Dan Pagis, An beiden Ufern der Zeit. Ausgewählte Gedichte und Prosa. Hebräisch-Deutsch. Aus dem Hebräischen und mit einem Nachwort versehen von Anne Birkenhauer, Straelen/Niederrhein 2003, (Straelener Manuskripte Verlag)
Autobiographie
Ich starb am ersten Schlag und wurde begraben
auf dem felsigen Feld.
Der Rabe wies meine Eltern an,
was mit mir zu tun sei.
Meine Familie ist angesehen, nicht zuletzt um meinetwillen.
Mein Bruder erfand das Töten,
meine Eltern das Weinen,
ich das Schweigen.
Dann geschahen die Dinge, an die sich alle erinnern.
Unsre Erfindungen wurden verbessert. Eins führte zum andern.
Befehle wurden gegeben. Manche mordeten auf ihre Art,
weinten auf ihre Art.
Ich nenne hier keine Namen
aus Rücksicht auf den Leser,
denn zuerst schockieren die Details vielleicht,
doch letzten Endes ermüden sie.
Du kannst einmal sterben, zweimal, sogar siebenmal,
aber du kannst nicht zigtausendmal sterben.
Ich kann.
Meine Untergrund-Zellen reichen überall hin.
Als Kain begann, sich auf der Erde zu verbreiten,
begann ich, mich im Bauch der Erde auszubreiten,
und schon lange bin ich stärker als er.
Seine Heerscharen desertieren und schliessen sich mir an,
doch selbst das ist nur eine schwache Rache.

Brüder
1
Abel war lauter und wollig,
gleichsam bescheiden
wie das kleinste der jungen Zicklein,
geringelt wie der Rauch des Opfers, das er brachte
als Wohlgeruch seinem Herrn.
Kain war gerade wie ein Messer.
2
Kain staunt. Seine grosse Hand tastet
in den durchschnittenen Hals vor ihm.
Woher klafft die Stille?
3
Abel blieb auf dem Feld. Kain blieb Kain. Und verurteilt, ewig zu wandern, wandert er mit Ausdauer. Jeden Morgen neue Horizonte. Eines Morgens entdeckt er: Die Erde hat ihn all die Jahre genarrt. Sie bewegte sich, während er, Kain, auf der Stelle trat. Trat, lief, rannte nur auf einem einzigen Fleck Erde, gerad so grosss wie die Sohlen seiner Sandalen.
4
An einem Abend der Gnade findet er
einen Haufen gutes Heu.
Er sinkt hinein, wird verschluckt, ruht aus.
Pssst, Kain schläft.
Glücklich träumt er, dass er Abel ist.
5
Fürchte dich nicht, fürchte dich nicht.
Es ist beschlossen, wenn einer aufsteht, dich zu töten,
wird’s siebenfach gerächt.
Abel, dein Bruder, behütet dich vor allem Bösen.
Ein Leben
Im Monat ihres Todes steht sie am Fenster,
eine Junge Frau mit Dauerwellen, elegant.
Auf dem braunen Foto
denkt sie nach und schaut nach draussen.
Von draussen schaut eine Nachmittagswolke sie an,
aus dem Jahr vierunddreissig, verschwommen zwar, out of focus,
aber ihr immer treu. Von drinnen
schau ich sie an, fast vier Jahre alt,
halte meinen Ball fest,
gehe langsam aus dem Foto und werde alt,
werde vorsichtig alt, ganz leise,
um sie nicht zu erschrecken.
Im Winkel meines Zwielichts
Im Winkel meines grossen Zwielichts gegen Abend
drücken sich meine Teddybären an die Wand.
Auf dem geschnitzten Tisch hockt die Angst,
die Beine in der Luft,
flüstert der schwere Vorhang und streift
über die Schultern des lebenden Zimmers.
Streckt mir eure Hände entgegen, lag t mich nicht allein
im dunklen Schrank, meine Prinzen !
Zeugenaussage
Nein nein. Es waren bestimmt
Menschen. Die Uniformen, die Stiefel.
Wie soll ich das erklären. Sie waren Geschöpfe ihm zum Bilde.
Ich war ein Schatten.
