Mechtild von Hackeborn, Das Buch vom strömenden Lob

Mechtild von Hackeborn, Das Buch vom strömenden Lob. Auswahl Übersetzung und Einführung von Hans Urs von Balthasar, Freiburg, im Breisgau 2011, (Herder), Pag. 37-53


RECHTFERTIGUNG UND HEILIGUNG

[15] Am Fest der Verkündigung Mariä, da die Jungfrau Christi im Gebet war und in der Bitterkeit ihrer Seele ihre Sunden betrachtete, sah sie sich angetan mit einem Aschengewand, und es fiel in ihr Gebet das Wort: »Gerechtigkeit ist der Gurt seiner Lenden« (Is 11, 5), und sie begann nachzudenken, was sie tun wurde, wenn der Herr, mit Gerechtigkeit gegürtet, in Majestät und göttlicher Macht erschiene, ihr, die so nachlässig gewesen war … Da erblickte sie den Herrn auf hohem Throne sitzend, und vor seinem wundersamen Anblick wurde die Asche zunichte, sie aber stand in seiner Gegenwart leuchtend wie Gold. Da begriff sie, dass alles Gute, was sie versäumt, durch den heiligen Wandel Christi und seine vollkommenen Werke nachgeholt sei, und all ihre Unvollkommenheit durch die allerhöchste Vollkommenheit des Sohnes Gottes vervollkommnet. Wenn also Gott mit dem Auge der Erbarmung eine Seele anblickt und sich über sie neigt, um ihr zu vergeben, dann werden alle ihre Vergehen ewigem Vergessen überantwortet. Da sie nun von Gott so hohe Gaben empfangen: aller Sunden Vergebung, alles Lohnes Ergänzung, schöpfte sie Sicherheit und Kühnheit daraus, bettete sich an die Brust ihres Geliebten, Jesus, und wechselte unsagbare Worte mit ihm. 

Und sie sah aus dem Herzen Gottes etwas ausgehen wie ein goldenes Brunnenrohr, durch welches sie den Herrn lobpries. Und sie bat den Herrn, er möge sich würdigen, sein eigener Lobpreis zu werden. Sogleich vernahm sie die holde Stimme des höchsten Sängers, Christi, die also anstimmte: »Lob sagt unserem Gott, ihr seine Heiligen alle!« (Ps 29, 5). Und da sie erstaunt war, wie Gott selber das singen konnte, wurde ihr beim Worte »Lob« van Gott her eingegeben, wie es geschehen mag, dass Gott sich in sich selber lobt mit vollkommenem Lob ohne Ende. Im Worte »sagt« erkannte sie, dass Gott aus seinem göttlichen Vermögen der Seele die Macht verleiht, alle Geschöpfe im Himmel und auf Erden zum Lobpreis ihres Schöpfers einzuladen. Im Worte »unserem Gott« aber verstand sie, dass der Sohn, sofern er Mensch ist, den Vater als Gott verehrt, wie er selber sagt: »Zu meinem Gott und zu eurem Gott« (Joh 20, 17). Im Worte »ihr seine Heiligen alle« ersah sie, dass alle Geheiligten im Himmel und auf Erden vom höchsten Heiligenden Christus geheiligt werden.

Sie sah auch die seligste Jungfrau zur Rechten ihres Sohnes ein goldenes Gürtelband, voll goldener Zymbeln hängend, durch alle Ordnungen der Engel und Chore der Heiligen schlingen. Jeder von ihnen rührte an die Zymbeln und gab einen wundersamen Klang und lobte Gott für alle Gaben und Gnaden, die er überschwenglich jener Seele verliehen hatte. Und die Seele lobte aus allen ihren Kräften Gott für das ihr Verliehene. Der Herr aber rief sie zu sich und legte seine Hände auf ihre Hände, und er gab ihr dadurch alle Arbeiten und Werke, die er in seiner heiligen Menschheit verrichtet hat. Dann legte er seine gütigsten Augen an ihre Augen, und er gab ihr dadurch, was er mit seinen heiligen Augen ausgeübt und auch die vielen Tranen, die er vergossen. Dann passte er seine Ohren den Ohren der Seele an und gab ihr, was immer er durch die Ohren ausgeübt. Dann drückte er seinen rosen-farbenen Mund dem Mund der Seele ein und übergab ihr die Ausübung des Lobes, der Danksagung, des Gebetes und der Verkündigung, als Ergänzung alles dessen, was sie versäumt. Zuletzt vereinigte er sein sanftes Herz mit dem Herzen der Seele und teilte ihr mit alle von ihm geübte Betrachtung, Andacht und Liebe, und er beschenkte sie reich mit allen Gütern. Dergestalt wurde die Seele als ganze Christus einverleibt und schmolz in der Gottesliebe wie Wachs vor dem Feuer, und ganz in Gott  eingenommen nahm sie wie das Wachs vom Siegel sein Gleichbild an.


