
[Georg Groddeck]
Entwurf
Im Jahr 1933 schrieb der Baden-Badener Direktor einer Klinik, der Massagearzt Georg Groddeck, einen Brief an den neuen Reichskanzler mit dem Ersuchen, den unerhörten Vorgängen, die er beobachte (wie er sie beobachten konnte, obwohl das so vielen Millionen nicht gelang, bleibt ein Rätsel), Einhalt zu gebieten. Einige Zeit später wurde er von Freunden gewarnt, sein Brief batte offenbar den Adressaten und die Gestapo erreicht, und sie überredeten ihn, zu fliehen. 1934 starb er in der Schweiz. Auf den Scheiterhaufen in Deutschland brannten seine Bücher, die heute wieder im Limes Verlag erscheinen, dem nicht genug zu danken ist und der hiermit ausdrücklich gebeten wird, diese Ausgabe zu vervollständigen.
In der Zwischenzeit wurde sein Gesamtwerk in England gedruckt und beeinflusste unter anderem, wenn ich richtig informiert bin, auch einige Schriftsteller, die Generation Henry Miller, W. H. Auden, und zuletzt Lawrence Durrell, der zu der deutschen Ausgabe einen Essay geschrieben hat. Der Name Durrell hätte nun dem Groddecks vielleicht hier wieder ins Licht verhelfen können, aber offenbar ist das nicht geschehen, denn auch ein paar Ausschnitte aus Kritiken bezeugen noch nicht, dass Bücher leben, dass ein Autor zurückgekommen ist ins Gedächtnis.
Es ist sehr schwer, eine vernünftige Kritik über seine überaus komplexe Persönlichkeit zu schreiben. Ein glänzender Schriftsteller, den man aber auch lesen kann, wenn man ein paar Volksschulklassen absolviert hat, seine Prosa ist witzig, trivial, grossartig, es gibt Stellen, wo man, ohne je mit einer Arteriosklerose [zu tun] zu haben, plötzlich darüber zu lesen anfängt, nicht wegen der Krankheit mit diesem Etikett, sondern weil es zu einem ununterbrochenen Dialog zwischen dem Arzt und dem Patienten oder Expatienten oder künftigen Patienten [kommt], denn krank waren wir ja alle, sind wir alle, werden wir alle, und da erfahren [ wir], was wir in keiner Sprechstunde zu hören bekommen. Es ist ein sehr aufreizender, sehr grausamer, sehr zärtlicher Partner, und die Zeugnisse, die er von seinen ehemaligen Patienten gibt, sind denn auch merkwürdig. Groddeck, der die Massage weiter betrieb und Psycho-Analyse, unabhängig von seinen Entdeckungen bei Freud und seiner grenzenlosen Bewunderung für den Doktor aus Wien, das Genie [—]. Dass Groddeck selbst ein Genie war, ist ihm womöglich nicht in den Sinn gekommen. Heute würde man ihn zu den Vätern [—] oder vielleicht den bedeutendsten Vorläufer der Psychosomatik nennen. Aber damit ist immer noch nichts gesagt. Vor allem sollte jedem, zu seinen Hustentropfen oder seiner Spritze, das alte >Buch vom Es< mitgeschrieben werden. Aber wenn man »Pflichtlektüre« hört, stellt man sich schon etwas Langweiliges vor, und eines ist Groddeck nie —langweilig, doktrinär, es fallen ihm tausendein Ding ein, aber er kommt nie aus dem Konzept, ob er ein Bild von Leonardo ansieht von . einer Geschichte erzählt, als Patrick Troll verkleidet an die imaginäre [Freundin] seine Briefe schreibt, die [im] >Buch vom Es< stehen, das zu den Klassikern dieses Jahrhunderts gehören wird.
(….) Groddeck war un bekümmerter als Freud, er musste sich kein wissenschaftliches Ansehen sichern er ist als Theoretiker schwächer, aber in einem Gedanken so kühn dem Hauptgedanken, < ••• >.