Ich hatte einen anderen Schöpfer
Und der liess mir in seiner Gnade nichts mehr, was noch sterben konnte.
Ich flüchtete mich zu ihm, schwerelos aufwärts, blau,
versöhnt, sagen wir, Vergebung erbittend:
Rauch zum allmächtigen Rauch,
ohne Körper und ohne Gestalt.
Der Appell
Er steht, stampft mit den Stiefeln,
reibt sich die Hände: Er friert im Morgenwind,
ein fleissiger Engel, hat hart gearbeitet und wurde befördert.
Plötzlich glaubt er, er habe sich vertan: Ganz Auge
zählt er nochmal in der aufgeschlagenen Liste
die Körper, die für ihn im Karree warten.
Lager im Herzen des Lagers. Nur ich
bin nicht. Bin nicht, ich bin ein Fehler,
verlösche schnell die Augen, wisch meinen Schatten weg.
Ich werde nicht fehlen, hitte. Die Rechnung wird aufgehn
ohne mich. Hier für immer.
Anweisungen zur Flucht über die Grenze
Erfundener Mensch, fahr los. Hier ist der Pass.
Du darfst dich auf keinen Fall erinnern.
Du musst den Angaben entsprechen:
Deine Augen sind schon blau.
Flieh nicht mit den anderen Funken durch
den Schornstein der Lokomotive.
Du bist ein Mensch, sitzt im Waggon – setz dich bequem hin,
der Mantel ist doch anständig, der Körper in Ordnung,
der neue Name bereit in deiner Kehle.
Fahr los. Fahr los. Du darfst auf keinen Fall vergessen.

Mit Bleistift geschrieben im verplombten Waggon
hier in diesem Transport
bin ich Eva
mit Abel meinem Sohn
wenn ihr meinen grossen Sohn seht
Kain Adams Sohn
sagt ihm dass ich
Spuren
Von den Himmeln zu den Himmelshimmeln
von Himmelshimmeln zum Nebelfirmament
JANNAI
Gegen meinen Willen
ging es weiter mit mir in dieser Wolke: verstört, grau
versuch am Horizont Vergessen, der Horizont weicht zurück
Zähneklappern
von hartem Hagel:
flüchtende Körner drängten sich flink
in ihr Verderben
in einem anderen Abschnitt n
och unidentifizierte Wolken.
Scheinwerfer errichteten
grosse Lichtkreuze für das Opfer.
Waggons wurden entladen.
Danach stieben die Buchstaben auf,
und den aufstiebenden Buchstaben nach
eilt Schlamm, löscht, überdeckt eine Weile
die Wahrheit, ja, ich war ein Versehen, vergessen
im plombierten Waggon, mein Körper
im Bündel des Lebens. Eingebunden.
Hier die Tasche, in der ich das Brot
fand, süsse Krumen, alle aus jen er Welt
Vielleicht gibt’s hier eine Luke, wenn dir’s nicht schwerfällt,
schau nach, da neb en diesem Körper, vielleicht
kann man ein wenig aufmachen.
Das erinnert mich, pardon, an den Witz von
den zwei Juden in der Eisenbahn, sie fuhren nach
Sag noch etwas, sprich.
Komm ich wohl los von meinem Körper und weiter —
*
Von den Himmeln zu den Himmelshimmeln, von Himmelshimmeln zum Nebelfirmament
lange Kolonnen von Rauch
Die neuen Serafim, Brandengel, ha ben noch nicht verstanden,
irren hoffnungsverfangen in der leeren Freiheit,
misstrauisch wie immer: wie nutzen
die plötzliche Leere, hilft da wohl
die Doppelstaatsbürgerschaft, der alte Pass,
die Wolke vielleicht? Was gibt’s in Wolke Neues?
Auch hier ist man bestimmt
bestechlich. Und – entre nous – die grössten Scheine
sind noch gut versteckt, eingenäht
zwischen den Sohlen —
aber die Schuhe liegen dort unten
ein grosser Haufen aufgerissener Münder
Kolonnen von Rauch. Manchmal
löst sich einer heraus,
kennt mich wohl. Nennt meinen Namen.