AN DES MENSCHEN STATT

[16] An einem Freitag, während die Klostergemeinde kommunizierte, die Magd Christi aber krank im Bett lag und in Armut des Geistes aus innerstem Herzen tief zum Herrn aufseufzte, sah sie den Herrn eilends van seinem Thron aufstehen und sprechen: »Wegen dem Elend der Armen und dem Seufzen der Bedürftigen erhebe ich mich« (Ps 11, 6). Und während er aufstand, standen gleichzeitig auch alle Heiligen auf und brachten Gott zur Tröstung jener Seele allen Dienst dar, den sie Gott auf Erden erwiesen und alles, was sie gelitten hatten, zu ewigem Lob. Und darüber hinaus brachte Jesus der Herr auch all das Seine Gott dem Vater dar mit den Worten: »>Ich will es ihr zum Heile rechnen< (ebd.), nämlich in mir selbst und durch mich selbst will ich all ihr Begehren erfüllen«. So entrichtete er vollgültiges Lob an ihrer statt Gott dem Vater.

Sie verstand auch von Gott her, dass, sooft eine Seele in Geistesarmut zu Gott seufzt, in der Sehnsucht ihn zu loben oder eine Gnade zu erwerben, alle Heiligen sogleich sich erheben, Gott an statt der Seele allzumal loben oder ihr die Gnade erflehen. Wenn sie aber schmerzlich aufstöhnt ob ihrer Sunden, dann flehen sie für sie um Vergebung; und Christus lässt es nicht genug sein; er erhebt sich selber mit dem Wort: »Ich will es ihr zum Heil rechnen«, das heißt: durch mich selbst will ich ihr Begehr erfüllen, für sie Gott den Vater lobpreisen, oder was immer sie wünscht,  gnädig an ihrer statt ergänzen.

Danach sprach der Herr: »Wenn ein einziger Seufzer mit solchen Ehrerweisen aufgenommen wird, kann dann noch irgendeine Traurigkeit in der Seele des Armen zurückbleiben?«

Ein andermal, als sie wiederum in Sehnsucht nach dem Herrn zu ihm seufzte, sagte er zu ihr: »Was hast du jetzt wieder? Sieh, sooft du dich nach mir sehnst, ziehst du mich in dich. Denn ich habe mich mitteilsamer und leichter erreichbar gemacht als alle andern Dinge. Kein Ding ist ja so klein und gemein, nicht einmal ein Faden oder ein Strohhalm, dass man es durch den bloßen Willen erwerben kann; mich aber kann der Mensch durch den bloßen Willen oder einen einzigen Seufzer bekommen.«


INBEGRIFF DES LOBES

[17] Da ihr der Herr einmal im Gebet erschien, frag sie ihn, ob es wahr sei, dass er während seines Erdenlebens die kirchlichen Tagzeiten gebetet habe. Er antwortete ihr gnädig: »Ich hielt sie nicht nach eurer Weise durch Singen von Psalmen und Gebeten, doch habe ich täglich und stündlich Gott dem Vater das Lob dargebracht. Ich habe überhaupt alle Observanzen der Gläubigen – wie ich die Taufe als erster empfing – in mir selber für sie gehalten und erfüllt, indem ich so in mir alle Werke der an mich Glaubenden im voraus heiligte und aufrundete. Ich sprach ja zu meinem Vater: »Für sie heilige ich mich, auf dass sie heilig seien in mir« (Joh 17, 19). Und wie ihr eurerseits in den sieben Tagzeiten das Gedächtnis dessen feiert, was ich in den gleichen Stunden gelitten habe, so wusste ich in meiner Weisheit alles voraus, was ich leiden würde; nach dem Zeugnis des Evangelisten: »Jesus wusste alles, was über ihn kommen wurde« (Joh 18, 4).


