
10. Wie die Liebe auf das Drängen der Vernunft hin diese Seele im Hinblick auf die Tätigen mit zwölf Namen benennt.
DIE VERNUNFT: Nun also, Liebe!, spricht die Vernunft. Nennt mir diese Seele bei ihrem richtigen Namen, verschafft den Tätige ein wenig Kenntnis über sie!
DIE LIEBE: Sie kann, spricht die Liebe, mit zwölf Namen benannt werden. Es sind dies:
Mehr als Wunderbare,
Unerkennbare,
Schuldloseste unter den Töchtern Jerusalems.
Diejenige, auf welche die ganze Heilige Kirche gegründet ist.
Durch Erkenntnis Erleuchtete,
durch die Liebe Geschmückte,
die im Lobpreis Lebendige.
Aus Demut ganz Vernichtigte,
durch den Willen Gottes im göttlichen Sein Befriedigte,
eine, die außer dem Willen Gottes nichts will.
Von der göttlichen Güte Erfüllte ohne Mangel,
Gesättigte durch das Einwirken der Dreieinigkeit.
Ihr endgültiger Name heißt: Vergessen.
Diese zwölf Namen gibt ihr die Liebe.
DER LAUTERE ADEL: Und zweifellos, es geschieht zurecht, wenn sie so benannt wird, spricht der lautere Adel; denn dies sind die ihr mit Recht zustehenden Namen.
DIE VERNUNFT: Also denn, Liebe!, spricht die Vernunft. Ihr habt diese Seele mit vielerlei Namen benannt. Die tätigen Menschen erhalten durch sie einige Kenntnis, und wäre es auch nur eine durch das Vernehmen dieser sehr edlen Namen, mit denen ihr sie benannt habt.
11. Wie die Liebe auf Verlangen der Vernunft den Beschaulichen Kenntnis gibt van dieser Seele, indem sie neun Punkte erklärt, die bereits erwähnt wurden.
DIE VERNUNFT: Wohlan, Liebe!, spricht die Vernunft. Jetzt bitte ich euch für die Beschaulichen, die fortwahrend in der göttlichen Erkenntnis zuzunehmen wünschen und die im Liebesverlangen sind und verbleiben, ihr mochtet ihnen in eurer Freundlichkeit die neun Punkte darlegen, die ihr vorhin erwähnt habt, die neun Punkte, die jene Seele betreffen, welche nach der edlen Liebe verlangt, in der die (Nächsten-) Liebe wohnt und ihren Sitz hat in einem vernichtigten Leben, durch das die Seele der bloßen Liebe überantwortet ist.
DIE LIEBE: Vernunft, spricht die Liebe, so zählt sie auf!
DIE VERNUNFT: Der erste Punkt, spricht die Vernunft zur Liebe, den ihr genannt habt, ist, dass keine solche Seele aufzufinden sei.
DIE LIEBE: So ist es, spricht die Liebe. Das ist so zu verstehen: Eine solche Seele weiß in sich nur van einer Sache, nämlich von der Wurzel aller Übel und der Menge all der Sunden ohne Zahl, ohne Gewicht und ohne Maß. Die Sünde jedoch ist ein Nichts, und diese Seele ist ganz aufgewühlt und erschrocken durch ihre scheußlichen Fehler, die weniger als nichts sind. Und in dieser Erkenntnis ist diese Seele weniger als nichts, insoweit es auf sie ankommt. Daraus kann man schließen, dass man diese Seele nicht auffinden kann, denn eine solche Seele ist aus Demut so ganz zunichte geworden, dass nach ihrem eigenen richtigen Urteilsspruch keine Kreatur, die je gesündigt hat, so große Qual verdiente, auch nicht so große Schmach ohne Ende, wie sie, selbst wenn Gott nicht mehr als ein Tausendstel eines einzigen unter ihren Fehlern ahnden wollte. Eine solche Demut ist wahre und vollkommene Demut in der vernichtigten Seele und keine andere.
Der zweite Punkt besteht darin, dass diese Seele sich durch den Glauben rettet ohne Werke.
DIE VERNUNFT: Herrje um Gottes willen!, spricht die Vernunft. Was soll das heißen?