Was Groddeck gedacht hat, ist nicht überholt worden, auch nicht von der psychosomatischen Medizin, die oft gescholten, schon der Definition nach, auch einen langen Weg gegangen ist. Denn in diesem Hauptgedanken kann kein Fortschritt der Medizin ihn übertreffen.
Die wenigen Torheiten, die in diesen Büchern stehen, die man nicht riechen und leiden kann, sind nur das kleine Missbehagen, das man jedem Grossen gegenüber empfindet der nicht vollkommen ist. Aber Groddeck wollte nicht nur [nicht] vollkommen sein, er hat (für] alles, was er geschrieben hat, das grosse Gelächter der Unzulänglichkeit [ sic!] gehabt. Seiner eigenen, der Menschen, der Schriftsteller, von denen er einige so herrlich interpretiert hat wie Goethe oder lbsen, respektlos, weil furchtlos und nie ohne Ehrfurcht. Die Briefe an die Freundin sind doch das Schönste.
Immer ertappt, überführt er, liefert niemand aus, die Lüge ist für ihn ein Faktum wie Leben, und es ist auch gleichgültig, ob man einem Arzt die Wahrheit sagt oder nicht. Vielleicht haben die Heiligen in diesem Jahrhundert diese Sprache führen müssen, die eines Clowns und die eines Wissenschaftlers. Groddeck hätte wahrscheinlich auch lieber mit den Vögeln und den Fischen geredet, aber es ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als seine Heiterkeit und Weisheit an diese komische und fürchterliche Spezies Mensch zu verschwenden, mit der er sich einverstanden erklärt hat, der [er] sich als Versuchsobjekt zur Verfügung stellte, um nicht der letzte, sondern der erste unter seinen Kranken zu sein.
Er hat seinen weissen Kittel als eine Farce betrachtet und das Ich des Kranken als Farce. Zwischen den beiden Demaskierungen ist ihm der revolutionäre Blick gelungen, der kindhafte, kindliche erste auf die Phänomene, die es schon seit jeher gibt. Er war ein Träumer ein grosses Kind, er war ein wunderbarer Lügner den seine wundervoll Lügenden
Kranken bezaubert haben und nur er war der Kaiser Groddeck, wie Peer Gynt der Kaiser war in dem er sich selber entdeckt hat, nicht bloss in einem Stück von Ibsen, sondern in einem, das er dazugeschrieben hat und das gleich lesenswert ist. Und er hat in jedem Augenblick die Wahrheit gesagt. Das können nur die Lügner.
Wer also wird diese Bücher nicht aufs Rezept schreiben? Und wer wird sie sich nicht selber verschreiben?
Es muss nicht unbedingt ein Arzt besser schreiben können, weil er besser denken [kann] als die meisten, aber in diesem Fall ist das zweifellos eine Koinzidenz von Schriftstellerei und Forschen und Erforschen in einem altmodischen Sinn, der hier einen neuen bekommen hat. Denn während es mit den Satelliten funktioniert und alles weitergeht hier geht es nicht sehr weiter, und der Mensch ist bekanntlich ein dunkles Wesen. Das Unerforschte bleiben wir. Es, würde Groddeck sagen. Das sei ihm unbenommen, wie er es versteht, er hat es richtig verstanden.
Noch immer weiss niemand, was die Psychosen sind, und noch immer weiss niemand, was der Schnupf en ist. In einer so mittelalterlichen Zeit ist es angenehm, sich mit einem der ersten Aufklärer beschäftigen zu können. Man wird, ohne viel zu wissen, ein Mitverschworener, weil man weiss, dass man nichts weiss, und früher oder später gezwungen wird, sich ein paar Gedanken darüber zu machen. Jemand hat geschrieben: Groddeck hatte einige kongeniale Patienten. Es müsste heute auch Ärzte geben, die kongeniale Patienten haben, denn man kann ja niemand heilen, man kann nur gemeinsam weiterkommen. Miteinander jedenfalls, denn es gibt nicht da den Arzt und dort den Patienten, den Leidenden, es gibt nur diese abstruse Symbiose, über die Freud und nebenbei auch Groddeck genug gesagt haben.