DIE FLIESSENDE LAMPE

[18] Während einer Messe wurde sie durch verschiedene hindernde Gedanken des Verkostens Gottes beraubt. Sie bat die Mittlerin zwischen Gott und den Menschen, die Jungfrau Maria, ihr die Gegenwart ihres geliebten Sohnes zu erbitten. Auf ihre Fürbitte bin, so glauben wir, erblickte sie den König der Glorie, Jesus den Herrn, auf hohem kristallenem rein-durchsichtigem Thron, van dessen Vorderseite zwei wundersame lautere Bächlein, wonnigen Anblicks, ausgingen. Sie begriff, dass diese die Gnaden der Sündenvergebung und der geistlichen Tröstung seien, die beide bei jeder Messe auf Grund der göttlichen Vorsehung in besonderer Weise und leichter verliehen werden. Während der Opferung der geweihten Hostie nun stand der Herr vom Throne auf, und man konnte sehen, wie er sein heiliges Herz gleich einer hellleuchtenden, bis oben gefüllten und überströmenden Lampe hochhob. Diese Lampe floss nach allen Seiten und mit so drängender Gewalt über, dass große Tropfen vom strömenden Überfluss wiederaufspritzten, und dennoch ward die Fülle der Lampe in nichts vermindert. Darin ward zu erkennen gegeben, dass, wiewohl aus der Fülle des Herzens Christi allen übergenugsam Gnade gespendet wird, entsprechend eines jeglichen Fassungskraft, gleichwohl der Herr in sich selber die überreiche, allselige Fülle bleibt und niemals irgendwelchen Abbruch erleidet. Nun sah sie auch, wie die Herzen aller, die zugegen waren, ebenfalls als Lampen wie durch eine Schnur mit dem Herzen des Herrn verbunden waren, manche davon standen aufrecht und brannten voll andere waren leer und hingen umgestürzt nach unten. Sie verstand, dass die brennenden und aufgerichteten Lampen die Herzen derer bezeichneten, die mit Andacht und Sehnsucht der Messe beiwohnten, die umgestürzten aber die Herzen derer, die es versäumten, sich durch Andacht zu erheben.


SEINE LIEBE RUNDET AUF

[19] Einstmals, als sie sich ihrer Krankheit wegen unnütz vorkam und ihr Strafleiden für fruchtlos hielt, sagte der Herr zu ihr: »Lege alle deine Leiden in mein Herz hinüber, und ich will sie so ausgezeichnet aufrunden, als je eines Menschen Leiden hat erhoben werden können. Denn wie die Gottheit alle Leiden meiner Menschheit in sich hinüberzog und sich einte, so will ich alle deine Leiden gänzlich in meine Gottheit hinübernehmen, sie mit meiner Passion zusammen zu einer einzigen Sache machen, und dir teilgeben an der Verherrlichung, die Gott der Vater meiner verklärten Menschheit für alle meine Leiden zuteil werden ließ. Befiehl deine Schmerzen der Liebe und sprich: O Liebe, in der gleichen Gesinnung, mit der du mir das aus dem Herzen Gottes zugetragen hast, übergebe ich es dir, mit der Bitte, es in der höchsten Dankbarkeit zur letzten Vervollkommnung zu empfehlen.

Begehrst du mich zu loben und vermagst du es nicht in deinen Leiden, so bitte, dass ich mit dem Lob, womit ich am Kreuze Gott den Vater gelobt habe, und in der Dankbarkeit, mit der ich ihm danksagte für seinen Willen, dass ich zum Heil der Welt all dies erdulde, und in der Liebe, womit ich meine Leiden gern und willig litt, nun auch für dein Leiden lobe und benedeie. Wie mein Leiden in Himmel und Erde unendliche Frucht trug, so wird auch dein Schmerz oder jegliche Drangsal, die mir dergestalt anbefohlen wird, in Einigung mit meiner Passion so fruchtbar, dass sie allen Himmlischen Ehre, allen Gerechten auf Erden vermehrten Lohn, den Sündern Vergebung, den Seelen im Fegfeuer Erleichterung verschafft. Denn was vermochte mein göttliches Herz nicht in ein Besser es umzuwandeln? Alles Gute, das Himmel und Erde enthalten, fließt ja hervor aus der Gute meines Herzens.«


