Cheng Chiung-ming
Chiung-ming, Cheng, Gedanken in Weiss. Gedichte aus Taiwan, aus dem taiwanischen Chinesisch von Thilo Diefenbach, München 2019, (Judicium Verlag)
Die Wahrheit
Ein Rund sieht
Wie sein Herrchen in aller Heimlichkeit
Seine Verbrechen vergräbt
Der Rund glaubt, es handele sich um etwas Wertvolles
Und lässt fortan niemanden mehr in die Nähe
Bis eines Tages
Die Seelen zahlloser Opfer
Nacheinander an die Tür klopfen und Anklage erheben
Da bellt das Tier
Wie verrückt
Und flieht
Cheng Chiung-ming

Wiegenlied
Sanft schaukelt die Wiege
Die liebevolle Mutter flüstert leise
“Schlafe, mein Kind,
Schlafe still”
Ich bin völlig erschöpft
Aber ich liege hier in dieser
Chaotischen, unruhigen, jammervollen Welt
Wie soll ich da einschlafen
Laut weine ich los
Je stärker die Wiege schaukelt
Je stärker die Wiege schaukelt
Umso lauter weine ich
Sanft schaukelt die Wiege
Die liebevolle Mutter flüstert leise
“Schlafe, mein Kind,
Schlafe still”

Die Strasse
Von der Arbeitsvermittlung für Tagelöhner in der Innenstadt gehe ich
nach Hause
Die Strasse unter meinen Füssen erstreckt sich schier ins Unendliche
Während nach und nach erste Lichter die Strasse beleuchten
Denke ich darüber nach
Wie sehr ich darauf angewiesen bin, dass die Lampen meinen einsamen
Weg erhellen
Immer dunkler und unwegsamer wird die Strasse
Als führte sie zu einem Grab …
Der Mann nebenan ist schon wieder betrunken
Ganz schwach hört man ihn nach seiner Frau rufen, die schon vor Jahren
mit einem andern weggelaufen ist.
Nacht
Dieser Moment gehört uns
Dieser Moment, in dem dich niemand stört
Dieser Moment, in dem ein Streichholz alles erhellen kann
Ruhig liegen wir da
Um nicht das wahre Gesicht der Welt erblicken zu müssen
Wir hoffen darauf, dass die Zeit anhält
lm Bett und ausserhalb unseres Zimmers
In dieser undurchdringlichen Finsternis
Lass uns wie die ersten beiden Menschen sein
Wir haben so viel Liebe, so viele Träume
Dieser Moment gehört uns
Wir halten uns fest umschlungen
Vereint zu einer
Unzerstörbaren Eisenkette …
Worte sind die schärfste Waffe
Vor dem Bücherstand
Sah ich einen Mann
Auf dem Boden liegen
Mit schmerzverzerrtem Gesicht
Ich fragte ihn nach dem Grund
Da presste er eine Hand an die Brust
Zeigte mit der anderen auf einen Gedichtband
Und stiess mühsam hervor:
“Kein Problem, schon gut
Ich wurde nur von den Splittern explodierender Worte
Tödlich verletzt … “
Dann tat er seinen letzten Atemzug

Die Kappen
Legt sie ab, die Kappen
Die wir auf unseren Köpfen tragen
Die Kappen, legt sie ab
Tragen wir sie
Dann landen wir in der Verdummung
Dann können wir den Kopf nicht heben
Dann werden unsere schon bleichen Seelen
Noch weniger Sonnenschein erblicken
So lange schon
Warum sind wir immer noch so feige und so schwach
Unfähig, uns entschlossen zu erheben
Legt sie ab, die Kappen
Lyrik
An einen Dichter
Wer lebt
Und nicht auf den Tod wartet
Dem braucht die Welt
Doch nichts mehr verheimlichen
Ich jedenfalls könnte mich nicht derart selbstquälerisch
Den ganzen Tag in meinem Zimmer einschliessen
Um Zeile für Zeile Gedichte zu schreiben
Die nicht verstanden werden
Die Stimme
Was ist das für eine Stimme
Die der schneidend kalte Wind stossweise herüberweht
Wem gehört diese Stimme
Die so vertraut meinen Namen ruft
Ein ums andere Mal
Die sich langsam in meine seit Jahren rostenden Träume bohrt
Und mir mitteilt, das Himmelreich sei nahe
Die mich hochschrecken und erzittern
Und mich, wenn ich erwache, den Heimweg nicht mehr finden lässt

An den Diktator
Du kannst meine Zunge abschneiden
Und mich zu einem Stummen machen
Der nie wieder etwas kritisieren kann
Du kannst meine Augen herausreissen
Und mich zu einem Blinden machen
Der all die Fäulnis nicht länger mitansehen kann
Du kannst meine Hände verstümmeln
So dass sie nie wieder einen Pinsel halten können
Nie wieder von Wahrheit und Liebe dichten kann
Wieder und wieder kannst du mich einsperren
Selbst meinen Kopf kannst du abhacken
Und wirst doch niemals siegen
lm strengen Urteil der Geschichte
ist deine Wut nicht mehr
Als ein Niesen im eisigen Wind
Die Falle
Nach einer langen Wegstrecke
Fielen wir ohne zu wissen, wie uns geschah
In die Falle der Geschichtsfälschung
zu schnell, um auch nur einen Schrei des Entsetzens auszustossen
zu schnell, um uns
Von unserer geliebten Familie verabschieden zu können
In der undurchdringlichen Finsternis
Dieses dunklen Lochs
Liegen wir
Hilflos wie verwundete Pferde
Und warten auf eine rettende Hand
Und die Zeit fliesst aus schmerzenden Wunden
Niemand weiss, wo sie gerinnen wird …
Immer weniger spüren wir
Das Leben in uns
Nur in den schwachen Atemzügen
Keine Nachtigall singt mehr
Oh diese Erde, wie still
Still wie der Tod
Bis jäh die Falle einstürzt
Und eine dicke Lehmschicht
Unsere verflossene Jugend begräbt
Der Augenzeuge
Ich bin Augenzeuge
Einer Tragödie
Seit dem Prolog, seit dem ersten Akt
Bin ich Augenzeuge
Mit scharfem Blick
Beobachte ich jeden Aspekt der Wirklichkeit
Und wenn ein Mensch in einer dunklen
Strassenecke seufzt und weint
Ganz heimlich weint,
Dann bin ich Augenzeuge
Muss ich weiterleben
Wie ein gefangener Fisch
Und Zeugnis ablegen für die gedemütigten Seelen

