere runde Süßigkeit
Rot bis ins Innere zerrissen

3

die Rose neigt den Kopf
als hätte sie Schultern
sie lehnt sich an den Wind
und der Wind geht allein

kann kein Wort sagen
kann kein Wort sagen

je mehr die Rose stirbt
desto schwerer über die Rose zu sprechen


Überlegungen zum Problem der Nation

Aus der Tatsache dass wir die gleichen Flüche
und ähnliche Liebesschwüre gebrauchen
werden zu dreiste Schlüsse gezogen
auch die gemeinsame Schullektüre
reicht als Prämisse nicht aus
um zu töten
ähnlich verhält es sich mit dem Land
(Weiden Sandweg Weizenacker Himmel plus Wolkengefieder)

ich möchte endlich erfahren
wo die Verblendung endet
und die reale Verbindung beginnt
ob wir infolge erlebter Geschichte
nicht seelisch verstümmelt wurden
und nun auf Fakten mit der Gesetzmäßigkeit von Hysterikern reagieren
sind wir denn immer noch ein barbarischer Stamm
zwischen den künstlichen Seen und den elektrischen Wäldern

offen gesagt ich weiß nicht
ich stelle nur fest
dass dieser Zusammenhang da ist
er zeigt sich im Erblassen
in der plötzlichen Röte
im Gebrüll und im Hochwerfen der Hände
und ich weiß wo das hinführen kann —
ın ein eilig gegrabenes Loch

also zum Schluss noch testamentarisch
damit man es wisse:
ich habe rebelliert
aber ich meine dass dieser blutige Knoten
der letzte sein sollte welchen
der sich Befreiende
zerreisst



Wir schlafen auf Wörtern ein
wir wachen in Wörtern auf

manchmal sind es sanfte
einfache Substantive
Wald oder Schiff

sie reißen sich von uns los
der Wald geht schnell
hinter die Linie des Horizonts

das Schiff fährt weg
spurlos grundlos

gefährlich sind Wörter
die aus dem Ganzen gefallen sind
Fetzen von Sätzen Sentenzen
der Anfang des Refrains
einer vergessenen Hymne

»erlöst werden die…«

»denk daran dass du …«
oder »wie«
eine feine stechende Nadel
die die schönste
verlorene Metapher
der Welt verbunden hat

man muss geduldig träumen
in der Hoffnung dass der Inhalt sich erfüllt
dass die fehlenden Wörter
in die verstümmelten Sätze einziehen
und die Gewissheit auf die wir warten
den Anker wirft


Herr Cogito überdenkt den Unterschied zwischen der Stimme des Menschen und der Stimme der Natur

Unermüdlich ist die Redekunst der Welten

ich könnte das alles von Anfang an wiederholen
mit einer Feder dem Erbstück von einer Gans und Homer
mit dem verkürzten Speer
mich stellen den Elementen

ich könnte das alles von Anfang an wiederholen
die Hand unterliegt dem Berg
die Gurgel ist schwächer als die Quelle
den Sand übertöne ich nicht
mein Speichel bindet keine Metapher
von Auge und Stern
und mit dem Ohr am Stein
entführe ich keine Stille
aus dem körnigen Schweigen

dabei habe ich doch so viele Worte versammelt in einer Linie
länger als alle Linien meiner Hand
und also länger als das Schicksal
in der gezielten Linie darüber hinaus
der Linie die aufblüht
einfach wie der Mut der endgültigen Linie
doch es war kaum eine Miniatur des Horizontes

und weiter rollen die Blitze der Blumen oratio der Gräser oratio der Wolken
Murmeln die Chöre der Bäume brennt gelassen der Fels
Der Ozean löscht den Westen der Tag verschlingt die Nacht und auf
dem pass der Winde
Ersteht neues Licht