DIE LIEBE: Das bedeutet, spricht die Liebe, dass eine solche vernichtigte Seele in ihrem Inneren durch die Tugend des Glaubens der Massen große Erkenntnis hat, dass sie damit innerlich so beschäftigt ist mit dem, was der Glaube ihr zu verwalten überlassen hat von der Macht des Vaters, der Weisheit des Sohnes und der Güte des Heiligen Geistes, dass nichts Geschaffenes in ihrem Gedächtnis wohnen kann. Es hat sofort zu weichen, wegen der genannten Beschäftigung, welche die Fassungskraft der vernichtigten Seele ganz einnimmt. Diese Seele versteht nicht mehr zu wirken, und sie ist sicherlich auch hinreichend entschuldigt und gerechtfertigt, wenn sie ohne Werke glaubt, dass Gott gut und unfasslich ist. Sie erlangt das Heil ohne Werke, da der Glaube jedes Werk übersteigt, nach dem Zeugnis der Liebe selbst [Lk 10,38-42; Rom 3,28].
Der dritte Punkt ist, dass sie einzig in der Liebe besteht.
DIE VERNUNFT: Herrje, um Gottes willen, Frau Liebe!, spricht die Vernunft. Was soll das heißen?
DIE LIEBE: Das bedeutet, spricht die Liebe, dass diese Seele keinen Trost, keine Anhänglichkeit, keine Hoffnung durch ein von Gott erschaffenes Geschöpf hat, weder im Himmel noch auf Erden, einzig nur in der Güte Gottes. Eine solche Seele erbettelt nichts und erbittet nichts vom Geschaffenen. Sie ist ein Phönix, der allein bleibt; denn diese Seele besteht allein in der Liebe, die sich selbst genügt.
Der vierte Punkt besteht darin, dass diese Seele nichts um Gottes willen tut.
DIE VERNUNFT: Herrje, um Gottes willen!, spricht die Vernunft.
Was soll das heißen?
DIE LIEBE: Das heißt, spricht die Liebe, dass Gott mit ihrem Werk nichts zu tun hat und eine solche Seele sich nur mit dem zu befassen hat, mit dem Gott zu tun hat. Aus sich selbst macht sie sich nichts, auf Gott geht sie ein, der sie mehr liebt, als die Seele sich selbst zu lieben vermochte. Diese Seele hat einen so großen Glauben in Gott, dass sie keine Angst hat davor, arm zu sein, wo doch ihr Freund reich ist. Der Glaube lehrt sie, dass sie Gott so finden werde, wie sie ihn erhofft. Und sie hofft im Glauben, dass er ganz reich sei, weshalb auch sie nicht arm bleiben kann.
Der fünfte Punkt besteht darin, dass diese Seele es nicht unterlässt, für Gott etwas zu tun, wenn sie es tun kann.
DIE VERNUNFT: Herrje, um Gottes willen, Liebe! spricht die Vernunft. Was soll das heißen?
DIE LIEBE: Das heißt, spricht die Liebe, dass diese Seele nichts zu tun vermag als nur den Willen Gottes, und daher kann sie auch nichts anderes wollen. Und darum unterlässt sie es nicht, etwas für Gott zu tun. Denn sie lässt nichts in ihr Denken eindringen, das gegen Gott wäre, und darum unterlässt sie nichts, das sie tun konnte, um Gottes willen.
Der sechste Punkt ist, dass man sie über nichts belehren kann.
DIE VERNUNFT: Herrje, um Gottes willen!, spricht die Vernunft. Was soll das heißen?
DIE LIEBE: Das heißt, dass diese Seele von so großer Standhaftigkeit ist, dass, wenn sie selbst alle Erkenntnis aller Kreaturen, die je waren, die sind und die sein werden, hatte, ihr dies als ein Nichts erschiene im Vergleich zu dem, den sie liebt, der niemals erkannt wurde und nie erkannt werden wird. Diese Seele liebt mehr, was in Gott ist – das, was niemals verschenkt wurde und nie verschenkt werden wird -, als das, was sie hat und was sie bekäme, wenn es sein könnte, dass sie die ganze Erkenntnis erhielte, die alle Kreaturen zusammen je haben, die jetzt sind und die noch sein werden.
DIE SEELE: Und dies ist noch nichts, spricht diese Seele, im Vergleich zu dem, wie es sich verhält. Doch darüber kann man nichts sagen.