Das tiefe Tal
Ich weiss nicht, wann es begann
Wir gingen völlig arglos
Und gingen, bis wir schliesslich das tiefe Tal betraten
Das tiefe Tal, in dem unzählige tote Schatten verborgen liegen
Ohne es zu wissen
Als der kalte Wind vorbeipfeift
Zittern unsere schwachen, gebrechlichen Körper
Unaufhörlich
Auf diesem Weg, der keine menschlichen Spuren aufweist
Manchmal fliegt dort vorn ein Geier
In geringer Höhe zieht er seine Kreise
Als suche er etwas
Oder als lauere er auf etwas
Im tiefen Tal unseres Herzens
ist ebenfalls ein unsterblicher Vogel
Er schlägt mit den Flügeln und versucht
Das Verlies zu sprengen, in dem er schon so lange eingesperrt
So stützen wir uns beide gegenseitig
Und wärmen unsere immer kälter werdende Blösse
Um unsre Leben zu schützen, zu erhalten
Bis hinter uns ein Schuss
Die Stille im tiefen Tal zerschneidet
An die Wolken
Sagt mir nicht, ihr hättet kein Zuhause
Sagt mir nicht, ihr nähmt den Duft der feuchten Erde gar nicht wahr
Sagt mir nicht, euch gefalle euer Vagabundenleben
Sagt mir nicht, eure wandelbare Miene
Berge irgendeine Bedeutung
Ich, der Tautropfen auf dem Blatt eines Baumes
Warte darauf, dass die Sonne mich
Erbarmungslos verdampft
Ohne Vergänglichkeit wäre Existenz bedeutungslos
Wir sind alle Kinder der Sonne
Und jagen einem unsterblichen Wunschtraum nach
Schnee
Kann er ohne Schnee wirklich nicht leben?
Eines Tages
Begann er, der von klein auf im ewigen Schnee gelebt hatte
Plötzlich und heftig
Den Schnee in der Ferne zu vermissen
Nicht weil ihm die Reinheit und der Glanz des Schnees so sehr gefiele
Sondern weil er die Düsternis der Wirklichkeit verabscheut
Sein ruheloses Wanderleben kommt ihm in den Sinn
Wie die weissen, galant tanzenden
Zahllosen Schneeflocken
In all ihrer Grazie
Letztlich doch innerhalb weniger Augenblicke vergingen
Zu Staub werden
Dann eines Nachts
Tat er, der Weisshaarige
Zufrieden seinen letzten Atemzug
Während er von einem wilden Schneesturm träumte

Der Name
Wenn ich eines Tages sterbe
dann will ich keine
Namenlose, einsame Seele werden
Ich weiss nicht
Warum ich keinen eigenen Namen besitzen darf
Ich weiss nicht
Warum du meine Existenz verleugnest
Sage mir
Wer bin ich?
Wer bin ich eigentlich?
Dass du meine Existenz leugnest
ist eine absurde Illusion der Macht
Und wird niemals irgendetwas beweisen
Ich bin unabhängig
Und werde es immer sein
Ich will lediglich einen Namen
Der meiner Existenz wirklich gerecht wird
In der geräuschlosen Nacht
Kann ich ganz deutlich die Rufe meiner Mutter hören
Schatten
Der Vorhang der Nacht senkt sich
In einsamer Stunde
Wirkt dein Schatten
Besonders lang
Ebenfalls mögliche Versionen:
Der Vorhang der Nacht senkt sich
Wenn du einsam bist
Wirkt dein Schatten
Besonders lang
Der Vorhang der Nacht senkt sich
Wenn dein Schatten
Einsam ist
Wirkt er besonders lang
An mich selbst
Nr.1
Leben ist grausam
Das Leben ist schön
Einfache Worte nach Kräften benutzen
Um ein verdrehtes, einsames Land zu beschreiben
Leben ist schön
Das Leben ist grausam
Ehrliche Worte nach Kräften benutzen
Um die verwundeten, unbeugsamen Seelen zu trösten
Nr.2
Immer wachsam gegenüber der eigenen Sprache bleiben
Um Trägheit der Gedanken zu vermeiden
Im Gewöhnlichen die Wahrheit finden
In der Wahrheit die Schönheit finden
Stets mit einer unbeirrbaren Gesinnung
Vorwärtsschreiten ohne Furcht vor Widrigkeiten
Würde und Glorie glänzender Gedichte
Aus den tiefsten Winkeln der Seele schöpfen