Und der Morgennebel hebt das Schild der Insel


Herr Cogito sucht Rat

So viele Bücher Wörterbücher
bauchige Lexika
und niemand weiß Rat

man hat die Sonne erforscht
den Mond die Sterne
und mich verloren

meine Seele
verweigert den Trost
des Wissens

sie wandert daher nachts
auf den Straßen der Väter

und plötzlich
das Städtchen Braclaw
zwischen schwarzen Sonnenblumen

ein Ort den wir verließen
ein Ort der schreit

es ist Schabbes
wie immer am Schabbes
zeigt sich der Neue Himmel

-ich suche dich Rabbi

-er ist nicht hier sagen
die Chassidim
-sondern im Reiche Scheol

-schön war sein Tod
-sagen die Chassidim
-sehr schön
als wär er
aus einer Ecke
in die andre gegangen

ganz schwarz
in der Hand
die flammende Thora

-ich suche dich Rabbi

-hinter welchem Firmament
hast du dein kluges Ohr versteckt

-Rabbi mein Herz tut weh
-ich habe Sorgen

vielleicht könnte mir
Rabbi Nachman raten
aber wie soll ich ihn finden
in so viel Asche


Von der Höhe der Treppe

Natürlich
die auf der Treppe ganz oben stehen
die wissen
die wissen alles

doch anders wir
die wir die Plätze kehren
die Geiseln der besseren Zukunft
denen sich die von der Höhe der Treppe
-den Finger stets auf den Lippen –
nur selten zeigen

wir sind geduldig
unsre Frauen stopfen das Sonntagshemd
wir sprechen von Fleischrationen
vom Fußball vom Preis der Schuhe
samstags legen wir den Kopf zurück
und trinken

zu jenen gehören wir nicht
die die Fäuste ballen
die mit Ketten rasseln
reden und fragen
zum Aufstand ermuntern
fieberhaft
reden und fragen

und so klingt ihr Märchen —
wir stürzen uns auf die Treppe
und erobern sie im Sturm
über die Stufen rollen die Köpfe

derer die oben standen
dann endlich werden wir sehen
was von der Höhe zu sehen ist
welche Zukunft
welche Leere von

wir lechzen nicht nach dem Anblick
rollender Köpfe
wir wissen sie wachsen leicht nach
und immer bleibt auf der Höhe
einer oder auch drei
Und unten ist’s schwarz von Besen und Schaufeln

manchmal erträumen wir
dass die von der Höhe der Treppe
tief herabsteigen
also zu uns
wenn wir das Brot über der Zeitung kauen –
sie sagen

—und jetzt lasst uns reden
von Mensch zu Mensch
es ist nicht die Wahrheit was die Plakate schreien
die Wahrheit tragen wir in verkniffenen Mündern
grausam ist sie und viel zu schwer
wir schleppen sie darum allein
wir sind nicht glücklich
gerne blieben wir
hier

das sind natürlich Träume
sie können sich erfüllen
oder nicht erfüllen
also werden wir weiter
unser Viereck Erde
unser Viereck Stein
bebauen

mit leichtem Kopf
mit der Zigarette hinterm Ohr
und ohne einen Tropfen Hoffnung im Herzen


Totenklage

Zum Gedenken an die Mutter

Und nun hat sie über dem Kopf die braunen Wolken der Wurzeln
die schlanke Säule aus Salz auf den Schläfen die Perle des Sandes
und schwimmt auf dem Boden des Kahns durch schäumende Nebel

eine Meile von uns entfernt dort an der Biegung des Flusses
sichtbar — und unsichtbar wie Licht auf der Welle
wahrlich sie ist nicht anders — ist verlassen wie alle


