Zeichen – teken – semiotiek – semiose
R. Barthes, Das Reich der Zeichen (vertaling M. Bischoff)
Frankfurt am Main 1981 (Suhrkamp) p. 94-104
Der Einbruch des Sinns
Der Haiku hat jene etwas trügerische Eigenschaft, dass man stets meint, leicht selbst einige schreiben zu können. Man sagt sich: Was bietet sich mehr der spontanen Niederschrift an als dieser (von Buson stammende) Haiku:
Ein Abend im Herbst.
Ich denke nur
an meine Eltern.
Der Haiku macht Lust: Welcher westliche Leser hätte nicht davon geträumt, im Leben umher zu spazieren, ein Notizbuch in der Hand, und hier und da die »Impressionen« aufzuzeichnen, deren Kürze Vollkommenheit und deren Schlichtheit Tiefe garantierte (und dies dank eines zweifachen Mythos, eines klassischen, der treffende Kürze zum Beleg für Kunst erhebt, und eines der romantischen Tradition entstammenden, welcher der Improvisation einen Bonus auf Wahrheit zubilligt). Bei all seiner Klarheit will der Haiku doch nichts sagen, und gerade aufgrund dies er doppelten Voraussetzung scheint er offen für den Sinn zu sein, scheint er auf besondere Weise verfügbar und dienstbar, wie ein höflicher Gastgeber, der es Ihnen gestattet, sich mit Ihren Eigenheiten, Werten und Symbolen bei ihm niederzulassen. Die »Abwesenheit« des Haiku (von »Abwesenheit« spricht man bei einem wirklichkeitsfremden Menschen und bei einem Eigentümer, der verreist ist) gemahnt an Verführung, an Einbruch, mit einem Wort, an die höchste Gier, die Gier nach Sinn. Diesen Sinn, der so kostbar, so lebenswichtig und begehrenswert ist wie Glück und Geld, scheint uns der Haiku, der (zumindest in den Obersetzungen, die wir besitzen) frei von metrischen Zwängen ist, im Oberfluss, billig und ganz nach Bedarf zu bieten. Im Haiku, möchte man sagen, kosten Symbol, Metapher und Lehre beinahe nichts: ein paar Worte, ein Bild, ein Gefühl-wo unsere Literatur gewöhnlich ein Gedicht, eine Entwicklung oder (im kurzen Genre) einen gestochenen Gedanken, kurz: eine lange rhetorische Arbeit verlangt. Auch scheint der Haiku dem Westen Rechte zu geben, welche die westliche Literatur verweigert, und Waren, die auch diese verkauft. Sie haben das Recht, sagt der Haiku, belanglos, knapp und gewöhnlich zu sein. Fassen Sie, was Sie sehen, in einen engen Horizont von Worten und Sie werden interessant sein. Sie haben das Recht, selbst (von Ihnen selbst ausgehend) zu bestimmen, was beachtenswert ist. Gleich wie Ihr Satz beschaffen ist, er wird eine Lehre offenbaren, ein Symbol freisetzen; Sie werden tief sein; ohne große Kosten wird Ihre Schrift voll sein.
Der Westen tränkt alle Dinge mit Sinn, ganz in der Art einer autoritären Religion, die ganze Bevölkerungen unter die Taufe zwingt. Die Sprachobjekte (die durch Sprechen erzeugt werden) sind offenbar de jure Konvertiten: der erste Sinn der Sprache appelliert auf metonyme Weise an den zweit en Sinn der Rede, und dieser Appell hat den Wert einer universellen Verpflichtung. Zwei Mittel haben wir, um der Rede die Infamie des Unsinns zu ersparen, und wir unterwerfen die Äußerung systematisch (durch hastiges Zustopfen der Lücken, in denen die Leere unserer Sprache sichtbar werden könnte) der einen oder der anderen dieser beiden Signifikationen (d.h. aktiven Herstellung von Zeichen): Symbol und Schlug, Metapher und Syllogismus. Der Haiku, dessen Sätze stets einfach und flüssig sind -mit einem Wort, akzeptabel (wie man in der Linguistik sagt) -, wird einem dieser beiden Reiche des Sinns zugeordnet. Da er ein ),Gedicht« ist, ordnet man ihn jenem allgemeinen Code der Gefühle zu, den man als »poetische Empfindung« bezeichnet (Poesie meint für uns gewöhnlich »Diffuses«, “Unsagbares«, meint “Sinnliches«, die Poesie ist die Klasse der nicht klassifizierbaren Eindrücke). Man spricht von “konzentriertem Gefühl«, von der »wahrhaften Aufzeichnung eines ausgezeichneten Augenblicks« und vor allem von “Stille« (wobei die Stille für uns das Zeichen von Sprachfülle ist). Wenn der eine (loco) schreibt:
Wie viele Menschen
Sind schon im Herbstregen
Über die Setabrücke gegangen!
so erblickt man darin ein Bild für die Vergänglichkeit der Wenn der andere (Bashô) schreibt:
Ich komme über den Gebirgspfad.
Ah! Wie wunderbar!