Ohne Titel
Als ich jung war
Wollte ich der überbordenden Lebenskraft meiner Jugend
Noch etwas hinzufügen
Reichtum vielleicht
Oder Weisheit
Ich fühlte mich geradezu unersättlich
In meinem gleichsam brennenden Körper
Verbarg sich der
Magen eines ausgehungerten Wolfs
Nun aber will mein aufgedunsener Körper
Unbedingt etwas abstossen
Je leichter, desto besser
Unentwegt abstossen
Unentwegt nüchtern sein
Unentwegt Ballast abwerfen
Und schliesslich wie ein Nachen
Lautlos, spurlos
Ans andere Ufer des Lebens treiben
Schlaglichter auf den Tod
Der Tod ist eine Katze
Der Tod ist eine Blume
Der Tod ist ein Lied
Der Tod ist ein Windstoss
Der Tod ist ein Vogel
Der Tod ist eine Mauer
Der Tod ist ein Theaterstück
Der Tod ist ein Tautropfen
Der Tod ist eine dicke Nebelwand
Der Tod ist ein Blitz
Der Tod ist ein Geheimzimmer
Der Tod ist ein Trugbild
Der Tod ist ein Alptraum
Der Tod ist ein Rätsel
Ich
Segle
Derzeit
Ganz alleine
Und ganz langsam
Auf das jenseitige Ufer zu
Wo des Rätsels Lösung wartet
Uit:
Chiung-ming, Cheng, Gedanken in Weiss Gedichte aus Taiwan, aus dem taiwanischen Chinesisch von Thilo Diefenbach, München 2019, (Judicium Verlag)
Luo Ying
Twenty-four yaks pack in our food and equipment
Nine breed yaks have energy they cannot release
Because of the U.S. sup-prime mortgage problem
Because of China’s macroeconomic planning
The world’s climbers feel the pinch in their wallets
The world’s white collarites are in a crisis of livelihood
Today the mountain is beautiful
Today the yaks have put on weight
However today’s climbers are fewer
Yak patties on the slopes are fewer too
The breed yaks are not in a good mood
They run wild on the slopes and down below
Upend their loads and burst their carry bags
Across the wild slopes strewing global manure
Italian climbing shoes float down creeks
American energy bars are treats for crows
Japanese anti-perspirant briefs are nightwear for rabbits
They make love while bedded down in underwear
”JUIBO” snow goggles get cracked on rocks
Reflective fragments like gleams from globalized eyes
Mountain dogs have gagged on “LIUBIJU” stinky bean-curd
My “BLACK DIAMOND” staff was dragged off in a snow-cock’s beak
To barter with a certain Swiss girl for “CARMEX” lip balm
Which soothes blisters caused by too much kissing on the sly
The breed yaks have upended my globalization
I couldn’t deal with globalization in the first place
Of course I can’t do anything about breed yaks either
Terribly crude with great bodily strength, so I think
Monogamy fits with global imperatives after all
Luo Ying
Translated by Denis Mair

http://poetrysky.com/quarterly/43/luoying.html
Death-Image
一
一切都死了 即便是时间 哲学 命运以及历史
当故乡仅仅成为了一座荒坟之后 草和骆驼变成了杀马者
我呢 成为了一个往下走的人 身披黑夜斗篷及心怀恶意
天空深处打着鼓 却没有马或鸽子急急而来
死让我们伟大了 即使我们常常只是像一片叶子飞
即便是这样 也不必疑虑以什么方式落下来或以多长时间腐烂
此刻 你只需要向着太阳翻过身去 不需要声响也不需要激动
此时 你只需要手持黑色的剑挥向宇宙的另一边或是黑暗深处
无边无量的死让我们从心底深处感到了无足轻重
历史如一匹野蛮的马疾驰而去又罔顾一切而惊心动魄
我们都因此是生还者 死亡者 或者是杀生者以及是谋害的人
我们如野性的马打着响鼻因而还鄙视一切
死 让我们崇高了 即便是我们曾经卑鄙
我们藏起金色的手铐在岁月的密林中潜行捕食一切
在思想的墓穴中我们并没有因而高大或者微不足道
我们只是死 让我们因此获得一块墓碑或者一个二十一世纪的地标
想一想 向失群的雁打一声响指并举起一杯酒
红颜向我致以微笑并在我的来路款步而行
作为一个数叶子的人 我不习惯于想象历史
当杀马者穿越隐秘小径之后 我也不习惯会有马兰花开
夜鸟如一匹骆驼 隐没于草丛以及波涛之下
那种日子轻易就为灰蛇蜕去第36层皮
在叶子下抖动以至于不形于色让某种痛苦无足轻重
二
在思想的深处我们都是死亡者 因为我们都诅咒过上帝
我们恐惧老 害怕贫穷 厌恶背叛 因而我们夜半惊梦
在一棵树枯萎后 我们仍旧活着 这本身足以说明我们并不光明
我们如夜行的蝙蝠在夜的缝隙中飞 像地狱密使
在童色的马喊叫妈妈时 一切都不会因此变调或变色
我们紧闭住眼睛等待或寻找一条密色小径
在翅膀不飞翔时 我们以羽毛紧裹住身躯在宇宙中抖动
在光线变黑或是变铁色时我们紧揪住双手以免尖叫
露水渐渐地变重了如雄浑的铁叮叮咚咚地响起来
面对一匹马的枯骨 我们缓缓地举起双手遮住眼睛
一切都在死 都在变白 都在粉碎 以及都在静下来
如海潮卷起小墨鱼的尾鳍及碎屑不顾一切而去
尽管是我在歌颂死 我也还是如此惊心动魄
无论是我写不写 落日如血逝去 我都会热泪盈眶
我宁愿相信海深处 密林中 河对岸有一种琴在弹拨
它如风云 如铁锤 如凄厉 如永别 层迭而来逐浪而去
如一匹黑色的马惊恐从荒原上飞腾紧紧的抿起它的双耳
深灰色的波浪在大地上重重地划出一道世纪印痕
三
清晨 当阳光终于灿烂时 我看见彩色出现在地平线
如地狱中的一只麻雀飞翔而来 一片叶子从天上落下来
此时 我想奔跑 如邪恶的黑熊伸出巨大的尖爪
在黑暗的底部坐起来等待着有人一声令下
吞咽下一粒艰涩的榛子向着远处走动起来
并且向着一处处密林长啸或是悲鸣
事情就是这样的 不论你是生或是死
在你试着高尚时你却发现自己如此低下
在你试着死亡时你却发现自己是如此不值一提
你在黑夜中蜷缩起来戴好铁皮的面具入睡
这种阳光是死亡的 刚一发烫就变得冰冷无比
致使你刚想飞扬就变成了历史垃圾
麻雀们从不在彩色中飞因而它们懂得如何死亡
它们仅仅以细弱的羽毛就能让自己飞起来或深入地下
从来听不见它们唱歌或者是诅咒或者是有所绝望
它们不知死活了 由此判断或者是无赖或者是豪杰
Luo Ying