DER MANTEL DER NATUR

[20] Einmal erschien ihr der Herr während einer Messe, da man zur Opferung sang: »Herr Jesu Christe, König der Glorie. « Er stand zur Rechten des Altars, bekrönt und mit Krönungsornat angetan. Sie verwunderte sich und hatte gerne gewusst, was die Tauben und Adler und die Edelsteine in der Krone des Herrn bedeuteten. Der Herr entgegnete: »Die Demut aller, der Glaube aller, die Geduld aller, die Hoffnung aller: sie schimmern gleich edlen Steinen in meiner Krone.  Die Tauben und die Adler aber, die die Krone überragen, bezeichnen die Einfältigen und die Liebenden.« 

Während des Kanons aber sah sie eine Art goldenes Podium, das an den Altar anstieß. Der Herr stieg darauf und stand nun auf dem Altar. Er trug über seinem Mantel einen langen Pelz, der bis zu den Knien reichte. Als sie darüber staunte, wurde ihr gesagt, dies bedeute, dass alle Haare der Menschen, der Tiere und der Pflanzen durch die Menschheit Christi in der heiligsten Dreifaltigkeit schimmern, darum, weil der Sohn Gottes die Menschheit van der Erde her zu sich empor übernahm, denn aus der Erde stammt sie. Am Mantel aber schimmerten die menschlichen Seelen als ein wundersamer Schmuck. 

Der Herr stand auf dem Altar und deckte mit seinem Mantel den Priester, und die vom Priester konsekrierte Hostie ward in des Herrn Herz emporgenommen und in ihn verwandelt. Da fiel sie ihm zu Fußen und küsste seine Wunden; der Herr aber beugte sich liebend über sie und sprach: »Mein Verlangen beugt sich über euch mit allem, was in mir gut ist.«


VERWANDLUNG UNSERES UNWERTS

[21] Da sie einmal während der heiligen Messe müde war und einschlief, klagte sie trauernd ihre Nachlässigkeit dem Herrn. Der entgegnete ihr: »Wenn du nichts in dir fandest, was dir missfiele, wie wolltest du dann meine Güte dir gegenüber erkennen?« Da erinnerte sie sich eines Menschen, den sie in Traurigkeit wusste; und während sie für ihn betete,  um vom Herrn eine passende Antwort seinetwegen zu erhalten, sagte ihr der Herr unter vielen andern Worten auch dies: »Und warum will dieser Mensch nicht in Empfang nehmen, was ich ihm zu geben so bereit bin? Meinen ganzen mit Freuden, damit er denselben sich aneigne und aus dem Meinigen auffülle, was immer ihm abgeht. « Sie darauf: »Wenn es Dir so wohlgefällt, liebreichster Gott, dass der Mensch das Deine sich raubt, so sag mir bitte, wie er dies anstellen soll.« Er erwiderte: »Er soll seine Wunsche, seine Absichten und Gebete in Vereinigung mit meinen Wünschen und Gebeten Gott dem Vater darbringen, dann steigt es vor Gott in solcher Angenommenheit auf und wird so sehr eins, wie der einheitliche Rauch verschiedener zugleich entzündeter Spezereien unmittelbar zum Himmel dringt … Alles andere Gebet, wiewohl es zum Himmel aufsteigt, wird ohne diese Vereinigung mit meinem Gebet nicht so wohlgefällig von Gott in Empfang genommen. Und gleicherweise soll der Mensch alle seine Muhe und jede Arbeit in der Einigung mit meinen Mühen und Arbeiten verrichten. Dadurch werden seine Werke so geadelt, wie Kupfer mit Gold verschmolzen vom eigenen Unwert weg verwandelt wird in den Adel des Goldes. Und wie eine Handvoll Getreide zu einem großen Haufen Weizen hinzugeworfen vermehrt wird, so werden des Menschen Werke, die in sich selber ein Nichts sind, durch Einfügung in meine Werke gemehrt und in ein Besseres umgewandelt.«


ROSEN AUS DURREM HOLZ

[22] Da sie eine Zeitlang an schwerem Kopfweh litt, brachte sie einmal während dem Hochamt zur Zeit der Opferung ihre Schmerzen dar, gleichzeitig wie sie die heilige Hostie dem Herrn zu ewigem Lob darbot. Alsbald erschien ihr der Herr; er hielt in seinen zarten Händen einen Reifen dürren Holzes, an welchen er die schönsten Rosen knüpfte. Sie verwunderte sich sehr, was das wohl bedeute, dass der Herr um das dürre Holz so blühende Rosen binde. Da hörte sie, wie er sprach: » Sieh, wenn ich diesem abgestorbenen Holz frische Rosen einfüge, so entnimm daraus, wie nie eines Sünders Herz durch den Rost der Sünde so abstirbt, dass er nicht, wenn er einen Schmerz oder eine leibliche Krankheit, wie klein sie auch sein mag, in der Gesinnung erduldet, dass er aus Liebe und Lob meines Namens auch gern einen stärkeren Schmerz erlitte, falls dies mir gefiele – dass er nicht zur selben Stunde durch solche Gesinnung wieder aufgrünte und so des göttlichen Erbarmens teilhaft würde. 