An den Fluss

Fluss – Wasseruhr Metapher der Ewigkeit
immer wieder gleite ich in dich als ein andrer
so dass ich Fisch und Wolke oder Stein sein könnte
du aber bist unwandelbar wie eine Uhr
die Metamorphosen des Leibes messend und die Stürze des Geistes
den langsamen Zerfall der Zellen und der Liebe

ich den der Lehm gebar
möchte dein Schüler sein
und die Quelle erkennen das olympische Herz
du kühle Fackel rauschende Säule
du meines Glaubens und meiner Verzweiflung Fels

lehre mich Fluss Beharrlichkeit und Dauer
damit in letzter Stunde ich
die Rast im Schatten des großen Deltas verdiene
im heiligen Dreieck von Anfang und Ende


Wölfe

Für Marie Oberc

Weil sie nach Wolfsgesetzen lebten
hat die Geschichte sie verschwiegen |
von ihnen ist im weichen Schnee
nur gelber Harn geblieben und die Wolfsspur

noch schneller als der Schuss von hinten
traf die Verzweiflung ihren Sinn
sie tranken Schnaps und kauten Elend
so nahmen sie das Schicksal hin

»Der Dunkle« wird nicht Agronom
nicht Buchhalter »Der Morgen«
»Marusia« wird nicht Mutter sein
»Der Donner« auch nicht Dichter
der Schnee macht weiß ihr junges Haar

Elektra hat sie nicht beweint
Antigone sie nicht begraben
so werden sie in Ewigkeit
im tiefen Schnee ihr Ende haben

im weißen Forst vor Kälte schauern
vom Pulverschnee tief zugedeckt
uns kommt nicht zu sie zu bedauern
zu glätten ihr zerzaustes Fell

weil sie nach Wolfsgesetzen lebten
hat die Geschichte sie verschwiegen
im guten Schnee ist jetzt für immer
nur gelber Harn geblieben und diese Fährte


Lied

Dem Andenken an Zbigniew
»Bynio« Kuzmiak

Wieder Schneeregen — was webt er da
am großen Webstuhl des frühen Winters
eine Kette von Bauernwagen in Kiefernkisten
Gefallene fahrn wir ins Waldesdickicht

der Nebel sei ihr Totentuch
ihr Licht des Rauhreifs scharfe Funken
unser Gedächtnis hält die Wacht
und ewiges Dunkel für sie lodert

wieder Schneeregen und dunkler Wind
von öden Ebenen dürren Disteln
es füllt die Welt vermehrt die Welt
der Wind von Sternen und von Gletschern


Zärtlichkeit

Was Zärtlichkeit fang ich am Ende mit dir an
Zärtlichkeit zu den Vögeln den Menschen den Steinen
schlafen magst du im Augengrund in der Hand
dort ist dein Platz dort weckt dich keiner

Du verdirbst alles kehrst die Dinge um
machst aus der Tragödie einen Schundroman
der Ideen hochgemuten Höhenflug
verwandelst du in Stöhnen pathetische Membran

Beschreiben das heißt Töten das ist ja dein Amt
sitzen im Dunkel im leeren kühlen Raum
alleine sitzen während der Verstand ruhig raunt
im Marmorauge Nebel und Tropfen rinnen über das Gesicht


Aus einer ungeschriebenen Theorie der Träume

In Erinnerung an Jean Améry

1

Die Täter schlafen ruhig haben rosarote Träume
redliche Völkermörder denen das kurze menschliche Gedächtnis
schon vergeben hat — Fremde und Stammesangehörige
ein sanfter Wind wendet die Seiten der Familienalben
Fenster offen für den August Schatten des blühenden Apfelbaums
unter dem sich die ehrbare Sippe versammelt hat
Großvaters Fuhrwerk eine Fahrt in die Kirche
erste Kommunion erste Umarmung der Mutter
Lagerfeuer auf der Lichtung und gestirnter Himmel
ohne Zeichen und Geheimnis ohne Apokalypse
sie schlafen ruhig sie haben nahrhafte Träume
voller Speisen Getränke fetter Frauenkörper
mit ihnen Liebesspiele im Dickicht der Haine
und über alldem fließt die unvergessene Stimme
die Stimme rein wie die Quelle unschuldig wie das Echo
von dem Knaben der eine Rose sah auf der Heide

die Glocke der Erinnerung weckt nicht Gespenster oder Albe
die Glocke der Erinnerung wiederholt die große Vergebung

sie erwachen frühmorgens voller Willen zur Macht
rasieren sorgfältig ihre Kaufmannswangen
legen den Rest des Haars zum Lorbeerkranz
unter dem Wasser des Vergessens das alles abwäscht
seifen sie ihren Körper ein mit Seife der Marke Macbeth