Death-Image
1
Everything has died…even time…philosophy…fate, along with history
Now that my native place is only a weedy grave…grass and camels have given way to the horse-slayer
I myself have become a man on the way down…putting on night’s conical hat and rain-cape…my heart holding ill intentions
Drumbeats sound in the sky’s depths…yet no horse or dove comes hurrying
Death lends us greatness…even though we are often only like a flying leaf
Because it does…we need not worry over how to fall…or how long decay will take
This moment…I just need to turn sunward…no need to make noise or get aroused
This moment…I just need to draw a black sword…brandish it toward the other edge of the cosmos or into the depths of birdsong
Boundless, borderless death makes me feel that deep-down I am of no consequence
The barbarous horse of history gallops away…heedless of everything…shaking Heaven and earth
Thus we are all the ones who made it through…the ones yet to die…the ones who lay plans to kill or do harm
We are like untamed horses…whickering to show disdain of things around us
Death has made us high-minded…though we were lowly before
Hiding golden handcuffs we sneak through the jungle of seasons, pillaging all in our path
In the grave-pit of thought this has not increased or detracted from our stature
We are just death…thus let us obtain a grave plaque or plat marker in the 21st century
Just think…either I snap my fingers or drink a toast for a goose parted from its flock
A fresh young face gives me a smile…and saunters along the road I will pass on
As a counter of leaves…I am not used to imagining history
Now that a horse-slayer proceeds down a hidden path…you will not find “horse orchids” [1] blooming around me
A bird at night and a camel both lose themselves…one over white-capped waves, one in a stand of tall grass
Such days as these can readily shed the 36th skin of a snake
It shudders beneath leaves and makes no expression…treating a certain type of pain as negligible
(Note: The Chinese iris (Iris ensata Thunb), commonly called mahuo, is also called malan-hua,
literally the “horse orchid flower.” Here the poet also alludes to the older plant name ma-lan
(Kalimeris indica) from the anthology Chu Ci [Songs of the South]. The latter is a plant that grows in boggy places and has an unpleasant odor.)
2
In the depths of thinking we all belong to the dead…because we have cursed God
We dread old age…fear death…recoil from betrayal…are harried by dreams
A tree has withered…we go on living…this alone shows we are not in the light
We come out at night and fly through night’s cracks…bat-messengers of Hell
A colorless horse cries for its mother…this won’t make things change key or color
We close our eyes tight and wait or search for a secret path
When wings do not take flight…our feather-wrapped bodies shudder in the cosmos
As light rays turn black or iron-colored…we cross arms to keep from screaming
Dewdrops slowly turn heavy and transmit clanging sounds from pig iron
In front of a horse’s bare bones…we slowly raise our hands and cover our eyes
All things are dying…all is turning white…all is fragmenting…all is quieting down
Like ebb-tide lifting up a cuttlefish’s tail or flakes of debris as it rolls out
We sing praises of death…though anyone can see we are shaken to the core
Writing this down or not…at the late sun’s bloodlike passing…tears always brim in my eyes
From undersea kelp forests or a river’s far shore, I like to think some kind of harp is being played
Like windborne clouds or plectrums or inklings or goodbyes…welling up to roll away
Like a black horse galloping away from the grassland with ears laid back in fright
Pounding gray waves cut the century’s deep marks on the land
3
Early morning, when sunrise at last turns splendid, I see colors along the horizon
A lone leaf falls from the sky like a sparrow flying into the gates of Hell
Right now I wish to dash wildly, like an evil bear stretching out giant claws
At bottom of darkness I sit upright waiting for someone to bark out a command
Having swallowed a bitter hazelnut, I set out toward distant places
Facing one thicket after another, letting out howls or sorrowful cries
This is the way things are, whether you are going to live or die
Try to be high minded and you’ll find how lowly you are
Try to die and you’ll find you are hardly worth mentioning
You curl up in the dark night wearing an iron mask to sleep in
Here comes the sunlight of death; whatever heats up soon gets a terrible chill
Such that your thoughts of soaring soon turn into garbage of history
Sparrows never fly within colors, which is why they know how to die
With only flimsy feathers they can fly aloft or go deep underground
One never hears of them singing or cursing or despairing over things
Since life and death to them are one, they can judge between shiftless and glorious
Translator Denis Mair
Ying Luo, Kakerlaken-kunde. Gedichte. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackdermans. Mit einem Nachwort des Autors, Hildesheim 2013 (Georg Olms Verlag)