DIE LIEBE: Der siebente Punkt ist, dass man ihr nichts nehmen kann.
DIE VERNUNFT: Herrje, um Gottes willen, Liebe!, spricht die Vernunft. Sagt, was das zu bedeuten hat!
DIE LIEBE: Was dies bedeutet?, spricht die Liebe. Aber was wollte man ihr denn wegnehmen? Es ist gewiss: Man vermochte ihr nichts zu nehmen. Denn nähme man dieser Seele die Ehre, den Reichtum und die Freunde, auch Herz und Leib und Leben, so nähme man ihr noch immer nichts, sofern nur Gott ihr bleibt. Daraus erhellt, dass man ihr nichts zu nehmen vermag, wieviel Kraft man auch immer hätte. Der achte Punkt ist, dass man ihr nichts geben kann.
DIE VERNUNFT: Liebe, um Gottes willen!, spricht die Vernunft. Was soll das heißen, dass man ihr nichts geben kann?
DIE LIEBE: Was es heißen soll?, spricht die Liebe. Und was sollte man ihr denn geben wollen? Gabe man ihr alles, was je gegeben wurde und noch gegeben wird, so wäre dies nichts im Vergleich zu dem, was sie liebt und immerfort lieben wird, es müsste denn Gott selbst sein.
UND DAZU SAGT DIE SEELE: Frau Liebe liebt durch mich und wird immer durch mich lieben.
DIE LIEBE: Mit Verlaub, spricht die Liebe, dabei bin ich noch nicht! Wir meinen, spricht die Liebe für die Zuhörer, dass Gott lieber das Plus dieser Seele in sich selbst liebt als das ihr eigene Weniger!
DOCH ERWIDERT DIESE SEELE: ES gibt da kein Weniger! Es gibt da nichts, außer das Alles. Und dies kann ich ruhig behaupten und sage damit die Wahrheit.
DIE LIEBE: Ich behaupte weit mehr, spricht die Liebe. Hätte nämlich diese Seele die ganze Erkenntnis und die Liebe und den Lobpreis, welcher der göttlichen Dreieinigkeit je erstattet wurde und noch erstattet werden wird, so wäre auch dies noch nichts im Vergleich zu dem, was sie liebt und immer lieben wird. Auch wird sie zu dieser Liebe nie je durch Erkenntnis gelangen!
DIE SEELE SPRICHT ZUR LIEBE: O, ganz gewiss nicht, liebenswürdige Liebe!, spricht die Seele. Auch nicht den mindesten Punkt erreiche ich ohne das Plus meiner Liebe! Denn einen anderen Gott als den, von dem man nichts vollkommen erkennen kann, gibt es nicht. Doch dieser ist einzig und allein mein Gott, er, über den man kein Wort zu sagen vermag, den selbst all jene im Paradies nicht in einem einzigen Punkt zu erreichen vermögen, wieviel Erkenntnis von ihm sie auch erlangen mögen. Und in diesem Plus ist inbegriffen, spricht diese Seele, die höchstmögliche Abtötung der Liebe meines Geistes, und darin besteht die ganze Herrlichkeit der Liebe meiner Seele, und sie wird ohne Ende darin bestehen, wie bei all jenen, die je sich selbst verstanden.