Ich sage dir, kein Sünder ist so arg, dass, wenn er wahrhaft bereut, ich ihm nicht zur selben Stunde all seine Schuld vergebe und mein Herz mit so viel Huld und Milde über ihn neige, als hatte er nie gefehlt. « Sie sagte: »Wenn das so ist, liebster Gott, wie kommt es dann, dass der arme Mensch es gar nicht merkt?« Der Herr darauf: »Es kommt daher, dass er den Innern Geschmack der Sünde noch nicht ganz verloren hat. Wenn einer, der Bu6e getan hat, den Lastern so stark widerstünde, dass aller Geschmack und alle Lust an der Sünde ausgerottet würden, er würde zweifellos die Süße des göttlichen Geistes durch und durch  empfinden.«


WANDLUNG VERGEBLICHER TRÄNEN

[23] Eine Frau wurde gar viel beschwert, weil sie infolge einer gewissen Krankheit ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochte. Fünf Jahre beinah hatte sie so sehr geweint, dass, wenn Gottes Erbarmen ihr nicht beigestanden wäre, sie darob billig das Augenlicht und den Verstand verloren haben müsste. Und so bat sie sie (Mechthild) und andere, dafür zu beten, dass Gottes Güte sie von dieser Trübsal befreie. Mechthild aber tröstete sie in freundlichem Mitleid und betete noch achtsamer für sie vor dem Herrn, und so wurde jene nach kurzem befreit. Als sie den Herrn frug, wie es möglich sei, dass jene so rasch von ihrer Traurigkeit weg verwandelt wurde, erwiderte ihr der Herr: »Aus meiner reinen Güte habe ich sie erlöst.« Und er fügte bei: »Sag ihr aber in meinem Namen, sie möge mich bitten, dass ich aus meiner Güte heraus auch ihre früheren Tranen verwandle, als ob sie dieselben aus Liebe zu mir und aus Andacht und Reue über ihre Sünden vergossen hatte.« Als jene das vernahm, begann sie sich zu verwundern, wie so unnütz vergossene Tranen in so heilige mochten verwandelt werden. Da sprach der Herr: »Sie soll einzig an meine Güte glauben, und so viel sie mir glaubt, so viel werde ich in ihr ergänzen.« 


GOTT WIRKT IN UNSERER OHNMACHT

[24] Als sie einmal während der Krankheit die Kommunion empfing, sagte sie zum Herrn: »Ach, liebster Gott, wie hab ich dich jetzt in meine Seele gerufen, ohne zuvor gebetet oder etwas Gutes getan zu haben!« Der Herr antwortete ihr: »Mein Vater wirkt bis zur Stunde, und auch ich wirke« (Joh 5, 17). Mein Vater wirkt mit seiner Macht in dir ein Werk, zu dem du mit deinen Kräften nicht hinreichst, und ich wirke in meiner göttlichen Weisheit in dir ein Werk, das deine Fassungskraft übertrifft. Und der Heilige Geist wirkt in seiner unermesslichen Güte in dir ein Werk, das du noch nicht zu fühlen und zu schmecken vermagst.«


ERGÄNZUNG DURCH LOB

[25] Als sie für einen Bedrängten betete, sah sie ihn vor dem Herrn stehen. Und der Herr sprach: »Sieh, dem vergebe ich alle seine Sünden; er aber soll alle seine Schulden und Nachlässigkeiten durch Lobpreisen ergänzen. Wenn in der Präfation das Wort kommt: >Durch ihn loben die Engel deine Majestät<, dann lobe er mich vereint mit jenem  überhimmlischen Lob, wodurch die anbetungswürdige Dreieinigkeit sich gegenseitig lobt und gelobt wird, und das ausfließt  in die seligste Jungfrau und von da in alle Engel und Heiligen. Er bete ein >Vater unser< und bringe es dar vereint dem Lob, womit Himmel und Erde und alle Kreatur mich lobt und benedeit. Und er flehe darum, dass durch mich, Jesus Christus, Sohn Gottes, sein Gebet übernommen werde, weil durch mich alles, was Gott dem Vater dargebracht wird, zu höchstem Wohlgefallen emporsteigt. So werden alle seine Sünden und Nachlässigkeiten durch mich aufgerundet.«