Ich geb mich verbindlich, versuch mich zu erinnern:
wer noch
wer
Ohne eignes Verdienst erinnernd, erinnere ich mich
ein schreiender Mann in der Zimmerecke. Bajonette
aufgepflanzt zu vollziehen an ihm
ihre Bestimmung
Ohne eignes Verdienst erinnernd. Was war
noch? Schon fürchte ich nicht mehr
und sage
Ohne jeden Zusammenhang:
Es gab ein Herz blau von Winter
und eine Laterne rund und blau und herzensgut.
Doch das Petroleum geht aus mit dem Blut, die Flamme flackert —
Ja, und bevor ich’s vergesse:
Regen schlich über eine Grenze und ich ihm nach
auf verbotenen Rückzugswegen, mit verbotener Hoffnung,
und wir beide an aufgerissenen Gräben vorbei.
Vielleicht suche ich jetzt
in jenem Regen den roten Faden
Wo anfangen?
Weiss nicht einmal, wie man fragt.
Zu viele Sprachen verwirrten sich in meinem Mund.Aber
an dieser Windgeisterscheide
versenke ich mich sehr strebsam
in die Gesetze himmlischer Sprachwissenschaft und Ierne
die Konjugationen, Verben und Nomina
des Schweigens.
Wer hat dir erlaubt zu witzeln?
Was über dir ist, weisst du.
Du wolltest fragen,
was innen ist, was im Abgrund unter dir.
Warum hast du es nicht gesehn.
Ich wusste doch nicht, dass ich noch lebe.
von den Himmelshimmeln zum Nebelfirmament hetzten
Engel, zuweilen blickte einer sich
um, sah mich, zuckte mit den Schultern,
und zog weiter, von meinem Körper weg.
Froststarr aufgerissen, geronnen,
vernarbt,
erstickt, verbogen.
Wenn ich hier werde wegmüssen,
will ich hinunterklettern, Sprosse um Sprosse
mich festhalten an allen, vorsichtig —
doch die Leiter hat kein Ende, schon ist
keine Zeit mehr. Nur fallen werd ich noch können
in die Welt
Auf meinem Rückweg
zeigen mir meine Augen:
Du bist gewesen, was noch wolltest du sehn?
Mach uns zu und schau:
Du bist das Dunkel, du das Zeichen.
sagt mir mein Mund:
Falls du noch lebst, tu mich auf, ich
muss Iobsingen.
halten meine Hände mich fest,
und mein umgekehrter Kopf ist mir treu:
Ich falle, falle
von den Himmeln in die Himmelshimmel, von Himmelshimmeln ins Nebelfirmament
*
Also doch Welt.
Grau versöhnt mit Blau.
Am Wolkentor schon süsse Unschuld, lichtblau
vielleicht lichtgrün. Schon Schlummer.
Himmel erneuern sich, proben die Flügel,
fliehen vor mir um ihr Leben. Ich wundere mich nicht mehr.
Am Wolkentor liegt off en vor mir
der See,
leer, leer, von Spiegelungen rein
Sieh dort
in jenem gewölbten Blau, am äussersten Rand der Luft
hab ich mal gelebt. Zerbrechlich war mein Fenster.
Vielleicht blieben als Rest von mir
nur kleine, nie erwachsen gewordene Segler:
wiederholen sich in der Noch-Immer-Wolke, gleiten
zerschneiden den Moment
(nicht dran denken, jetzt nicht dran denken)
Und ehe ich lande
(jetzt ausstrecken, ganz ausstrecken)
schon wach, ausgebreitet bis in die Flügelspitzen
ahne ich gegen meinen Willen: ganz nah
innen drin, hoffnungsverfangen
flackert diese Erdkugel
spurenvernarbt.

Fotografie am Ende der Brücke
In sonne und Schnee schlummert
dieses Brooklyn – nicht von dieser Welt,
zwischen mächtigen weichen Federbetten
aus Schabbat.
Vor mir, hoch, hängt die Brücke
an dünnen Fäden aus durchsichtigem Eis. Hängt und steht.
Von hier bis zum Horizont bewegt sich
nur mein Atem.
Keine Eile. Am Ufer steht ein Schild:
Dead End.