In diesem Punkt waren sie sich einig. In einer bürokratisierten Medizin ist das nicht mehr vorstellbar es kann nur noch die Glücksfälle geben, die den weitren Weg entscheiden können. Die Revolution hat wieder einmal ihre Kinder gefressen. In dem Moment, wo man anfing, zum erstenmal etwas zu kapieren, nach Jahrhunderten von Aberglauben und Düsternis also Unwissenschaftlichkeit, ist auch diese Wissenschaft, die jeden von uns betrifft, dazu verdammt zu kapitulieren. Mit Krankenzetteln, Abrechnungen, Zehnminutenordination. Und man weiss doch heute, man weiss etwas mehr. Auch der Doktor X, der sich abhetzt und Blutdruck misst und Herzfrequenz feststellt, weiss dass die Medizin etwas anderes ist, aber dazu reicht ihm die Zeit nicht, das ist kein Vorwurf, er muss ja zum nächsten Herzinfarkt. Und hat 5 Mark verdient, wenn’s hochkommt.
Und so blöde ist auch kein Dorfbader mehr, dass er es nicht wüsste, halbwegs, was Kranksein ist. Die guten [ Ärzte] haben es übrigens immer gewusst, es waren nicht immer die Spezialisten, sondern sehr oft die kleinen Ärzte, die ihre Patienten kannten und das Wort Psycho-Analyse nicht einmal aussprechen konnten. Aber gewusst haben sie es.
Die Medizin hat, wie einige andre Wissenschaften, ihre ersten grandiosen Jahrzehnte hinter sich. Das heisst aber zugleich, dass sie im Anfang ist. Wie Frühsozialismus, Frühchristentum, irgendwas, das mit Früh anfängt. Nun kann man sich zur Not aus vielen Wissenschaften heraushalten. Man versteht auch nicht und will nicht verstehen, aus Selbstschutz. Auch die Ärzte, die unseligen, aus Selbstschutz.
Groddeck hatte es nicht mit » Nervenkrankheiten« zu tun, die Freud selektiert und klassifiziert und mit der Schaffung der Neurosenlehre und seiner Analyse [—] ; er war ein gewöhnlicher Arzt, hatte [mit] ganz gewöhnlichen Krankheiten zu tun, mit Lungenkranken und Herzkranken, mit Rheumaleiden und Kniegelenk, mit Bruch und Arteriosklerose, mit Nieren und Darm. Er hat sein Handwerk bei dem grossen Schweninger erlernt, dem Leibarzt Bismarcks, und es ist [ zu] vermuten, dass er für seine Zeit viel erlernt hat.
Was er sicher nicht erlernen konnte das war sich fragen warum denn seine Kranken krank seien und was denn die Krankheit sei. Warum hat jemand Schnupfen, warum hat jemand Syphilis, warum ist jemand magenkrank. Was bedeutet das, was heisst das. Und wenn man weiss, was es bedeutet, wie behandelt man es. Und welche Rolle spielt der Kranke dabei.
Groddecks erste und kühnste Vermutung hat sich als richtig erwiesen, es gibt keine Krankheit, die nicht vom Kranken produziert wird, auch keinen Beinbruch, keinen Nierenstein. Es ist eine Produktion, wie eine künstlerische, und die Krankheit bedeutet etwas.
Sie will etwas sagen, sie sagt es durch eine bestimmte Art zu erscheinen, zu verlaufen und zu vergehn oder tödlich zu enden. Sie sagt das, was der Kranke nicht versteht, obwohl sie sein eigenster Ausdruck ist, und man kann dennoch den Kranken dazu bringen, wenn es nötig ist [ zu erkennen] (Groddeck hielt es nicht in allen [Fällen] für nötig zu analysieren oder nur kurz, manchmal aber lange ), was er damit sagen wolle. Das scheint schwierig für den Kranken zu sein, denn wie [ soll] er wissen, wie er zu einer Grippe kommt, es gibt ja bekanntlich Mikroben. Für Groddeck ist das Nonsens. Eine causa externa für Krankheiten gibt es nicht. Für Groddeck ist auch eine Infektion nichts weiter als die ausdrückliche Suche des Es, denn er ist es, der das berüchtigt-berühmte Wort geprägt hat, und Freud hat es von ihm übernommen und auf andere Weise verwendet (ein Kapitel für sich).