2
Warum verweigert der Schlaf – Schutz aller Menschen
Seine Gnade den Opfern der Gewalt
warum bluten sie in der Nacht in ihren reinen Laken
und gehen in ihre Betten wie in eine Folterkammer
wie in die Todeszelle wie in den Schatten des Galgens
haben doch auch sie eine Mutter gehabt
Wald Lichtung Himmel blühenden Apfelbaum Rose gesehen
wer hat all dies aus den Winkeln der Seele vertrieben
auch sie haben Augenblicke des Glücks erlebt warum
weckt ihr Geheul in der Nacht unschuldige Mitbewohner
und sie brechen noch einmal auf zur wahnsinnigen Fluch
schlagen den Kopf gegen die Wand und können nicht mehr schlafen
stumpf auf die Uhr starrend die nichts ändert

die Glocke der Erinnerung wiederholt das grosse Entsetzen
die Glocke der Erinnerung schlägt unverändert Alarm

wahrlich es ist schwer zu gestehen die Täter haben gesiegt
die Opfer sind bezwungen für alle Ewigkeit des Lebens

also müssen sie sich selbst einigen mit dieser Strafe ohne Schuld
mit der Narbe der Scham dem Abdruck der Finger auf der Wange
mit dem schäbigen Willen zu überleben der Versuchung zu verzeihen

die Erzählung von er Hölle aber weckt zu Recht nu noch Abscheu

es gibt keinen Ort mehr um Klage einzureichen
unbegreifliche Urteile fällt das Tribunal der Träume


Antwort

Es wird eine Nacht in tiefem Schnee
sie hat die Kraft die Schritte zu dämpfen
im tiefen Schatten der verwandelt
die Körper — zwei Pfützen aus Dunkel
wir liegen und halten den Atem an
und selbst das leiseste Gedankenflüstern

wenn uns die Wölfe nicht aufspüren
oder der Mann im Pelz der auf der Brust
den Schnellfeuertod wiegt
müssen wir aufspringen und laufen
unter dem Klatschen kurzer Salven
ans andere ersehnte Ufer

die Erde ist überall dieselbe
und lehrt Weisheit der Mensch
weint weiße Tränen überall
Mütter wiegen Kinder
der Mond geht auf
baut uns ein weißes Haus

es wird eine Nacht nach hartem Wachen
die Konspiration der Phantasie schmeckt
nach Brot und hat die Leichtigkeit von Wodka
doch die Entscheidung hierzubleiben
bestätigt jeder Traum von Palmen

plötzlich unterbrechen den Traum drei
große Männer aus Gummi und Eisen
prüfen den Namen prüfen die Angst
befehlen die Treppe hinunterzugehen
und erlauben nicht etwas mitzunehmen
außer dem mitleidigen Gesicht des Wächters

hellenisch römisch mittelalterlich
indisch elisabethanisch italienisch
französisch wohl vor allem
ein wenig Weimar und Versailles
so viele Heimatländer schleppen wir
auf einem Rücken einer Erde

doch dieses eine das D
ganz streng die Einzahl hütet
ist hier wo sie dich in den Boden treten
oder mit dem überheblich lauten Spaten
ein großes Loch der Sehnsucht graben