Das hat mehrere Bedeutungen,
alles wörtliche.
Siebzig Jahre stehe ich schon am Ende der Brücke
mit dem schweren Fotokasten auf dem Dreibein.
Meine Hände unterm schwarzen Tuch warten
auf das richtige Licht.
Als gäb es immer noch diesen jüdischen Schnee.
Der Glanz blendet,
die Belichtung wäre zu stark.
Auf der Fotografie gäbe es nur
ein weiges Rechteck.
Und das ist kein Gleichnis,
so wie ich mich endlich
losreisse nach Hause. Hinter mir her
hüpft eine Reihe weiss-grau fröhlicher Möwen
der Lubavicher Chassiden. Sie winken Schalom
und verwehen im Schnee wie ich.
Wintervogel
Von einem schneebedeckten Wäldchen erreicht der Wintervogel
die Ausläufer Manhattans. Sieben Jahre habe ich auf ihn gewartet
bis zu diesem klaren Abend, der gefriert
in der Silhouette derWolkenkratzer am Horizont.
Wir kamen pünktlich zum Treffen. Ich hatte den Ozean überquert,
er überfliegt die Schneehügel gegenüber,
prüft mich mit geneigtem Kopf
und hebt an:
Schwerer Mensch, der sich vom Zweifel nährt,
ich würde dir Federn wachsen lassen,
dir einen Schnabel spitzen
und ein leichtes, hohles Skelett bauen.
Betrachte doch, wenn auch nur einen Moment, den violetten Sonnenuntergang vor dir.
Du weisst sehr gut, du musst
noch einmal bei A anfangen.
Sieh, schon hast du dich gelöst, fliegst
neben mir.
Das Souvenir
Die Stadt in der ich geboren bin, Radautz in der Bukowina, spie mich aus als ich zehn war. Am selben Tag vergass sie mich wie einen Toten, und auch ich vergass sie. So war’s für uns beide am bequemsten.
Gestern, vierzig Jahre danach, schickte sie mir ein Souvenir. Wie eine lästige Verwandte, die aufgrund der Blutsbande Zuwendung fordert. Ein neues Foto bekam ich von ihr, das Porträt ihres letzten Winters. Ein Wagen mit einem Baldachin wartet im Hof. Das Pferd dreht den Kopf und blickt liebevoll auf den Greis, der ein Tor abschliesst. Also eine Beerdigung. Zwei Mitglieder der Beerdigungsgesellschaft sind übrig geblieben: Der Totengräber und das Pferd.
Aber es ist eine prächtige Beerdigung: Rundherum drängeln sich im starken Wind tausende von Schneeflocken, jede ein Stern in seiner eigenen kristallenen Form. Noch immer derselbe Trieb, etwas Besonderes zu sein, noch immer dieselben Illusionen. Haben doch alle Schneesterne dasselbe Gerüst: Sechs Spitzen, im Grunde ein Davidstern. Gleich werden sie alle verschwinden, verschmelzen, Brocken werden, einfach Schnee. Unter ihnen hat meine alte Stadt auch mir ein Grab bereitet.
*
Auf der Hälfte des Weges, als die Züge sich trafen
ungeduldig in der Nacht,
sah ich dich ans Fenster hauchen,
einen hellen Moment lang atmen von mir weg und weiter.
Wer wurde ergriffen durch diese fremde Bewegung, die begann —wer entfernte sich
von wem und wollte verweilen
einen Atemzug lang?
Noch eh ich einen Namen für dich fand, warst du fort,
die du dich wandtest und verschwandst, ich
bin schuld, der immer zu spät kommt. Ich, der im Dunkel
die Farbe deiner Augen ahnte.
Kupfersichelchen
Diese Nacht macht die Kupfersichelchen
an deinem Halse klingeln. Du meine Seherin.
Du bist die Nahe, du mit Dunkel Geschmückte,
schweige Mund an Mund mit mir. Lass
dein Flüstern. Aus der reichen Tiefe Jerusalems
hast du mich aufgelesen und meinen Schlaf gefangen.
Seitdem umkreise ich deine Kreise
wach und entflammt wie ein Komet.