LIEBER UMSONST

[26] Als sie einmal in bitteren Gedanken alle ihre Jahre überdachte, und wie saumselig sie gelebt und wieviel Gnade Gottes sie nutzlos vertan, auch dass sie, die Gott als Braut Zugeweihte, diesen Vorzug durch ihre Sunden befleckt, sprach der Herr zu ihr: »Wenn du die Wahl hättest, ob du alle Güter, die ich dir verliehen habe, durch Werke und Tugenden aus Eigenem dir verdient haben mochtest, oder ob ich sie dir alle umsonst geschenkt hatte: was wurdest du wählen?« Sie erwiderte: »Ach, mein Herr, die kleinste Gabe, die du mir umsonst gewährst, ist mir lieber, als wenn ich mir die Verdienste aller Heiligen mit den größten Tugenden und Arbeiten verdienen könnte.« Und der Herr: »Dafür sei in Ewigkeit gesegnet.«


LIEBER DIE LIEBE

[27] Ein andermal, da sie bitteren Herzens überdachte, wie viel von Gott geschenkte Zeit sie unnütz vertan und Gottes Gaben als Undankbare fruchtlos verzehrt, sprach die Liebe zu ihr: »Verwirre dich nicht. Ich werde alle deine Schulden wieder einholen und alle deine Versäumnisse aufrunden.« Aber obwohl ihr dieses Geschenk groß erschien, konnte sie dennoch dadurch nicht getröstet werden, ihr Schmerz über den Verlust so großer Güter war zu heftig, und darüber, dass sie Gott, den Verleiher so unzähliger Güter, nicht glühend genug geliebt habe, so untreu dem war, der ihr und in allem dauernd der Treueste ist. Da sagte ihr der Herr: »Wenn du mir vollkommen treu bist, dann soll es dir viel lieber sein, dass meine Liebe deine Saumnisse ergänzt, als dass du es selber tust, auf dass diese Liebe daraus Lob und Ehrung gewinne.«


GOTT MASSIGT SICH IN UNS

[28] Eines Tages war sie traurig, weil sie sich so überflüssig vorkam, da sie, durch Krankheit verhindert, ihrer Ordenspflicht nicht nachkommen konnte. Da vernahm sie, wie der Herr zu ihr sprach: »Wohlan, sei mir gut, damit ich die Glut meines göttlichen Herzens in dir kühle.« An diesem Wort begriff sie, dass jeder, der Schmerzen und innere Leiden, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit oder sonst eine Trübsal in Vereinigung mit der Liebe, womit Christus auf Erden viel Schmerzen und Beschwer und zuletzt einen schmachvollen Tod erlitt, willig und gern auf sich nimmt, darin einigermaßen die Glut des göttlichen Herzens mäßigt, das mit so unschätzbarer Sehnsucht das Heil des Menschen sucht. Und da es jetzt seine Leiden nicht mehr in sich selbst erdulden  kann, würdigt es sich, sie in seinen Liebhabern, die ihm in treuer Liebe anhangen, zu ergänzen.


ALS HABEST DU ALLE LIEBE

[29] Als sie ein Zeichen aufschrieb, dass sie kommunizieren wolle, sprach sie zum Herrn: »Schreibe, o mildester Herr, meinen Namen in dein Herz, und deinen süßen Namen durch kräftige Erinnerung in das meine. « Da sprach der Herr zu ihr: »Willst du kommunizieren, so empfange mich mit solcher Meinung, als habest du alle Sehnsucht und alle Liebe, die je in einem Menschenherzen brannte, und in dieser höchsten Liebe tritt zu mir heran. Ich aber will diese Liebe in dir entgegennehmen, nicht so, wie sie in dir ist, sondern als ob sie wahrhaft so groß wäre, wie du sie zu haben verlangst.«