Dieser Punkt ist leicht anzuhören, spricht diese Seele, im Vergleich zu dem weitaus Größeren, von dem niemand spricht! Ich mochte wohl davon reden, weiß aber nicht, was darüber sagen. Nichtsdestotrotz, Frau Liebe, spricht sie, meine Liebe ist solcher Meinung, dass ich es vorziehe, schlecht Geredetes über euch zu hören zu bekommen, als dass man von euch gar nichts sagte. Und zweifellos, dies tue ich nun: Ich spreche schlecht. Denn alles, was ich darüber aussage, ist nichts anderes als schlecht reden van eurer Güte. Doch was immer ich davon schlecht rede, ihr werdet es mir zu verzeihen wissen! Denn, Herr, spricht die Seele, jener spricht gut schlecht über euch, welcher ständig van euch redet, selbst wenn er niemals etwas über eure Güte aussagen kann. Und eben das sage ich zu euch über mich selbst: Ich höre nicht auf zu reden über euch, sei es durch Fragen, sei es durch Nachsinnen. Oder ich höre herum, ob man mir über eure Güte irgend etwas mitteilen könne. Aber je mehr ich über euch reden höre, um so mehr bin ich verdutzt. Freilich, es wäre für mich auch eine große Beleidigung, gäbe man mir zu verstehen, dass man mir etwas beizubringen vermochte. Denn es täuschen sich jene, die es vermeinen. Ich bin nämlich dessen gewiss, dass sich darüber nichts aussagen lässt. Und so es Gott gefällt, werde ich mir nie Falsches für Wahres beibringen lassen, und ich will niemals falsch reden hören über eure göttliche Güte. Das Vorhaben dieses Buches, über das die Liebe Herrin ist – sie versicherte mir auch, dass ich damit alle meine Unternehmungen beschließe -, es will ich zur Vollendung bringen. So lange allerdings, als ich etwas von mir aus, wenn auch um ihretwillen von der Liebe erbitte, werde ich bei mir im Leben des Geistes sein, im Schatten der Sonne, wo man die subtilen Vorstellungen zur Verlockung durch die göttliche Liebe und die göttliche Zeugung zu erblicken vermag.
Doch was rede ich!, spricht die Seele. Ganz sicher ist dies noch nichts – gesetzt, selbst ich hatte schon alles, wovon eben gesprochen wurde – im Vergleich zu dem, was ich an ihm [Gott] liebe. Dieses Etwas schenkt er niemandem als nur sich selbst; dieses Etwas muss er bei sich zurückbehalten aufgrund seiner göttlichen Gerechtigkeit. Und so behaupte ich denn – und es entspricht der Wahrheit -, dass man mir nichts zu geben vermag, was immer es wäre. Doch dieses Klagelied, womit ihr mich klagen hört, Frau Vernunft, spricht diese Seele, es ist mein Alles und mein Bestes, versteht man es recht. Ach, welch süße Erkenntnis ist dies! Bei Gott! Mochtet ihr es doch ganz verstehen! Denn das Paradies ist nichts anderes, als eben dies zu begreifen.
DIE LIEBE: Der neunte Punkt, Frau Vernunft, spricht die Liebe, besteht darin, dass diese Seele keinerlei Willen mehr hat.
DIE VERNUNFT: Herrje, beim Gott der Liebe!, spricht die Vernunft. Was sagt ihr da? Ihr behauptet, diese Seele habe keinerlei Willen mehr?
DIE LIEBE: Ah bah, ganz gewiss hat sie keinen mehr! Denn alles, was diese Seele mit Zustimmung will, ist eben das, was Gott will, dass sie es wolle. Und sie will dies, damit der Wille Gottes sich erfülle, nicht aus Rücksicht auf den eigenen Willen. Doch vermag sie es nicht von sich aus, so zu wollen. Es ist vielmehr der Wille Gottes, der es in ihr will. Daraus folgt, dass diese Seele keinerlei Willen mehr hat, außer den Willen Gottes, der sie all das wollen lässt, was sie wollen soll.

12. Das richtige Verständnis dessen, was dieses Buch an manchen Stellen über die vernichtigte Seele sagt, die keinen Willen mehr hat.
DIE LIEBE: Nun hört her und fasst es gut auf, ihr Hörer dieses Buches! Die wahre Meinung nämlich von dem, was dieses Buch an manchen Stellen behauptet: dass die vernichtigte Seele keinerlei Willen hat, noch einen haben kann, noch einen haben können will, und dass dadurch der göttliche Wille vollkommen erfüllt ist. Und weiter, dass die Seele ihr Genügen in der göttlichen Liebe nicht findet und die göttliche Liebe ihres nicht in der Seele, bis die Seele in Gott ist und Gott in der Seele – von ihm, durch ihn in eine solche göttliche Seinsweise versetzt. Und dann hat die Seele all ihr Genügen.
DIE FASSUNGSKRAFT DER VERNUNFT: Gewiss! Doch es scheint, spricht die Fassungskraft der Vernunft, dass der neunte Punkt das gerade Gegenteil meine. Denn er sagt aus, die vernichtigte Seele wolle nichts im Hinblick auf das, was sie wollen wollte, welches Wollen sie aber nicht haben kann, da Gott will, dass sie wolle, dass ihr Wollen nichts sei im Vergleich zu seiner Genüge, die er ihr indes niemals wird geben können.