5.6.2006, 05:10, Los Angeles, Hotel Ritz, Zimmer 301
An die Toten
In nächtlicher Einsamkeit, besonders kurz vor der Morgendämmerung, überfällt mich jäh der Gedanke an den Stachel und den Schrecken des Todes.
Von urtümlicher und geheimnisvoller Bedeutung ist das Wort “Tod” und beschwört in mir unwillkürlich die Frage: Gibt es ein Wort, dem die Menschheit, ja das Universum höheren Respekt erweisen sollte?
Die Tötung eines Lebens erfolgt oft kurz und zufällig, kaum mehr als ein Wimpernzucken. Doch gibt es auch eine Art des Todes, die das Verdorren der Knochen im Grab oder ihr Zermahlen zu Staub bedingt.
Daher verlangt der Tod Ehrfurcht, erst danach kann man zusammen mit den Toten ausgelöscht werden:
ausgelöscht durch ein Wagenrad, eine Sprache, eine Gewehrkugel, eine Macht, ein Gen, eine Dürre, einen Staat, ach ja, auch eine Goldmünze kann uns auslöschen.
Die Noch-Nicht-Toten sind Zuschauer, vor allem in Einübung des künftigen unvorhersehharen eigenen Todes, wie Bäume sehen sie sich gegenseitig heim Sterhen zu, um schliesslich gemeinsam zu sterben: ein kollektives, bewusstloses Sterben, gleichsam in einer unauflöslich bindenden gegenseitigen Abmachung.
Höchstes Gut der Toten ist ohne Frage die Ungewissheit, wann der Tod eintritt, und oh es ein glücklicher oder schmerzhafter Moment sein wird. So wie bei einem 82er Lafayette die Befriedigung des geniessenden Betrachtens gröBer ist als der Wunsch, davon zu kosten.
Sich in einem English Pub die Nacht hindurch zu besaufen, ist die schändlichste Missachtung der Toten. Zumindest sollte man salutierend den Hut vor ihnen ziehen, bevor man sich volllaufen lässt.
Wer in farbenprächtiger Kleidung eine Promenade entlangläuft, <larf keinesfalls vergessen, den Toten achtungsvoll den Vortritt zu lassen, um jede weitere Dekonstruktion des Wortes “Tod” zu verhindern.
Nach den Orgien der Fleischeslust gehört sich ein Moment der Ehrerbietung, um sich die Erinnerung bzw. den Schmerz des To des wach zu ruf en, und den Toten deutlich zu machen, class wir trotz allem kein Haufen inzestuöser Verbrecher sind.
Wir alle sind hilflose Benutzer einer gemordeten Sprache und beteiligen uns fortlaufend am Prozess des Mordens, wir beabsichtigen sogar durch den Mord an der Sprache den durch Gesetz und Vernunft gerechtfertigten Mord an anderen.
Erschrecken und Mitgefühl, die der Tod eines Hündchens oder einer Taube in uns wecken, sind in Wahrheit anormale Gemütswallungen, nachdem wir unsere Zuschauerrolle zu Ende gespielt haben.
Sollte ein Massen-Sterben in geordneter Reihenfolge anheben, müssen wir zunächst umgehend alle Satzgefüge massakrieren und dann nach Kräften einen Vorrat von Durex -Kondomen anlegen.
Fehlkonstruierte Sprachen aller Art sind einer gnadenlosen ethnischen Säuberung zu unterziehen, weil sie auf schlimmste Weise die Chronologie der Toten ignorieren und, was noch gravierender ist, dadurch zu Betäubungsmitteln der Mörder werden.
Dem Aussehen und der Stimme der Toten aus dem Weg zu gehen, ist eine immerwährende Schande, es hindert dich daran, ihre letzten Schritte und Spuren zu identifizieren, und genau das wollen die Mörder erreichen.
Ebenso unverzeihlich ist es, mit Hilf e eines Toten einen anderen Toten abzuschlachten, eine göttliche Regeln verletzende Gewalttat, genau wie mit einer Sprache eine andere zu ersticken!
Ein Toter kann eine Pappel sein, die sich sterbend und wieder sterbend in der Taklamakan-Wüste behauptet, er kann auch ein einstiger Fluss sèin, der sich nach dem Tod in einen Strich auf der Landkarte verwandelt.
Doch er kann ebenso ein an Alterschwäche krepierter Schlammfrosch sein, der ohne jede Schadenfreude Verwünschungen und Schwanengesänge von sich stösst.
Gebäude, das sind die Schachteln für Tote, anders gesagt, von Toten zum Genuss des Todes und der Toten entworfene und errichtete Gemeinschafts-Plattformen.
Welch erhabenes und heiliges Gefühl muss es sein, einen Tod zu konstruieren und zu errichten.
Manche Menschen sind einfache Tote, andere sind Tote von Toten und wieder andere Tote von Toten von Toten.
Die besten Toten sind jene, die direkt sterben, ohne zum Wahnsinn genötigt zu sein, oder im Gegenteil jene, die nach ihrem Tode noch immer Wahnsinnigen.
Das umfasst selbstverständlich auch jene nach Toten gierigen Toten.
Tote als Betrachter von Toten werden natürlich zuerst mit einem Hieb die Syntax des Todes zerschlagen und danach durch die Einteilung in die Kategorien “Paradies” und ,,Hölle” weitere Erläuterungen zum Tod abgeben.
Das Schlimmste ist, dass die Zuschauer plötzlich alles positive den Tod betreffende Vokabular auslöschen. Die Seelen der Toten werden auf diese Weise rat- und hilflos, damit verliert die Ehrfurcht vor dem Tod ihre Würde und ihren Glanz.
Was sind die Zuschauer gemein und schamlos!
Früher Morgen? im noch nicht geöffneten Vorhang klafft ein Spalt, der, wie aus einer Art Grossmut, dem Sonnenlicht in Gestalt des Zuschauers oder Mörders Zutritt zu meinem Bett gewährt, um danach sein heiliges Morden zu beginnen …
Oder das Sterben.