Zwanzig Jahre im Tal
Und danach? Ich weiss nicht.
Jeder von uns ist
in sein eignes Vergessen gefallen.
Die Strasse ist breiter geworden. Am Rande blieb
meine gepanzerte Karosserie liegen, umgekehrt.
Nachmittags schaue ich manchmal durch
ihre verbrannten Augen: Ich erinnere mich nicht
an diese Zypressen.
Neue Fahrer ziehn an uns vorüber,
um schneller als wir einen anderen Krieg
zu vergessen, andre Gefallene.
Aber manchmal kommt auch ein Wind zu uns,
schüttelt den Kranz ,
der ins Tal gerollt ist,
zupft ein Blatt nach dem andern ab und fragt:
Sie lieben.Sie lieben nicht. Sie lieben.
Ein wenig. Nein.
Sehr.
Nein.
Zu sehr.
1968

Erster Todestag
Todestag. Du hast dir den Neunten Av zum Sterben ausgesucht, den Geburtstag des Messias. Du wusstest, dag man auch daran einen Witz aufhängen kann. Aber deine Qualen waren zu gross, wahrhaft messianische Geburtswehen, bis du endlich erlöst wurdest. Ich war nicht dabei. Nicht meine Schuld; reiner Zufall, dass ich erst zur Beerdigung zurückkam.
Am neunten Av ist auf diesem Friedhof grosserTrubel. Menschenmassen zwängen sich zwischen den Händlern am Tor hindurch, kaufen Nelken, Saftdosen und Seelenlichter in Plastikbechern. An deinem Todestag versammeln sich hier fünf Trauernde. Zu dieser treuen Gemeinde zählen deine Frau (ich erinnere mich, die vierte) und zwei deiner Rentnerfreunde (für die anderen ist es zu weit). Vor einem Jahr waren wir noch im Büro und haben den diensthabenden Kantor bestellt—einen Jemeniten, schon müde vor lauter Gedenkfeiern. Lustlos war er hinter uns hergeschlurft, doch als wir das Grab gefunden hatten, erwachte er von den Toten und sang hingebungsvoll und mit dünner Stimme sehr schöne Schnörkel. Und du hast gelacht, ich hab es gehört, du hast gelacht, dass wir dir eine überraschungsparty im orientalischen Stil bereitet hatten.
Dieses Jahr habe ich beschlossen: keinen Kantor mehr! Wir stehen vor dem Grabstein (sie haben uns betrogen, wir haben zweiter Klasse bestellt und dritter bekommen), und plötzlich holt deine Frau eine Sauerkrautbüchse heraus (das Schildchen klebt noch dran), füllt sie an einem Wasserhahn am Weg und steckt den Strauss Nelken hinein, den sie am Tor gekauft hat. Und noch eine Überraschung. Sie zieht einen Lappen raus, bückt sich, das Grab zu waschen. Wischt, spült nach. Jetzt bin ich an der Reihe. lch spreche das Kaddisch. Langsam, mit einem Ton von Scham. Hinter mir sagt einer deiner Freunde: “Ich werde meinen Sohn nicht zwingen, Gedenkfeiern für mich zu veranstalten.” Doch für deine Frau war es zu kurz, zu dürftig, und sie murrt: »Man hätte mehr beten müssen.« Sie machen sich auf den Weg, ich bleibe noch einen Moment bei dir. Gut, dass du diesmal nicht gelacht hast. Ich war vier, als du von mir weggefahren bist, und siebzehn, als ich zu dir fuhr nach dem Krieg. Keine schwere Gewissenserforschung, die Rechnung ist einfach. Wie viele Jahre? Anschliessend lebten wir im Land nebeneinander her, an den beiden Ufern dieser Zeit. Aber ganz zum Schluss, es war nicht meine Schuld sondern Zufall, da war ich nicht bei dir. Du bist in deinem Leben zu spät gekommen, ich bin zu deinem Tod zu spät gekommen. Die Rechnung strebt gegen Null und wird auch dort nicht ankommen. Das ist auch nicht mehr nötig: Ich entbinde dich hiermit von all deinen Schwüren, all deinen Gelübden und von deinen ganzen Ausreden.