DIE VERNUNFT: Ich verstehe dies so, spricht die Vernunft, dass die Seele wollen will. Dass Gott jedoch will, dass sie nur das Eine will, das sie nicht bekommen kann. Und darum leidet sie Mangel und hat keineswegs ihr Genügen.
DIE FASSUNGSKRAFT DER VERNUNFT: Mir scheint, Frau Liebe, spricht die Fassungskraft der Vernunft – im Widerspruch zu diesem Buch -, der neunte Punkt lasse mich dies verstehen: Er gibt als Wahrheit aus, dass die frei gewordene Seele keinerlei Willen haben kann, noch einen haben wollen kann; ebenso wolle die göttliche Einheit nicht, dass sie einen habe’. Und damit hat sie in jeder Hinsicht, wie es dieses Buch sagt, durch die göttliche Liebe ihr volles Genügen.
DIE SEELE: Ach was, Fassungskraft der Vernunft, spricht die vernichtigte Seele, was habt ihr für Auffassungen! Ihr nehmt das Stroh und lässt das Korn! Denn euer Verständnis ist zu niederträchtig, damit vermögt ihr es nicht in dem hohen Sinn zu verstehen, wie es der verstehen muss, der die Seinsweise, von der wir reden, richtig erkennen will. Doch die Erkenntnis der göttlichen Liebe, die in der Seele verbleibt, die frei geworden ist, versteht es ohne weiteres. Denn sie befindet sich in diesem Zustand.
IHRE HOHEIT, DIE ERKENNTNIS DER LIEBE: Nun, ihr, Fassungskraft der Vernunft!, spricht ihre Hoheit, die Erkenntnis der Liebe. Nun seht doch die Grobheit eures Missverständnisses ein! Wenn diese vernichtigte Seele den Willen Gottes will – und je mehr sie ihn will, um so mehr möchte sie ihn wollen -, so kann sie dies nicht aus der Niedrigkeit ihres Kreaturseins haben, denn Gott behält die Erhabenheit seiner göttlichen Gerechtigkeit bei sich zurück. Doch will Gott, dass sie dies wolle und Willen danach habe. Und ein derartiger Wille ist göttliches Wollen. Dieses Wollen verleiht dem freien Geschöpf sein Sein. Dieser göttliche Wille durch den Gott ihr Wollen ermöglicht, leitet in sie [die Seele] die Quelladern der göttlichen Erkenntnis und das Mark der göttlichen Liebe und die Einheit im göttlichen Lobpreis. Der Wille der Seele aber staut dies in sich auf.
DIE LIEBE: Folglich denn, spricht die Liebe, wie könnte die Seele ein Wollen haben, da die klare Erkenntnis einsieht, dass es unter den Seinsweisen eine Seinsweise gibt, die edelste unter all den Seinsweisen, die das Geschöpf haben kann, sie diese aber nur durch Nicht-Wollen erhalten kann?
Damit also, spricht die Liebe, hat die Vernunft eine Antwort auf ihre Fragen bekommen, diejenige ausgenommen, durch die die Vernunft feststellt, die frei gewordene Seele empfinde in sich einen Mangel an Genügen. Und darum will ich ihr darlegen, worin dieser Mangel an Genügen besteht: darin, dass sie das göttliche Wollen will, an welchem der am wenigsten sein Genügen hat, der es am meisten will. Doch eben dieses Wollen ist das einzige Wollen Gottes und der Ruhm der Seele.
13. Inwiefern die Vernunft zufrieden ist mit der obstehenden Erklärung der Dinge für die Beschaulichen und die Tätigen. Sie verlangt jedoch weiter eine für die gewöhnlichen Leute.
DIE VERNUNFT: Nun, Liebe, spricht die Vernunft, ihr habt unserer Bitte entsprochen, indem ihr uns die obstehenden Dinge im Hinblick auf die Tätigen und die Beschaulichen dargelegt habt. Doch bitte ich jetzt weiter, dass ihr sie bezüglich der gewöhnlichen Leute erklärt, von denen dieser oder jener durch Glücksfall auch in diesen Zustand geraten könnte. Denn in dem Zusammenhang gibt es verschiedene mehrdeutige Worte, die außerhalb ihres Fassungsvermögens liegen. Wenn ihr sie aber erläutert, vermag dieses Buch allen das wahre Licht der Wahrheit aufzuzeigen und die Vollkommenheit der Liebe, und wer die sind, die von Gott sorgfältig auserwählt und gerufen und von ihm aufs höchste geliebt sind.