Ein Veilchen!
so, weil er einem buddhistischen Eremiten mit Namen »Blume der Tugend« begegnet ist -und so weiter. Kein Zug, den der westliche Kommentar nicht mit Symbolen befrachtete. Oder man sucht mit aller Gewalt im Dreisatz des Haiku (den drei Versen zu fünf, sieben und fünf Silben) ein syllogistisches Muster mit drei Zeiten zu sehen (Aufstieg, Schwebezustand, Schluss):
Der alte Teich:
Ein Frosch springt hinein.
Oh! Das Geräusch des Wassers.
(in diesem besonderen Syllogismus erfolgt die Inklusion mit Gewalt: um darin enthalten zu sein, muJ3 der Untersatz in den Obersatz springen). Wenn man auf die Metapher oder den Symbolismus verzichtete, würde ein Kommentar natürlich unmöglich: über den Haiku sprechen hieJ3e dann schlicht und einfach ihn wiederholen. Und dies tut ganz unschuldig ein Kommentator Bashôs:
Schon vier Uhr …
Ich bin neunmal aufgestanden,
Um den Mond zu bewundern.
»Der Mond ist so schön«, sagt er, dass der Dichter wieder und wieder aufsteht, um ihn vom Fenster aus zu betrachten. « Gleich ob Dechiffrierung, Formalisierung oder Tautologie, die Wege der Interpretation, die bei uns dazu bestimmt sind, den Sinn Z’U durchdringen, d.h. in ihn einzubrechen und nicht, ihn zu erschüttern und ausfallen zu lassen wie den Zahn des AbsurditätenbeiJ3ers, welcher der Zen-Schüler angesichts seines Koan sein soll -, die Wege der Interpretation können den Haiku mithin nur verfehlen, denn die Lesearbeit, die mit ihm verbunden ist, liegt darin, die Sprache in der Schwebe zu halten, und nicht darin, sie zu provozieren: ein Unterfangen, dessen Schwierigkeit und Notwendigkeit gerade der Meister des Haiku, Bashô, wohl gekannt zu haben scheint:
Wie bewundernswert ist doch,
Wer nicht denkt: »Das Leben ist vergänglich«,
Wenn er einen Blitz sieht
Die Befreiung vom Sinn
Der ganze Zen kämpft gegen die Pflichtvergessenheit des Sinns. Bekanntlich durchkreuzt der Buddhismus den verhängnisvollen Selbstlauf jeder Behauptung (oder Negation), indem er empfiehlt, sich niemals in den folgenden vier Sätzen fangen zu lassen: Das ist A das ist nicht A das ist zugleich A und nicht-A –das ist weder A noch nicht-A. Diese vierfache Möglichkeit entspricht dem vollständigen Paradigma, das die strukturale Linguistik aufgestellt hat (A nicht-A weder A noch nicht-A [Nullzustand] -A und nicht-A [komplexer Zustand)); anders gesagt: der buddhistische Weg ist die Verhinderung des Sinns: die Arkana der Bedeutung, d.h. das Paradigma, wird unmöglich gemacht. Wenn der sechste Patriarch seine Instruktionen zum Mondo, einer Frage-Antwort-Übung, gibt, empfiehlt er, um das Funktionieren des Paradigmas so nachhaltig wie möglich zu stören, sich bei der Setzung eines Ausdrucks sogleich mit dessen Gegenteil zu beschäftigen (» Wenn jemand euch in der Frageübung nach dem Sein fragt, 50 antwortet mit dem Nichtsein. Wenn er euch nach dem Nichtsein fragt, so antwortet mit dem Sein. Wenn er euch nach den gewöhnlichen Menschen fragt, so sprecht ihm vom Weisen, und so weiter. «), um auf diese Weise die Lächerlichkeit des paradigmatischen Einrastens und den mechanischen Charakter des Sinns hervortreten zu lassen. Worauf hier abgezielt wird (durch eine geistige Technik, deren Präzision, Geduld, Verfeinerung und Wissen belegen, für wie schwierig das östliche Denken die Sinnverwirrung hält), worauf hier abgezielt wird, ist die Grundlage des Zeichens, d.h. die Klassifikation (Maya). An die Klassifikation par excellence, die der Sprache, gebunden, operiert der Haiku zumindest im Blick auf eine flache Sprache, in der es keine übereinander gelagerten Sinnschichten gibt (wie es in der westlichen Poesie ganz unvermeidlich ist), etwas, das man als »Blätterteig« aus Symbolen bezeichnen könnte. Wenn man uns sagt, das Geräusch eines Frosches habe in Bashô die Wahrheit des Zen geweckt, so kann man verstehen (obgleich auch dies noch eine allzu westlich Redeweise ist), das Bashô in diesem Geräusch zwar gewiss nicht das Motiv einer »Erleuchtung«, einer symbolischen Hyperästhesie entdeckt hat, wohl ab er ein Ende von Sprache: Es gibt einen Augenblick, da die Sprache endet (ein Augenblick, der mit größten Übungsanstrengungen erreicht wird), und dieser Schnitt ohne Echo liegt sowohl der Wahrheit des Zen als auch der knappen und leeren Form des Haiku zugrunde. Die Ablehnung einer »Entwicklung« ist hier radikal, denn es geht nicht darum, die Sprache in einer lastenden, vollen, tiefen und mystischen Stille anzuhalten oder auch in einer Leere der Seele, die sich der Kommunikation mit Gott öffnete (im Zen gibt es keinen Gott); was hier gesetzt wird, darf sich nicht entwickeln, weder in der Rede noch am Ende der Rede; was gesetzt wird, ist matt, und man kann nur eines damit tun: es wiederholen. Einem Schüler, der an einem Koan (einer Anekdote, die der