DIE GNADE WEITERGEBEN

[30] Agnes, die selige Jungfrau, erschien an ihrem Fest der Magd Christi. Sie schien vom Altar mit einem goldenen, schon geschmückten Rauchfass herzukommen und inzensierte jede einzelne Schwester und erfüllte den ganzen Chor mit wohlriechendem Rauch … Und als bei der Matutin die lieblichen Worte der heiligen Agnes wiederholt worden, wurde jene, die dies sah, traurig und klagte zu Gott, dass sie, im Ordenskleid von Jugend auf, Christus doch nicht wie diese selige Jungfrau geliebt habe. Da sagte der Herr zur heiligen Agnes: »Gib ihr alles, was du hast.« Da begriff sie, dass Gott den Heiligen diese Wurde verleiht, alles was er in ihnen gewirkt hat und was sie für Christus erduldet haben, ihren Liebhabern und Verehrern, die Gott für sie loben und danksagen oder seine Gaben in ihnen lieben, schenken zu können. Und als Sankt Agnes es getan, wurde jene mit unaussprechlicher Freude erfüllt und bat die Königin des Himmels, am dieses Geschenkes willen ihren Sohn zu loben. Diese sagte zu ihr: »Bete mir ein Ave Maria.« Sie aber sprach, unter göttlicher Eingebung, dieses Lob: »Gegrüßt seist du, aus des Vaters Allmacht, gegrüßt aus des Sohnes Weisheit, gegrüßt aus des Heiligen Geistes Güte, liebliche Maria, die du Himmel und Erde hell werden lässt. Du bist voll der Gnade, und gießest sie in alle ein, die dich lieben. Der Herr ist mit dir, der Eingeborene des Vaters, der Einziggeborene deines jungfraulichen Herzens, dein schönster Freund und Bräutigam. Du bist gebenedeit unter den Weibern, die du Evas Fluch vertrieben und ewigen Segen erlangt hast. Benedeit ist die Frucht deines Leibes, der Herr und Schöpfer aller Dinge, der alles benedeit und heiligt, alles einigt und reich macht.« Da gab ihr die selige Jungfrau alles, was sie besaß, sogar ihre jungfräuliche Mutterschaft, dass sie aus Gnade eine geistliche Mutter werden durfte, so wie Maria aus Natur es war. 


GOTT FRUCHTEN

[31] Bin andermal, nach der heiligen Kommunion, sagte der Herr zu ihr: »Ich in dir und du in mir, in meiner Allmacht wie der Fisch im Wasser.« Und sie: »O mein Herr, Fische werden oft durch Netze aus dem Wasser gezogen; wie, wenn das auch mir zustoßt?« Darauf der Herr: »Du kannst aus mir nicht herausgezogen werden; sondern wirst in meinem göttlichen Herzen nisten.« Und sie: »Was wird mein Nest sein?« Der Herr erwiderte: »Demut angesichts jeder Gabe und Gnade, die ich dir verleihe: versenke dich immerdar im Abgrund wahrer Demut.« Und die Seele: »Fische fruchten im Wasser; was wird meine Frucht sein?« Der Herr zu ihr: »Wenn du mich dem himmlischen Vater anbietest zur Freude und Ehre aller Heiligen, dann wird ihre Freude und ihr Lohn so gemehrt, als ob sie mich leiblich auf Erden empfinden; und das ist deine Frucht.« Nun dachte die Seele nach, wie solches in den Patriarchen und Propheten sich verwirklichen mochte, da sie den Leib des Herrn auf Erden nicht empfangen hatten. Der Herr sprach: »Was die Apostel besaßen, das haben auch die Patriarchen und Propheten durch Glaube und Hoffnung bekommen, und so gehört es ihnen jetzt ebenso wahrhaftig wie den Aposteln.«


STROMEND IM HERZEN

[32] Während ihrer Krankheit kam die Fastenzeit; sie hatte beschlossen, im Geiste mit dem Herrn zusammen in der Wüste zu bleiben. Eines Nachts, da ihr deuchte, mit dem Herrn in der Wüste zu sein, frug sie ihn, wo er diese erste Nacht verbringen wolle. Der Herr zeigt ihr einen wunderschönen, aber hohlen Baum, der der Baum der Demut genannte wurde, und sprach: »Hier werde ich übernachten.« Mit diesen Worten trat er in den hohlen Baum ein. Da frug sie: »Und ich, wo soll ich bleiben?« Und der Herr: »Kannst du nicht in meinen Schoss fliegen und da ruhen, so wie die Vogel zu tun pflegen?« Und alsogleich sah sie sich selbst in Gestalt eines Vögleins, das in des Herrn Schoss flog und dort aufs ungestörteste ruhte. Sie sprach zum Herrn: »Mildester Herr, lege deinen Finger auf mein Haupt, damit ich so einschlafe. « Und der Herr: »Weißt du nicht, dass die kleinen Vogel, wenn sie schlafen wollen, den Kopf in die Federn stecken?« Sie aber: »Herr, was sind denn meine Federn?« Er erwiderte: »Deine Sehnsucht ist eine rote Feder, denn sie brennt immer; deine Liebe ist eine grüne Feder, denn sie grünt und wachst sich aus. Deine Hoffnung ist eine feuerfarbene Feder, denn unablässig begehrst da nach mir.«  Dann sah sie kleine Tropfen aus dem Herzen des Herrn träufeln, die sie mit ihrem Schnabel gierig auffing und woraus sie eine nie erfahrene und unaussprechliche Wonne gewann. 