Seit seinem Tod vor einem Jahr spricht Vater besser Hebräisch. Er sagt zu mir: »Zugegeben, man kann mir vorwerfen, dass ich dich zweimal verraten habe. Im Jahr — wann war das—1934 (steil dir vor, es ist jetzt fast fünfzig Jahre her)—bin ich hier eingewandert und habe in Tel Aviv gleich eine Arbeit gefunden. Ich habe alles für eure Einwanderung vorbereitet, für dich und für Mutter. Dann ist sie dort plötzlich gestorben, und ich bin nicht gleich hin, dich holen. Ich sage das noch einmal, weil du dazu neigst, es zu vergessen. Es war so plötzlich. Grossmutter, Mutters Mutter, schickte mir ein Telegramm nach Tel Aviv, das ich nicht verstehen wollte. Und sowieso hätte ich nicht gleich fahren können, damals ging das noch mit dem Schiff, nicht per Flugzeug. Auch hatte ich kein Geld, natürlich nicht, jedenfalls nicht viel. Du hast recht, und vier oder fünf Jahre später, als ich euch 1939 besuchen kam, da habe ich dich auch wieder dort gelassen, bei den Grosseltern. Sie sagten: Wohin willst du das Kind denn mitnehmen? In den Sand? In die Wüste? Obwohl ich ihnen von Tel Aviv Wunder was erzählt hatte—und es gab wirklich eine Menge zu erzählen! —willigte ich ein und liess dich bei ihnen. Ich war noch nicht bereit für dich. Ich stand kurz davor, eine Frau zu nehmen, Beba zu heiraten, wie man sagt, und ich dachte— egal, das war auf Russisch. Wer ahnte damals denn, dass der Weltkrieg ausbrechen würde und das alles. Und so stecktest du da fest, im Weltkrieg, ja, und auch in der Schoah—immer wirst du böse, wenn man dieses Wort verwendet, du denkst, dass man es zu sehr missbraucht, aber jetzt, wo ich tot bin, erlaube ich mir, das Kind beim Namen zu nennen. Entschuldige, das Wortspiel war nicht so gemeint. Doch über den Namen des Kindes müssen wir auch noch reden, du hast ja sogar den Namen geändert, den Mutter und ich dir gegeben haben. Und nach dem Krieg? Immerhin gelang es mir, dir ein Zertifikat zu besorgen (habe ich dir erzählt, wie beeindruckt die Engländer waren? Sie waren es gewöhnt, dass Kinder Zertifikate für ihre Eltern beantragten, nicht umgekehrt). Und so kamst du sogar ganz ordentlich und legal mit einem britischen Visum auf einem normalen Passagierschiff, wie war noch sein Name? Bei der Jewish Agency haben sie mich zwar betrogen, ich habe für einen Platz in der ersten Klasse bezahlt, und sie haben dich in die dritte gesteckt. Nun ja. Und natürlich immer wieder deine Frage: warum ich dich nicht in Haifa abgeholt habe. Auch das möchte ich dir noch einmal sagen, weil du es gerne vergisst. Keiner wusste, wann das Schiff ankommen würde. Damals lagen auf offener See noch Minen, es gab überhaupt keine Fahrpläne. Sie hatten versprochen, die Zeit bekanntzugeben, aber sogar die Leute in Haifa wussten es nicht, wie dann die in Tel Aviv? Plötzlich kam das Schiff und legte im Hafen an. Natürlich war ich nicht da. Während du Leute fandest, die dich nach Tel Aviv mitnahmen, ich gebe es zu, da war ich grad mit Beba im Kino. Immer wieder hast du mich daran erinnert, als sei es ein Kuriosum: Da kommt er von einem Cinemadrama zurück und was findet er? Ein Drama zu Hause: da ist ihm ein ausgewachsener Sohn vom Himmel gefallen. Aber du hast nicht draussen warten müssen. Unser Vermieter hat dich zu sich hereingenommen und dir einen Kaffee gemacht. Bis wir kamen. Nun, und danach in der Jugendgruppe im Kibbuz? Du hast Recht, wir hatten