…das gefährliche Glas unseres Glücks, aus dem wir jeden Augenblick können vergossen werden

Auszug aus der Niederschrift eines “Briefes”, den Rilke am 8.11.1915 an eine gewisse »L[otte] H[epner]« richtet:
[…] Verwirrt es Sie, dass ich Gott sage und Götter und mit diesen Satzungen (genau wie mit dem Gespenst) um der Vollzähligkeit willen umgehe, meinend, es müsse sich da bei auch für Sie gleich etwas denken lassen? Aber nehmen Sie Übersinnliches an. Verständigen wir uns darüber, dass der Mensch, seit seinen frühesten Anfängen, Götter gebildet hat, in denen[ … ] nur das Tote und Drohende und Vernichtende und Schreckliche, die Gewalt, der Zorn, die überpersönliche Benommenheit, enthalten waren, verknotet gleichsam zu einem dichten bösartigen Zusammengezogensein: das Fremde, wenn Sie wollen, aber in diesem Fremden schon gewissermassen zugegeben, dass man es gewahrte, ertrug, ja anerkannte um einer gewissen, geheimnisvollen Verwandtschaft und Einbeziehung willen: Man war auch dies, nur, dass man vor der Hand mit dieser Seite des eigenen Erlebens, nichts anzufangen wusste; sie waren zu gross, zu gefährlich, zu vielseitig, sie wuchsen über einen hinaus zu einem Übermass von Bedeutung an; es war unmöglich, neben den vielen Zumutungen des auf Gebrauch und Leistung eingerichteten Daseins, diese unhandlichen und unfasslichen Umstände immer mitzunehmen, und so kam man überein, sie ab und zu hinauszustellen. — Da sie aber Überfluss waren, das Stärkste, ja eben zu Starke, das Gewaltige, ja Gewaltsame, das Unbegreifliche, oft Ungeheure — : wie sollen, sollten sie nicht, an einer Stelle zusammengetragen, Einfluss, Wirkung, Macht, Überlegenheit ausüben? Und zwar nun von aussen. Könnte man die Geschichte Gottes nicht behandeln als einen gleichsam nie angetretenen Teil des menschlichen Gemütes, einen immer aufgehobenen, aufgesparten, schliesslich versäumten, für den eine Zeit, Entschluss und Fassung da war und der dort; wohin man ihn verdrängt hatte, nach und nach zu einer Spannung anwuchs, gegen die der Antrieb des einzelnen, immer wieder zerstreuten und kleinlich verwendeten Herzens kaum noch in Frage kommt?
Sehen Sie, und so ging es nicht anders mit dem Tod. Erlebt und doch in seiner Wirklichkeit uns nicht erlebbar, uns immerfort überwachsend und doch von uns nicht recht zugegeben, den Sinn des Lebens kränkend und überholend von Anfang an, wurde auch er damit er uns im Finden dieses Sinnes nicht beständig unterbräche ausgewiesen hinaus verdrängt, er, der uns wahrscheinlich so nahe ist, dass wir die Entfernung von ihm und der inneren Lebensmitte in uns gar nicht feststellen können, er wurde ein Äusseres, täglich fern Gehalteneres, das irgendwo im Leeren lauerte, um in bösartiger Auswahl den und jenen anzufallen.—; mehr und mehr stand der Verdacht wider ihn, dass er der Widerspruch der Widersacher sei, der unsichtbare Gegensatz in der Luft, der, an dem unsere Freuden eingehen, das gefährliche Glas unseres Glücks, aus dem wir jeden Augenblick können vergossen werden.
Gott und Tod waren nun draussen, waren das Andere, und das Eine war unser Leben, das nun um den Preis dieser Ausscheidung menschlich zu werden schien, vertraulich; möglich, leistbar, in einem geschlossenen Sinn das unsrige. Da aber in diesem gewissermassen für Anfänger eingerichteten Lebenskurs, in dieser Lebensvorklasse, der zu ordnenden und begreifenden Dinge immer noch unzählige waren und zwischen gelösten Aufgaben und nur eben vorläufig übersprungenen nie ganz strenge Unterschiede gemacht werden konnten, so ergab sich, selbst in dieser eingeschränkten Fassung kein gerader und zuverlässiger Fortgang, sondern man lebte, wie es kam, von wirklichen Erträgen und Fehlersummen, und aus allem Ergebnis musste endlich wiederum als Grundfehler eben diejenige Bedingung hervortreten, auf deren Voraussetzung dieser ganze Daseinsversuch aufgerichtet war; indem nämlich aus jeder in Gebrauch genommenen Bedeutung Gott und Tod abgezogen schienen (als ein nicht Hiesiges, sondern Späteres, Anderwärtiges und Anderes), beschleunigte sich der kleinere Kreislauf des nur Hiesigen immer mehr; der sogenannte Fortschritt wurde zum Ereignis einer in sich befangenen Welt, die vergass, dass sie, wie sie sich auch anstellte, durch denTod und durch Gott von vorn herein übertroffen war. Nun hätte das noch eine Art Besinnung ergeben, wäre man imstande gewesen, Gott und Tod als blosse Ideen sich im Geistigen fernzuhalten—: aber die Natur wusste nichts von dieser uns irgendwie gelungenen Verdrängung – blüht ein Baum, so blüht so gut der Tod in ihm wie das Leben, und der Acker ist voller Tod, der aus seinem liegenden Gesicht einen reichen Ausdruck des Lebens treibt, und die Tiere gehen geduldig von einem ins andere — und überall um uns ist der Tod noch zu Haus, und aus den Ritzen der Dinge sieht er uns zu, und ein rostiger Nagel, der irgendwo aus einer Planke steht, tut Tag und Nacht nichts als sich freuen über ihn.
Und auch die Liebe, die zwischen den Menschen die Zahlen verwint, um ein Spiel von Nähen und Fernen einzuführen, in dem wir immer uns so weit erweisen, als wäre das Weltall voll und nirgends Raum als in uns; – – auch die Liebe nimmt nicht Rücksicht auf unsere Einteilungen, sondern reisst uns, zitternd wie wir sind, in ein endloses Bewusstsein des Ganzen hinein, – die Liebenden leben nicht aus dem abgetrennt Hiesigen; als ob nie eine Teilung vorgenommen worden wäre, greifen sie den ungeheueren Besitzstand ihrer Herzen an; von ihnen kann man sagen, dass ihnen Gott nahrhaft wird und dass der Tod ihnen nicht schadet: denn sie sind voller Tod, indem sie voller Leben sind.
Aber vom Erleben haben wir hier nicht zu reden, es ist ein Geheimnis, kein sich verschliessendes, keines, das den Anspruch macht, versteckt zu werden, es ist das seiner selbst sichere Geheimnis, das wie ein Tempel offen steht, dessen Eingänge sich rühmen, Eingang zu sein, zwischen überlebensgrossen Säulen singend, dass sie die Pforte sind.
(Aus: Rainer Maria Rilke: über Gott. Zwei Briefe. Leipzig1933. S. 15-21)
Rilke, Rainer Maria, Gesammelte Werke, Stuttgart 2015 (Reclam), pag. 969-971