10.6.2006, CA 984, Sitz 4A
Über die Furcht
Furcht überkommt mich, wenn die letzten Sonnenstrahlen gleich e~ner Schlange lautlos und farblos verlöschen, wieder meine einsamen Gedanken denken zu müssen.
Ein schrecklicher Wunsch steigt in mir auf, wie ein streunender Hund, der sich hemmungslos auf der Strasse paaren möchte.
Irgendjemanden zu finden oder irgendjemandem aus dem Weg zu gehen, nur um zu beweisen: Nicht alle Menschen benehmen sich wie streunende Hunde.
In irgendeiner Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts packt mich die Furcht, ich spüre ein wahnsinniges Verlangen aufzubrüllen, aber stolpere in ein grenzenloses Schweigen, das wie vom Meeresgrund in mir emporsteigt, unendlich weich und unendlich scharf.
Wechselseitige Spiegelung von Leben und Tod?
Ich sehe Berg nach Berg, Fluss nach Fluss, Stadt nach Stadt sterben.
Auch meine Kirschen sterben, Frucht um Frucht, wie Tote schlagen sie regelmässig oder regellos auf dem Boden auf.
Und die Furcht dehnt sich darin fliessend in alle Richtungen.
lnsbesondere heim Geräusch eines regelmässig auf den Boden aufschlagenden Blindenstocks scheint sie noch unverrückbarer und absurder?
Am besten, wenn jemand, der mir nah ist, oder den ich Hebe, einen Becher tödlichen Scharlachrots reichen und auf philosophische Weise die Frage stellen würde: Muss eine verrottete Epoche notwendig verrotten, oder muss eine lüsterne Irdenwelt notwendig lüstern sein?
Mein Geliebter, sei ohne Furcht, wenn du mich mordest, denn ich bin nur ein Sporenpilz, dazu einer von der Sorte, die schon oft von Hundepisse gewässert wurde …
Gerade aus Furcht vor Verpestung wird jede Ecke von Hundepisse durchweicht, und die Leute tauschen gerne Hundepisse-GrüBe aus, sie schütten sich gegenseitig das Herz aus und sprechen den wahren Sinn der Furcht aus: Ich habe die Chance zu morden.
Komm mein Geliebter! Morde meine Stadt, me1n Dorf, meinen Säugling, meine Gedichte, meine Vergangenheit, und am Ende morde mich. Denn welche Art des Mordes auch immer, jede bedeutet mein Ende.
In einer allzu prosperierenden Epoche hat auch der Mord prosperierende Varianten, so weit, dass selbst der moralische Niedergang eines einzigen Vogels genügt, um eine ganze Population umzubringen,
so weit, dass ein Mensch, der im tiefsten Dunkel der Nacht aus Furcht die Pforte der Furcht öffnet, nicht mehr weiss, wie er sie schliessen soll.
Nun gut, fürchten wir uns gemeinsam, vollenden wir gemeinsam den Prozess des Tötens und getötet Werdens,
und sei es nur das Töten eines Gedankens mit Hilf e eines anderen, eines Geliebten mit Hilfe eines anderen, einer Sprache mit Hilfe einer anderen, einer Furcht mit Hilfe einer anderen!
Hierin erst liegt der Urgrund der Furcht.
Vielleicht rührt die Gleichgültigkeit dieser Vögel der Furcht gegenüber daher, class sie Jahreszeit und Zeitpunkt ihrer Geburt verabreden können, um plötzlich wie verfaulte Rüben auf dem Gemüsemarkt körbeweise in die Wolken zu schiessen.
Noch grossartiger ist, class sie ein grossflächiges kollektives Sterben verabreden können, mit einer Entschlossenheit, die jede Furcht vor Furcht hilflos macht.
Die Regenwürmer hingegen haben frühzeitig gelernt, sich mit absoluter Gemächlichkeit kriechend in die Zwischenschicht von Erdoberfläche und Erdtiefe zu retten.
Ihre Furcht ist schwer zu erforschen, vor allem, weil der Aufwand für ihre Existenz zu gering ist, um das Gen der Furcht eindringen zu lassen.
Ein einzelnes Gedicht mit Hilfe der Sprache zu ermorden, genügt nicht, um Furcht zu erzeugen, aber der Mord an einer Einzel- oder der Gesamt-Gedichtpopulation im Namen der Muttersprache reicht aus, um grossflächig Furcht zu provozieren und stachelt die Mordlust neuer Mörder an.
Zuerst wird aus Furcht gemordet, dann entsteht Furcht aus dem Morden.
Oh man in der einen oder anderen Stadt gemordet wird, hat keinerlei Einfluss auf die Zusammensetzung der Furcht.
Will man beweisen, class eine Art des Mordes ungerechter ist als eine andere, muss man erforschen, warum eine Art von Furcht mehr Furcht einflösst als eine andere.
Wenn eine Form der Kunst den Mord benötigt, um ihre Existenz zu verlängern, braucht man sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Wechselwirkung von Mord und Furcht funktioniert.
Ein im Licht einer einsamen Nacht sich betrinkender Kumpel kann als elementarer Ausdruck der Beziehung von Furcht und Mord gelten;
Auch ein Dichter, der wie eine Gottesanbeterin mit der Sprache kopuliert, um anschliessend ihrem Angriff zu kann als elementarer Ausdruck der Beziehung von Furcht und Mord gelten.
Noch mehr kann ein Richter, der sich, ohne auf Form und Prozessordnung Rücksicht zu nehmen, wie ein Zucht-Bock ungehemmt sexuellen Phantasien hingibt, als elementarer Ausdruck der Beziehung von Furcht und Mord gelten.
Ich werde sexuell phantasiert, deshalb werde ich ermordet, deshalb werde ich gefürchtet, und daher verwandle ich mich zwangsläufig in eine doppelköpfige Klapperschlange:
morden und gemordet werden, sich fürchten und gefürchtet werden, existieren und existiert werden, nichten und genichtet werden, lüstern und gelüstert werden, heucheln und geheuchelt werden …
brüllen und gebrüllt werden.