DIE LIEBE: Vernunft, spricht die Liebe, wo sind diese doppeldeutigen Worte, deretwegen ihr mich bittet, dass ich sie auseinandernehme und erkläre zum Vorteil derer, für die ihr so untertänig die Bitte an uns richtet, und auch für die Hörer dieses Buches, das wir nennen wollen: ,,Spiegel der einfachen Seelen, die im Willen und im Verlangen verbleiben”?
DIE VERNUNFT: Darauf antworte ich euch, Frau Liebe, spricht die Vernunft, dass das vorliegende Buch von dieser Seele sehr Wunderliches sagt, wenn es behauptet – im siebenten Kapitel nämlich -, diese Seele mache sich nichts aus Schmach oder aus Ehre, aus Armut oder aus Reichtum, aus Wohlbehagen oder aus Missbehagen, aus Liebe oder aus Hass, aus der Hölle oder aus dem Paradies. Und zugleich behauptet, diese Seele habe gleichzeitig alles und habe nichts, sie wisse alles und wisse nichts, sie wolle alles und wolle nichts, wie es dies oben im neunten Kapitel ausführt. Und so, spricht die Vernunft, verlangt sie weder nach Verachtung noch nach Armut, weder nach Leiden noch nach Widerwärtigkeiten, weder nach Messgottesdiensten noch nach Predigten, weder nach Fasten noch nach Gebet und gewährt auch der Natur alles, was sie verlangt ohne Gewissenszweifel. Sicherlich, Liebe, spricht die Vernunft, das kann nach meiner Erkenntnisweise niemand verstehen, es sei denn, er lerne es von euch durch eure Unterweisung. Denn meine Auffassung und meine Meinung und mein Rat ist, was man mit bestem Gewissen eben raten kann, dass man Verachtung, Armut und alle Arten von Drangsal erwünschen solle, auch Messen und Predigten, Fasten und Gebete, und dass man sich fürchte vor aller Art Liebe, wie immer sie sei, wegen der Gefahren, die dabei sein konnten; und dass man aufs höchste nach dem Paradies verlange, dass man aber vor der Hölle Furcht empfinde; und dass man alle Arten van Ehre zurückweise, ebenso alle zeitlichen Dinge und jederlei Wohlbehagen, indem man der Natur verweigert, was sie verlangt, außer soviel sie braucht, um überhaupt existieren zu können, nach dem Vorbild des Leidens und der Passion unseres Herrn Jesus Christus. Dies ist das Beste, spricht die Vernunft, was ich all denen, die mir gehorsam leben, zu sagen und zu raten wüsste. Und damit versichere ich allen, nach meiner Erkenntnisweise verstehe niemand dieses Buch, man müsse es gemäß der Tugend des Glaubens und der Kraft der Liebe verstehen, die meine Lehrmeisterinnen sind. Ihnen gehorche ich ganz und gar. Doch so viel will ich dazu noch sagen, spricht die Vernunft, dass jedermann, der diese zwei Sehnen auf seinem Bogen hat, das heißt das Licht des Glaubens und die Kraft der Liebe, dass der die Erlaubnis hat, alles zu tun, was ihm gefällt, gemäß dem Zeugnis der Liebe selbst, die zur Seele spricht: Meine Freundin, liebet und tut, was ihr wollt.