Den Ungarn

Wir stehen an der Grenze
strecken die Hände aus
und drehen Brüder für euch
den großen Strick aus Luft

aus dem gebrochenen Schrei
aus den geballten Fäusten
gießt man Herz und Glocke
die zur Warnung schweigen

verwundete Steine flehen
getötetes Wasser fleht
wir stehen an der Grenze
wir stehen an der Grenze

wir stehen an der Grenze
sie wird Vernunft genannt
und blicken in den Brand
und bewundern den Tod

1956


Die Schachtel namens Phantasie

Klopf mit dem Finger an die Wand —
und aus dem Eichenklotz
springt
der Kuckuck

er weckt Bäume
einen und noch einen
bis der Wald
steht

ein dünner Pfiff —
und der Fluss läuft
ein starker Faden
der Berge und Täler verbindet

räuspere dich vielsagend —
hier ist die Stadt
mit einem Turm
der schartigen Mauer
und gelben Häusern
wie Spielwürfel

jetzt schließ die Augen
Schnee fällt
löscht
die grünen Flämmchen der Bäume
den roten Turm

unter dem Schnee
ist es Nacht

mit der leuchtenden Uhr an der Spitze
der Eule der Landschaft


Unsere Angst

unsere Angst
trägt kein Nachthemd
hat keine Eulenaugen
hebt keinen Deckel
löscht keine Kerze

sie hat auch kein Totengesicht

unsere Angst
ist ein in der Tasche gefundener
Zettel
»Wöjcik warnen
Lokum in der Langen Straße aufgeflogen«

unsere Angst
fliegt nicht auf Flügeln des Sturms
setzt sich auf keinen Kirchturm
sie ist konkret

sie hat die Form eines eilig
geschnürten Bündels
mit warmer Kleidung
kalter Verpflegung
und einer Waffe

unsere Angst
hat kein Totengesicht
die Toten sind milde zu uns

wir tragen sie huckepack
schlafen unter einer Decke

schließen ihnen die Augen
rücken den Mund zurecht
tasten nach trockenen Stellen
und vergraben sie

nicht zu tief
nicht zu flach


Saite

Vögel hinterlassen
im Nest ihre Schatten

lass dann die Lampe
das Instrument und das Buch

lass uns zum Hügel gehen
wo die Luft wächst

den abwesenden Stern
werde ich dir zeigen

tief unter dem Rasen
sind zärtliche Wurzeln

Quellen von Wölkchen
sprudeln rein

der Wind leiht den Mund
damit wir singen

wir runzeln die Stirn
und sagen kein Wort

die Wolken haben Aureolen
wie die Heiligen

wir haben schwarze
Kiesel statt Augen

eine Narbe vom Verlust
die gute Erinnerung heilt

vielleicht steigt Glanz herab
über den gebeugten Rücken

wahrlich wahrlich ich sage euch
groß ist der Abgrund
zwischen uns
und dem Licht


Nike wenn sie zögert

Am schönsten ist Nike
wenn sie zögert
die rechte Hand an die Luft gelehnt
herrlich wie ein Befehl
aber die Flügel zittern

sie sieht
den einsamen Jüngling
der langen Spur
des Kriegswagens folgen
dem grauen Weg in der grauen Landschaft
aus Felsen und kahlem Wacholder

bald wird er sterben
der Jüngling
schon senkt sich die Waagschale
seines Geschicks

Nike hat große Lust
sich ihm zu nähern
seine Stirn zu küssen

aber sie fürchtet
dass er der die Süße
der Liebkosung nie empfunden
wenn er sie kennenlernte
fliehen könnte wie die andern

während der Schlacht
also zögert Nike
und entschließt sich

in jener Haltung zu verharren
die ihr die Bildhauer beibrachten
beschämt ob des Augenblicks der Rührung

sie weiß
dass man im Morgengrauen
den Jungen finden muss
mit offener Brust
geschlossenenLidern
und mit dem herben Geschmack des Vaterlands
unter der steifen Zunge


Herbert, Zbigniew, Gesammelte Gedichte, Berlin 2016 (Suhrkamp)