Dieses Es, das Unbewusste, etwas nur deswegen Geheimnisvolles, weil [das] Leben es ist, weil die Natur es ist, denn ein andres Geheimnis würde Groddeck, der von Durrell fälschlich als Philosoph oder Metaphysiker bezeichnet wird, ablehnen, ein Mann, der so klar denkt und die kompliziertesten Sachverhalte einem Kind erklären und anschaulich machen kann, braucht keine Geheimnisse — er stellt nur etwas fest, von dem er nichts weiss, dessen Auswirkungen allein er kennt -und das Es ist für ihn ein Hilfswort, es ist kein Ding an sich, sondern es soll heissen, da ist etwas, das ist da und stärker und viel stärker als das Ich, denn das Ich vermag ja nicht einmal willentlich einzugreifen in die Atmung, in die Verdauung, in den Kreislauf das Ich ist eine Maske, die Hoffart, mit [der] jeder von uns herumgeht, und wir werden vom Es regiert, das Es tut das, und es spricht durch die Krankheit in Symbolen. Wieder ein gefährliches Wort. Für Groddeck nicht. Das Symbol und die Sache sind eins. Ein Beinbruch ist nicht das Symbol für etwas, sondern der Beinbruch ist es, was gesagt wird, und der Kranke kann sehr oft auch spontan sagen, warum er sich dieses Bein gebrochen hat.
Groddecks Methoden müssen noch vor zehn Jahren belustigend geklungen haben. Heute glaube ich, dass man einige wieder zu schätzen wüsste.
Er muss, vom Helfen besessen, ein sehr grober Arzt gewesen [sein]. Grob mit einem Vorbehalt. Er wusste, warum er es war. Seine Todeskandidaten legte er nicht ins Bett, urn sie tagelang weitersiechen zu lassen, er liess sie im Sonnenschein spazierengehen, bis zur letzten Sekunde er hatte einen zu grossen Respekt [vor dem] Leben, und seine andren Patienten, die Lebenskandidaten, mit denen sprang er oft reichlich grob um, einer seiner berühmtesten Patienten und Bewunderer, der Graf Keyserling, schreibt darüber: »So heilte er durch eine Kombination von Psychoanalyse und Massage, bei welcher Weh-Tun eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte: Aus der Abwehrbewegung gegenüber dem Schmerz wuchs bei seinen Patienten — denn zu ihm kamen nur solche, welchen Groddeck kongenial war — der Heilungswille, und zugleich fiel ihm beim akuten Schmerz, durch stichwortartige Fragen auf gerufen, allemal zur Kur Dienliches ein.«
Diese scheinbare Grobheit verdankte er seiner enormen Intuition. Wenn man weiss, was einen Kranken krank macht, kann man ihm, so oder so, helfen. Groddeck hat die Massage zeitlebens als Methode beibehalten, nicht weil er an sie glaubte, er hielt jede Methode für richtig. Und er hielt die Analyse für richtig, zu der er allein gekommen [war], unabhängig von Freud, obwohl er später immer wieder auf Freud hinweist.
Was er mit ihm gemeinsam hatte, das war weniger, als [es] den Anschein hat; es war vielmehr die Medizin, die ein paar grosse Anstösse nötig hatte und diese Genies brauchte. Wenn man mit einem Autor ein paar Monate zugebracht hat, mit ihm so oft sich zerstritten hat, mit ihm sich so befreundet hat, ist es schwer, einen vernünftigen Schluss zu finden. Diese Kritik ist keine Kritik. Die Kritik wird erst stattfinden, sie ist auch nötig. Sie ist ein Hinweis, eine Aufforderung, ein Wunsch, einen Autor mit anderen zu teilen, den man lieber für sich behalten hätte, eifersüchtig, und weil man sich von einer Eifersucht befreien muss.
Ingeborg Bachmann, Werke 4
pag. 346-353
Bachmann, Ingeborg, Werke, (4 Bd.) Herausgegeben von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, München Zürich 2010, (Piper Verlag)