2.9.2006, 06: 14, Los Angeles
Der letzte überlebende Mensch
Ich weiss, dass die Krähe, die sich auf dem Dach des höchsten Hauses eingenistet hat, alle Menschen töten wird.
Aber sie wird sich einen letzten Überlebenden als Schosstier halten.
Nun, der Vorschlag lautet, zunächst sämtliche Dichter zu erschlagen, um zu verhindern, dass rüde Töne, schrill wie das Gejaule eines liebestollen Katers, und jedes Zärtlichkeitsbedürfnis tötender Schmerz die Stimmung kollektiver Tollheit verderben.
Daran anschliessend alle Philosophen und belesenen Menschen, um verhindern, dass Modernität und Zivilisation als Begründung für Begehrlichkeit dienen und Besitzergreifung den Status von freiem Geschlechtsverkehr erhält.
Umzubringen sind ausserdem sämtliche Prostituierte, vor allem die des Denkens, um für eine neue Generation den Weg zu einer neuen Form der Prostitution zu bahnen, den Markt freizuräumen, und den Machtgeilen, Niederträchtigen oder Räubern den Ehebruch zu erleichtern.
Ich, natürlich, darf und kann nicht getötet werden, weil ich der Komplice der Krähe bin.
Ich darf und kann nicht getötet werden, weil ich der letzte überlebende Mensch bin.
Als letzter überlebender Mensch wurde ich längst sorgfältig dekonstruiert und perfekt umgemodelt:
Ich bin, vor allem, unbedingt der letzte Dichter, das gestattet mir absolute Schamlosigkeit, gestattet mir, mit jedem beliebigen Herrn oder Gegner zu koexistieren, mit anderen Worten, auch mit jener Schrecken und Ehrfurcht . einflössenden Krähe.
Daher werde ich bei dieser Gelegenheit auch zum letzten Philosophen, zum letzten Vertreter der Gelehrsamkeit. Auf diese Weise brauche ich auf keine denkbare Widerrede mehr Rücksicht zu nehmen, kann nach Wunsch und Belieben jede Art von Lüsternheit und Begierde, Feindseligkeit und Hinterhältigkeit, Kontrolle und Bestrafung, als vernünftig im Sinne der Zivilisation, genauer gesagt, der modernen Zivilisation begründen, was bedeutet, die Vernünftigkeit und Rechtmässigkeit des Massenmords der Krähe anzuerkennen.
Was meine Existenz als letzter Sex-Anbieter oder SexKonsument angeht, so gehöre ich längst zu dieser Menschengruppe: im körperlichen Sinne unzüchtig bis zur letzten Konsequenz, im geistigen Sinne unzüchtig ohne jede Skrupel.
Jetzt kann ich es endlich geradeaus sagen: Ich sehne mich in Wahrheit schon lange danach, ein Gewaltmensch, ein Schurke, ein Räuber zu sein, bzw. bin es längst. Ich kenne alle Formen, Raffinessen und den Geschmack von Unzucht und Ehebruch in- und auswendig.
Als letzter überlebender Mensch werde ich auf folgende Weisen existieren:
Ich werde der aktive und passive Gespiele aller unzüchtigen Wünsche der verehrungswürdigen Krähe sein, hemmungslos und ohne jeden moralischen Widerstand. Ich werde als Gespiele der verehrungswürdigen Krähe sie unzüchtigen und von ihr geunzüchtigt werden;
Darüber hinaus werde ich einer Rattenpopulation als Scho:Btier bzw. Konkubine dienen, und der Krähe, nachdem wir wechselseitig unsere Lust aneinander ausgetobt haben, detailliert Bericht erstatten.
Oder ich werde wie Runde und Katzen auf den off enen Plätzen der Stadt und zwischen den Hochhäusern nach Bedarf mein Wasser abschlagen, ohne Angst, bestraft oder ins Asyl gesteckt zu werden. Natürlich muss das Eingangstor der Stadtverwaltung zu festgesetzter Stunde begossen werden, täglich einmal morgens, mittags, abends, bei Wind und Wetter;
Auf jeden Fall werde ich das Internet mit “Scheisskerl” oder “Hurensohn” zupflastern, ich muss ja weder obszönere Repliken noch das Eingreif en der Poli zei befürchten.
Ausserdem werde ich vor den Seelentafeln der ermordeten Schönen einen nackten Veitstanz aufführen, um meine Vitalität und Kraft unter Beweis zu stellen.
Das will heissen, der letzte überlebende Mensch hat das letzte Sagen in allen Fragen des Dschungel-Gesetzes bzw. des neuen Dschungel-Gesetzes.
Aus ziemlich schmutzigen Verhältnissen in noch schmutzigere zu geraten, verringert nicht unbedingt die aus der früheren Existenz verbliebenen Ängste.
Das enthebt mich – den letzten überlebenden Menschen – der Notwendigkeit, nach Art der Maden und Fliegen erneut die Existenzmöglichkeit eines letzten überlebenden Menschen zu begründen.
Kein Zweifel, werde ich – als letzter überlebender Mensch – wie ein liebes Frauchen von Katzen, Hunden, Mäusen und Fliegen angehimmelt und verhätschelt, doch für mich zählt nur die Gewogenheit der Krähe.
Nicht nur, weil sie mit der Stadt und den Hochhäusern ihre Existenz teilt, sondern mehr noch, weil wir uns längst insgeheim handelseinig geworden sind: Sie allein ist mein neuer Herr.
Sie wird die erforderlichen Kopulationen und Blutbäder moderieren, und sich, gemeinsam mit der Stadt und den Hochhäusern, zum Symbol einer anderen Zivilisation ausdehnen.
Man kann sagen, solange Stadt und Hochhäuser existieren, vergeht auch sie nicht. Sie werden sich um meinetwillen, dem letzten überlebenden Menschen, gegenseitig bestätigen.
Und mir, dem letzten überlebenden Menschen, wird für meine menschliche Weisheit, anders gesagt, für meine Fähigkeit zur Intrige, Respekt entgegengebracht.
Denn ich, der letzte überlebende Mensch, kenne in- und auswendig die Schliche und Wege ungehemmten Begehrens in Städten und Hochhäusern.
Uit:
Ying Luo, Kakerlaken-kunde. Gedichte. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackdermans. Mit einem Nachwort des Autors, Hildesheim 2013 (Georg Olms Verlag), pag. 11-29; 87-97

Zang Di
Di, Zang, Gesellschaft für Flugversuche. Gedichte. Aus dem chinesischen und mit einem Vorwort von Dong Li und Lea Schneider, München 2019, (Carl Hanser Verlag)
James Baldwin ist tot
Es fällt zu wenig Schnee. Eine einsame Warnung,
die sich durch die letzten Jahre schon zog, leise
wie ein Hass, der ohne Erläuterung bleibt.
Sobald der Schnee kommt, wird der Tod also
nach einem Opfer verlangen: Es wird
ein Körper sein müssen, der ihm widerspricht;
es wird ein Widerspruch sein müssen, der ihm
ein riesiges Hindernis wird. Was der Tod verlangt,
ist ein Körper, den er schon immer ertragen musste,
und James Baldwins Körper
erfüllt dieses Kriterium: gegen den Schnee
kann man sehen, dass er grösser ist
als der Tod; als ein grosszügiges Opfer,
das erst schwarz wird im Schnee, und dann
wird es auch der Schnee in seinem Geist.
(Dezember 1987)
lnnere Verletzungen
Wir sind jung – soll heissen: wie Pflanzen in der Wüste,
empfänglich für die Lügen, die der Regen erzählt.
Alles, was nicht wie Regentropfen fallen, was nicht
auf der Haut, deren Nutzung wir uns mit der Wüste teilen,
winzige Kuhlen hinterlassen kann, vergrössert entsprechend
den Anteil von Dunkelheit in der Welt. Ich kann
nicht mal ein Zwanzigstel von dir sehen.
Zu viele Lügen sind jünger als wir.
Wir aber sind so verständnislos, so schlecht darin,
ein Gegenüber von seinem Aussehen
zu trennen – obwohl uns etwas trennt, das ganz sicher
kein unüberwindlicher Abgrund ist.
Gäbe es einen, wette ich, dieser Abgrund wäre
in Wahrheit ein Glücksfall – wenn man ihn
mit dem Nihilismus jeglicher Liebe vergleicht.
Zu viele Wahrheiten sind älter als wir.
Stolz bin ich höchstens darauf, class ich niemals
stehengeblieben bin, und meine Wahrheit sich
entsprechend anstrengen muss, mein Tempo zu halten.
Du wirst es kaum noch ertasten, aber die Hand,
die ich in deine Richtung strecke, hatte sie
schon überzogen mit ihrem Rost.
(1988, 1991)