DIE LIEBE: Vernunft, spricht die Liebe, ihr seid sehr klug und sehr verlässlich in dem Bereich, der euch zusteht. Nun erwartet ihr eine Antwort auf die van euch eben ausgesprochenen Worte. Und da ihr mich gebeten habt, dazu zu sagen, was zu sagen ist, will ich auch alle eure Fragen beantworten. Ich versichere euch, Vernunft, spricht die Liebe, dass solche Seelen, in denen die edle Liebe wohnt, zudem Schmach wie Ehre und Ehre wie Schmach, auch Armut wie Reichtum und Reichtum wie Armut, auch Drangsal von Gott und seinen Kreaturen wie Trost von Gott und seinen Kreaturen, auch Geliebtsein wie Verhasstsein und Verhasstsein wie Geliebtsein, auch in der Hölle-Sein wie im Paradies- Sein, auch niedrige Seinsweise wie hohe und hohe Seinsweise wie niedrige für sich selbst und ihre Mitgenossinnen gleich lieb haben. Und die Wahrheit weiß genau, dass sie auch Wohlergehen oder Widerwärtigkeiten weder wollen noch verschmähen. Denn solche Seelen haben keinerlei Willen mehr, abgesehen von dem, was Gott in ihnen will. Der göttliche Wille jedoch nimmt solch überragende Geschöpfe nicht in Beschlag mit derartigen Schwierigkeiten, wie wir sie eben besprochen haben. Ich habe oben gesagt, spricht die Liebe, dass solche Seelen auch Herzenskummer – den Leib oder die Seele betreffend – ebenso lieb haben wie Wohlergehen und Wohlergehen wie Kummer. Und dies gilt, spricht die Liebe, selbst wenn sie ihnen widerfahren, ohne dass ihr Wollen dazu der Anlass sei. Und daher wissen solche Seelen ganz und gar nicht, was für sie das Beste sei, auch nicht auf welche Weise Gott ihr Heil wirken will und das Heil ihrer Nächsten; noch wissen sie, unter welchen Umstanden Gott Gerechtigkeit oder Erbarmen üben will oder bei welcher Gelegenheit Gott der Seele die überhohen Gaben in der Güte seines göttlichen Adels geben will. Und darum hat die freie Seele keinerlei Willen zu wollen und nicht zu wollen, einzig nur den Willen Gottes Willen zu wollen und im Frieden die göttlichen Verfugung anzunehmen.
DIE VERNUNFT: Abermals, Frau Liebe, füge ich meiner Frage eine weitere bei, nämlich die, warum diese Buch behauptet, diese Seele habe alles und habe zugleich nichts.
DIE LIEBE: Das ist die Wahrheit, spricht die Liebe. Denn diese Seele hat Gott durch göttliche Gnade, und wer Gott hat, hat alles. Doch sagt es auch, dass da nichts sei, weil alles, was diese Seele durch die Gabe der Gnade Gottes in sich hat, ihr als ein Nichts erscheint. Und dies ist-es auch im Vergleich zu dem, was sie liebt und was in ihm [in Gott] ist: dieses Etwas, das er niemandem gibt außer sich selbst. Nach diesem Verständnis hat eine solche Seele alles und hat doch auch nichts; sie weiß alles und weiß doch nichts.

14. In welcher Weise diese Seele durch den Glauben Kenntnis hat von Gott.
DIE LIEBE: Sie weiß spricht die Liebe, durch die Tugendkraft des Glaubens, dass Gott allmächtig ist und ganz Weisheit und vollkommene Güte und dass Gott der Vater das Werk der Menschwerdung bewirkte, wie auch der Sohn und auch der Heilige Geist. So hat Gott der Vater die Menschennatur der Person seines Sohnes verbunden, und der Sohn hat sie seiner eigenen Person beigefügt, und Gott der Heilige Geist hat sie der Person des Gottessohnes verbunden. Demnach hat der Vater in sich eine einzige Natur, nämlich die göttliche Natur, doch die Person des Sohnes hat in sich drei Naturen, nämlich diejenige, die der Vater hat dazu die Natur der Seele und die Natur des Leibes, und ist doch eine Person in der Dreieinigkeit. Und der Heilige Geist hat in sich die gleiche göttliche Natur, die der Vater und der Sohn hat. Dies zu glauben, dies zu sagen, dies zu denken, ist wahre Beschauung; es ist ein Können, ein Wissen und ein Wollen: ein einer Gott in drei Personen, drei Personen, aber ein einziger Gott. Dieser Gott ist durch seine göttliche Natur allgegenwärtig. Die Menschheit jedoch ist nur im Paradies glorifiziert – der Person des Sohnes verbunden – und im Sakrament des Altares.
Bron:
Porete, Margareta, Der Spiegel der einfachen Seelen. Mystik der Freiheit. Herausgegeben und übersetzt von Louise Gnädinger. Mit einem Vorwort von Gotthart Fuchs, Kevelaer 2017, (Topos Bücher), (pag. 38-50)