In einer andern Nacht frug sie den Herrn abermals, wo er übernachten wolle. Er erwiderte: »Am Frug dieses einsamen Berges. « Er führte sie dahin, und sie sah dort den Born der Barmherzigkeit aus der Wurzel des Berges entspringen, und daneben stand eine silberne Schale. Er sagte zu ihr: »Aus diesem Born kredenze allen, so wie es dir selber gefällt. « Sie darauf: »Bitte, Herr, tu du es an meiner Stelle; ich bin ungeeignet zu diesem Werk, hinfällig und schwach wie ich bin.« Da traten statt ihrer die heiligen Engel herzu und kredenzten aus der Quelle: zuerst der glorreichen Jungfrau Maria zur Mehrung ihrer ganzen Seligkeit. Und während sie trank, gaben alle Tropfen in ihrem Mund einen so wundersamen lieblichen Laut, dass alle Bewohner des seligen Jerusalem in neuer Freude jubelten. Dann bekamen die Patriarchen, die Propheten, die Apostel, die Märtyrer, die Bekenner, die Jungfrauen, die Witwen, die Eheleute und alle Bürger des Himmels, und sämtliche tranken auf gleiche Weise, und die einzelnen Tropfen erklangen wie vorher bei der Jungfrau Maria zum Lobe Gottes.

Dann schenkten sie aus dem gleichen Born der Barmherzigkeit auch der streitenden Kirche aus: zuerst dem apostolischen Herrn, den Kardinalen, Erzbischöfen, Bischöfen und allen geistlichen Personen. Nachher den Kaisern, den Königen, den Fürsten und allen Richtern und Lenkern der Gläubigen, schließlich allen auf Erden Lebenden insgesamt. 

Dann schenkten die Engel, in Stellvertretung für die Braut Christi, auch den Seelen im Fegfeuer vom Quell der Barmherzigkeit aus. Alle tranken daraus, doch empfanden nicht alle jenen Laut und jene Süßigkeit wie die triumphierende Kirche. Schließlich bot der Herr selber in seiner Güte allen erwähnten Personen der streitenden wie der triumphierenden Kirche auf die Bitte seiner Dienerin hin aus seinem Herzen einen Nektartrank in einer kleinen Schale. 

In der folgenden Nacht wurde sie abermals im Geist zum erwähnten Quell der Erbarmung geführt und sah daraus einen gewaltigen Strahl der demütigen Dankbarkeit entspringen, und dieser Strahl ging durch das Herz Jesu Christi, am van da ganz lauter in den gleichen Quell zurückzuströmen. Das ist so zu verstehen: Da die Gaben Gottes gar verschieden sind und nicht alle Menschen die gleichen Gaben erhalten, und »die Gaben eingeteilt werden« (1 Kor 12, 4), soll jeder auf die ihm von Gott verliehenen Gaben sorgsam achthaben und sie mit Dankbarkeit zu Gott zurückließen, indem er sich alles Guten und des Daseins selbst unwert erachtet, und in seiner Erniedrigung immer sagen: »Ich bin geringer als alle deine Erbarmungen« (Gen 32, 10). Und er soll sich weiter kein Gut wünschen, es sei denn allein zum Lobe Gottes, und er soll die Gewissheit haben, dass alles ihm Zustoßende, Freudiges wie Leidiges, ihm von Gott aus übergroßer Liebe verliehen sei, und so mit Danksagung, geeint der Dankbarkeit Jesu Christi, wie durch sein heiliges Herz hindurch, alle Gottesgaben zu ihrem Ursprung zurückgiessen.


Mechtild von Hackeborn, Das Buch vom strömenden Lob. Auswahl Übersetzung und Einführung von Hans Urs von Balthasar, Freiburg, im Breisgau 2011, (Herder), Pag. 37-53