Die Lösung
Und das, was zusticht, ist eher kein Messer.
Eine eher stumpfe Berührung – aber die Stelle, die sie trifft
versteht sofort, worum es geht: Sofort beginnen
Schmerz und Tod in meinem verlassenen Körper
einen Wettkampf, mit dem Ziel,
als erster am Ende der Zeit zu sein.
Sofort bin ich, so plötzlich so klein geworden,
nur ein weiterer, namenloser Schauplatz.
Es regnet also nicht, es blutet, und zwar weit hinten in einer Höhle,
in der es ein Becken braucht, das wirklich kippt –
einen Abhang, der sofort ins Rutschen gerät.
Ich brauche genug Tritte zum Aushalten, genug Risse
zum Ausweiten, um dieses Geheimnis wieder hinzukriegen.
Ich war ein guter Geliebter; bestrafe mich nicht
für die zerstörte Liebe, und nicht für die leichte Zeit.
Ich habe – zeitgleich mit allem Spielzeug der Welt –
nackt, im Dunkeln, die letzte Zigarette geraucht.
Und das, was man rauszieht, ist dann vielleicht
doch ein Messer; aber das, was heruntertropft,
nachdem das Licht aus ist, klebt kein bisschen heim Anfassen,
und wenn man daran leckt, schmeckt es älter als Blut.
(April 1988, Dezember 1990)
In memoriam Wittgenstein
Wenn jemand stirbt, fliegen die Vögel weiter.
Ich beobachte diese Szene.
Wenn die Szene vorbei ist, fliegen die Vögel immer noch.
Um Dinge dieser Art werde ich mich kümmern.
Wittgenstein ist ein Vogel.
Früher war er das nicht, aber jetzt ist er es.
Wenn früher jemand starb, hatte er viele Möglichkeiten,
und nur sehr wenige entschieden sich, ein Vogel zu werden.
Natürlich, ich kann es auch so erklären
früher war ich ein Vogel, aber jetzt
bin ich jemand, der Vögel über sich herfliegen sieht.
Fliegen ist so arglos, wie Schnee im freien Fall.
Ich beobachte das weiterhin,
genauso wie Wittgenstein weiterhin genial ist,
im Namen eines Vogels. Der Raum ist so schön
als sei auch der Raum schon einmal gestorben.
(Mai1994)
Über die Möglichkeit, auf zwei Strassen
gleichzeitig zu gehen
Als wäre die Nacht mit schwarzem Sesam bestreut.
Mondlicht entstaubt deine Vorgeschichte, zieht den Knoten fester
vorm Gesetz des Dschungels und seinem Gesicht.
Als wäre es so still, class der Extremismus der Farben
eine wilde Beere sein könnte, die man sich in den Mund steckt.
Ohne die Hilfe von Geistern, und ohne daran zu glauben,
ist es möglich, auf zwei Strassen gleichzeitig zu gehen.
Und wie du auf der einen Strasse gehst, schaust du skeptisch rüber
zu dir, wie du auf der anderen Strasse gehst.
Wenn man wirklich hungrig ist, schmeckt das Brot der Zeit
nach einer groBen Entfernung. Jeder Geschmack trägt Verantwortung.
Und danach ist das Wesentliche ein Phänomen des Wesentlichen,
das impliziert ist in uns. Oder zumindest involviert mit dir.
Auch die grossen Toten werden verblassen.
Aber das absolute Ich – als läge es am Absoluten – verwahrt
eine bestimmte Nüchternheit; in dieser Welt bleibt sie nutzlos,
zeigt sich noch nicht als Geschenk. Letzten Endes ist es also
nicht unmöglich, ganz ohne Bruch zu sein, sondern unglaubwürdig.
(Juni 1996)

Aus der Reihe: Die ursprüngliche Rolle
Vor ein paar Jahren hat mich mein Körper verpasst.
Das hätte wirklich nicht passieren sollen, hat sich seitdem aber
de facto mehrmals wiederholt. Mein Körper ist mein Wunder,
obwohl das sehr überheblich klingt. Was ich damals eigentlich
dachte, war,
dass Wunder die Freiheit einschränken, und ausserdem kann es gut sein,
dass sie nur eine bestimmte Form von Fäulnis sind. Mein Körper,
hängend,
ein reifer Apfel, der jeden Augenblick fällt.
Auf deinen Kopf, per Zufall,
wodurch die Welt vielleicht ein weiteres Mal aufgeklärt wird.
Ich liege im Gras,
auf der Seite, die Sommerinsekten denken um mich herum.
Ich mag Dinge mit Rhythmus.
Den Insekten nicht üben müssen, sie denken im Takt,
in dem sich offenbar auch das Schicksal bei der Klinke packen lässt.
Mit dabei: Eine halbe Flasche Wein. Ich kaue auf Trockenfleisch,
auf dem Leben eines Yaks. Ich verbrauche ein Ich,
das mich nicht mehr verpassen wird. Mein Körper
waren drei Yaks, die gerade das Tal verliessen,
in Aba, wo die Flüsse aus Schnee und durchsichtige Saiten sind,
sie schmelzen Erinnerungen, die fester sind als Granit.
Mein Körper hat mich verpasst, das heisst, von Anfang an
bestand mein Körper aus dem Körper eines Mannes
und dem Körper eines Wiedergeborenen.
Das Glück, das beide mir bringen, ist so widersprüchlich wie die
Wahrheit.
Aber was blind ist, ist niemals der Körper selbst.
Weisst du, ich hätte das viel besser erklären können.
(Mai 2010)
Uit:
Di, Zang, Gesellschaft für Flugversuche. Gedichte. Aus dem chinesischen und mit einem Vorwort von Dong Li und Lea Schneider, München 2019, (Carl Hanser Verlag)