beschlossen, dag du nur ein Jahr dort bleibst, bis du ein bisschen Hebräisch gelernt hast. Das Jahr verging, du warst unglücklich, wolltest, dass ich dich da heraushole, in die Stadt, so wie ich es versprochen hatte. Ja, ich hatte es versprochen. Aber wohin hätte ich dich mitnehmen sollen? Wir wohnten zwar in einer netten Gegend, nicht weit von der Dizengoff (wusstest du, dass Dizengoff mein Onkel war? Ich habe ihn nie um etwas gebeten; allerdings ist er auch bald gestorben, schon ein Jahr nachdem ich ins Land kam), aber, du erinnerst dich, wir hatten nur ein Zimmer, und sogar die Küche haben wir mit den Vermietern geteilt. Wo hättest du bei uns also gewohnt, unterm Bett? A propos, kennst du die Geschichte von dem unterm Bett? Kommt ein Mann nach Hause und findet seine Frau —«
»Vater! Und warum hitte hattet ihr nichts? Ein Chemieingenieur (so hast du es auch auf deine Visitenkarte drucken lassen) mit französischem Diplom, aber hier im Land—nur Jobs, für die man keinen müden Groschen bekam. Ein, zwei Jahre hast du in der Bank gearbeitet, und die Bank ging Pleite. Dann hast du in Butter-lmport gemacht (was für eine ldee!), und die ist noch mitten auf der See ranzig geworden; nicht weit vom Zentrum hast du ein Café eröffnet, aber auch daraus wurde nichts. Das hast du mir alles selbst erzählt. Und was noch? Import von Seidenstrümpfen für die reichen arabischen Damen in Jaffo. Als ich ankam, freutest du dich über einen festen Job: Buchhalter im Lederlager von, wie hiess der noch, da in diesem finsteren Loch im Süden der Stadt, das hab ich noch gesehen. Die Lederrollen waren eingestaubt (gerade den scharfen Geruch mochte ich gern). Erst in den letzten Jahren hattest du eine Arbeit, die zumindest ein bisschen etwas mit Chemie zu tun hatte, wenn auch nur flüchtig—ja, stimmt, ich finde das wichtig—am Institut des Industrie-Normenausschusses, zu einem Viertel Chemiker, zu drei Vierteln Angestellter. Über jeden Job hast du gelacht. Alles war bei dir zum Lachen, über alles hast du Witze gemacht.«
»Deswegen musst du mir keine Predigt halten«, sagt er, »es ist gut, Menschen zum Lachen zu bringen. Bloss mit dir ist mir das nicht gelungen. Dein Humor, der ist—nun, sagen wir — speziell. Für sowas hast du keine Zeit. Du hast im Lehrerseminar gelernt, warst Lehrer an der Volksschule, danach am Gymnasium in Jerusalem und dann in der Uni—immer besorgt, immer in die Tiefe bohrend, bis es auf der anderen Seite wieder rauskommt. Ich beklage mich nicht. lm Gegenteil, wie man so sagt, lieber ein bettelarmer Sohn und anständig, als ein Kartenspieler und so weiter. Kennst du die Geschichte von der Frau mit den Karten? Sie beklagt sich: >Mein Sohn kann nicht Karten spielen.< Sagt ihre Freundin: >Ist doch gut!, Sagt sie: >Aber er spielt trotzdem.< Siehst du Danele, man muss eben auch zu leben wissen; das ist wie mit dem Kartenspiel.« ,Wenn du von den Toten auferstehen würdest, würdest du mir dann zeigen wie?« Vater überlegt einen Moment und antwortet gelassen: »Das ist nicht nötig. So ist es einfacher.« “Was hast du denn?” kreische ich. »Ich will nicht hier neben dir begraben sein, hier ist kein Platz, und überhaupt, Vater, ich hab auch keine Zeit, ich muss aufstehn und zur Arbeit.« Aber jetzt hält er mich fest und sagt ganz liebevoll: » Wieder machst du dir Sorgen? Wieso keine Zeit? Du wirst genug Zeit haben, um alles zu klären, bis zum Schluss.”