Meister ihm vorstellt) arbeitet, wird geraten: ihn nicht zu lösen, als hätte er einen Sinn, auch nicht, seine Absurdität zu erkennen (die auch noch ein Sinn wäre), sondern ihn zu kauen, »bis der Zahn ausfällt«. Der ganze Zen und der Haiku ist nur dessen literarischer Zweig -erscheint so als ein gewaltiges Verfahren, das dazu bestimmt ist, die Sprache anzuhalten, jene Art innerer Radiophonie zu brechen, die unablässig in unserem Inneren sendet, und dies noch bis in den Schlaf hinein (vielleicht hindert man die übenden deshalb am Schlafen), um das unbezwingliche Geplapper der Seele zu leeren, auszutrocknen und in Sprachlosigkeit zu versetzen. Und vielleicht ist das, was im Zen Satori genannt wird und das sich im festen nur durch Ausdrücke mit vage christlicher Konnotation übersetzen lä6t (Erleuchtung, Offenbarung, Schau), nur ein panischer Schwebezustand der Sprache, die Leerstelle, die in uns die Herrschaft des Codes auslöscht, der Bruch in unserem inneren Monolog, der für unsere Person konstitutiv ist. Und wenn dies er sprachfreie Zustand eine Befreiung ist, so weil das Wuchern des sekundären Denkens (das Denken über das Denken) oder, wenn man es vorzieht, die endlose Ergänzung der überzähligen Signifikate ein Kreis, dessen Träger und Modell die Sprache selbst ist -dem buddhistischen Denken als Blockierung erscheint: In Wirklichkeit ist es die Aufhebung des sekundären Denkens, die den unendlichen Zirkel der Sprache bricht. Bei all diesen Erfahrungen handelt es sich nicht darum, 50 scheint es, die Sprache unter der mystischen Stille des Unsagbaren zu erdrücken, sondern darum, sie zu zügeln, jenen sprachlichen Kreisel anzuhalten, der in seiner Drehung das zwanghafte Spie! des Symbolersatzes fortführt. Letztlich ist das Symbol als semantische Operation das Ziel dieses Angriffes.
Im Haiku ist die Beschränkung der Sprache Gegenstand einer Anstrengung, die uns unbegreiflich ist, denn es geht nicht um konzisen Ausdruck (d.h. darum, den Signifikanten möglichst knapp zu fassen, ohne die Dichte des Signifikats zu verringern), sondern im Gegenteil darum, auf die Wurzel des Sinns einzuwirken, um zu erreichen, da6 der Sinn sich nicht erhebt, sich nicht verinnerlicht, sich nicht einschlich, nicht ablöst, sich nicht ins Unendliche der Metaphern, in die Sphären des Symbols verliert. Die Kürze des Haiku ist nicht formaler Natur; der Haiku ist kein reicher Gedanke, der auf eine kurze Form gebracht wäre, sondern ein kurzes Ereignis, das in einem Zuge seine richtige Form findet. Die Zügelung der Sprache ist das, wozu der westliche Mensch am wenigsten geeignet ist, und zwar nicht, weil er sich zu lang oder zu kurz fasste, sondern weil seine ganze Rhetorik ihn zwingt, Signifikant und Signifikat in ein disproportionales Verhältnis zu bringen, sei es, indem er das Signifikat in der schwatzhaften Flut des Signifikanten »verdünnt«, sei es, indem er die Form in Richtung auf implizite Regionen des Inhalts »vertieft«. Die Richtigkeit des Haiku (der keineswegs ein exaktes Gemälde der Wirklichkeit ist, sondern die Angleichung von Signifikant und Signifikat, die Unterdrückung der Ränder, Nähte und Zwischenräume, die in der Regel über die semantische Beziehung hinausgehen oder sie erhellen),
diese Richtigkeit hat offensichtlich etwas Musikalisches (eine Musik des Sinns und nicht der Töne): Der Haiku hat die Reinheit, die Sphärenhaftigkeit und die Leere einer Note; und vielleicht ist das auch der Grund, weshalb er zweimal gesagt wird, wie mit einem Echo versehen. Diese ausgesuchten W orte nur einmal sprechen hieße der Überraschung, der Pointe, der Plötzlichkeit seiner Perfektion einen Sinn beilegen; ihn mehrmals sprechen hieße Befördern, dass der Sinn zu entdecken sei, hieße Tiefe simulieren. Zwischen beiden Möglichkeiten zieht das Echo, das weder Besonderheit noch Tiefe beansprucht, lediglich einen Strich unter die Nichtigkeit des Sinns.