Der Schmerz und das Verletztsein
“Der Schmerz und das Verletztsein kommen daher, dass du so verwöhnt und selbstverliebt bist, ja, und wie ist das bei mir?«
Die Behauptung, dass diese Not und dieses Verletztsein, die mit Angst verbunden sind, ver knüpft mit Ekel, Knoten für Knoten ein Fischernetz, das in brackigem Wasser liegt und nur dreckiges Wasser fängt, ein Fischernetz, das Wasser sammelt und Wasser zurückgibt, und seine Knoten taugen nichts, es wird genauso gehoben, wie es versenkt wurde, in Angst, mit Verletztsein, mit Ekel, salzig und trüb—die Behauptung, dieses Netz der Not sei bloss das Verwöhntsein und die Selbstverliebtheit eines Menschen, der alles bekommen hat (was fehlt mir denn? nicht das Auskommen, nicht Frau und Kinder, weder ein Haus, noch die gesicherte Stellung)—diese Behauptung geht normalerweise so weiter, dass, wenn es mir einmal wirklich dreckig ginge, ich den richtigen Massstab schon finden würde — zum Beispiel im Konzentrationslager, oder, angenommen, mit Krebs auf dem Sterbebett—, würde ich mich dann immernoch beklagen, dass ich keine enge Beziehung zu dir habe, oder, angenommen, dass meine Bücher nicht die verdiente Verbreitung finden, oder dass mich die Einkommenssteuer belästigt? Eine solche Behauptung ist nicht nur bösartig, sie ist auch dumm. Denn ich bin ja dort gewesen, im Konzentrationslager und auch auf dem Sterbebett, und das hat die anderen Probleme, die scheinbar kleineren, natürlich beiseite geschoben. Aber nach welchem Masstab verlangt man denn von mir zu leben? Um die Angst und das Verletztsein zu überwinden, soll ich also erst völlig draufgehn. Wer das behauptet (— er meint, er tröste, aber in Wirklichkeit verdummt er einen —), glaubt der, das sei wie in dem Gleichnis mit der Ziege? Dass der Todesmarsch, das Gas oder, angenommen, der Krebs wie eine Ziege sind, die man sich erst ins ohnehin zu enge Haus holt, um sie später wieder hinauszuschaffen und dann aufzuatmen und das Mehr an Platz zu geniessen? Was für ein idiotischer Vergleich. Denn in diesem Netz der Angst, der Not und des Verletztseins sind die scheinbar kleinen Dinge — Arbeitsangelegenheiten, Bücher oder Beziehungen zu heutigen Menschen — nur die Löcher. Die Fäden des Netzes aber und die Knoten sind eben der Tod, sind eben die Qualen, mit denen die Dummen einen trösten wollen. Eben die begleiten mich Tag für Tag. In jedem rechteckigen Blumenbeet seh ich ein Massengrab, das nach einer Weile begrünt wurde. Sogar in dem Teppich im Zimmer, sogar in dem —was muss ich denn noch sagen? Du wenigstens hast dich nie auf diese niedere Stufe begeben. Du hast mich gesehen, obwohl ich dachte, du habest mich ignoriert (es war mir gelungen, die Ängste mindestens zehn, zwölf Jahre sogar vor mir selbst zu verstecken; erst nach dem Eichmannprozess brachen sie aus), doch mit der Zeit sah ich, dass du sie wirklich bemerktest, und du tatest nichts, sagtest nichts (das hatte schon lang nichts mehr mit den Schuldgefühlen zu tun, die du vielleicht hattest, oder von denen ich zumindest lieber annehme, dag du sie gehabt hast, weil mir diese Schrecken widerfuhren und du mich nicht rechtzeitig nach lsrael geholt hast). Aber wenigstens hast du dich nie auf das Niveau des Gleichnisses von der Zie ge begeben. Ich danke dir, dass du geschwiegen hast. Und das, obwohl du noch nicht wusstest, dass auch ich bald wirklich sterben würde, gar nicht lange nach dir.
Dan Pagis, An beiden Ufern der Zeit. Ausgewählte Gedichte und Prosa. Hebräisch-Deutsch. Aus dem Hebräischen und mit einem Nachwort versehen von Anne Birkenhauer, Straelen/Niederrhein 2003, (Straelener Manuskripte Verlag)
