Herinnering aan het onbekende

Erinnerung an das Unbekannte

Was bedeutet das – Seine eigene Welt erschaffen? Die Literaturkritiker überstrapazieren in der Regel diesen Begriff. Doch es gibt Beispiele, bei denen wir ihnen Recht geben müssen.
Beginnen wir mit Sanok – einer kleinen Stadt im Südosten Polens. In der Nähe erstrecken sich sanfte Hügel, ein Stück weiter höhere Berge. Diese schön gelegene Stadt hat eine lange Geschichte, angeblich erhielt sie schon im Jahre 1339 das Stadtrecht. In früheren Zeiten hätte man gesagt: »Es liegt in der Nähe von Lemberg.« Mit Lemberg war Sanok mit vielen Fäden verbunden; es lag in seinem Einflussbereich. Seit zwischen den beiden Städten eine Grenze verläuft, die heute Polen von der Ukraine trennt, ist Sanok ein wenig verwaist.
Janusz Szuber kommt dorther – aus Sanok. Er ist dort geboren und wohnt dort. Seine Familie hat über viele Generationen dort gelebt.
Janusz Szuber sucht das, was es nicht gibt. Ihn beschäftigt eines der grössten Rätsel, mit denen wir konfrontiert sind eine Frage,- die wir uns wohl alle bisweilen stellen. Denn es erscheint uns unmöglich, dass das, was einmal existiert hat und ganz gewöhnlich, alltäglich war, ja sogar üppig vorhanden, allgegenwärtig und offensichtlich, also triumphal und banal zugleich, vollkommen absolut verschwunden sein soll. Dass die Vergangenheit spurlos vergangen sein soll. Dass der Schnee der vergangenen Winter verschwunden ist. Dass Tausende, ja Millionen Menschen verschwunden sind. Und dass sogar die Gegenstände, die sie treu begleitet haben, dank derer sie gelebt haben, dank derer sie sicher und bequem von der Kindheit ins Alter geschritten sind, ebenfalls grösstenteils im Nichts versunken sind. Ihre Kleider, ihre Schirme, ihre Hunde und Katzen gibt es nicht mehr. Nur die Häuser, die Mauern, die Schlösser und Ställe bleiben bisweilen. Es bleiben eine kaputte Uhr, eine verrostete Schere, eine alte Pfanne. Die Architektur bleibt. Es bleibt das vergilbte Papier alter Zeitungen und Briefe.
Am radikalsten betrifft diese Frage Orte, die durch Naturkatastrophen wie Erdbeben ader Vulkanausbrüche oder auch durch von Menschen gemachte Katastrophen vernichtet worden (Letzteres betrifft Städte, die eine brutale Ausrottung oder auch »nur« einen Austausch der Bevölkerung erfahren haben, wie eben Lemberg, aber auch Danzig oder Breslau). Doch es betrifft auch Städte wie Sanok, bei denen, wenn man von der Shoah absieht (aber wie könnte man sie vergessen), der Austausch der Bevölkerung gleichsam ein natürlicher Prozess ist, der im allgemeinen durch die gelassene Grausamkeit des Kalenders geregelt wird.
Es gibt verschiedene Arten von Gedächtnis, von Erinnerung: Wir erinnern uns an unsere verstorbenen Angehörigen, wir erinnern uns an Ereignisse aus unserem Leben, an aussergewöhnliche, aber auch ganz normale Augenblicke. Wir erinnern uns an das Gesicht unseres Physiklehrers, an besondere Tage, an erhebende Momente unseres Liebeslebens. Wir können unsere Niederlagen nicht vergessen. Wie man weiss, hat Marcel Proust grossen Wert auf die spontane, unwillkürliche Erinnerung (mémoire involontaire) gelegt, im Gegensatz zu der Erinnerung, die wir kontrollieren können, die uns – in der Regel – gehorcht. Die erste, unkontrollierte Erinnerung kann zu einem Kunstwerk führen, wenn plötzlich frühere Erlebnisse auftauchen und unsere Gefühle wecken, unsere Einbildungskraft in Gang setzen. Diese Erinnerung ist mit der Inspiration verwandt.
Auf der anderen Seite sprechen die Neurologen heute von deklarativem oder explizitem Gedächtnis – das ist die Erinnerung, die wir steuern können, die uns im allgemeinen zur Verfügung steht. Aber es gibt – paradoxerweise – auch noch ein anderes Gedächtnis: die Erinnerung an Dinge, die wir gar nicht erlebt haben. Diese Art von Gedächtnis müsste erst noch benannt werden. Es ist in gewisser Weise das zivilisatorische Gedächtnis – die Erinnerung an eine Welt, die sich mit jeder folgenden Generation erneuert und dann untergeht, einer Welt, die mit dem Schrei des Neugeborenen beginnt und in eintönigen Predigten auf dem Friedhof endet, von den Spätgeborenen jedoch bisweilen noch sehnsüchtig betrachtet und beschrieben wird, von Historikern, Antiquaren und Dichtern.
Und hier wird etwas nützlich, das-wir »Regionalisierung« nennen könnten. Es ist ja kaum denkbar, dass die Erinnerung an eine vergangene Phase der Welt sich auf den ganzen Erdball erstreckt, der so vielfältig, so unbeständig ist. Plötzlich wird etwas, das man als Beschränkung sehen könnte, zu einem grossen Wert: Die Elegien von Janusz Szuber betreffen nicht den ganzen Planeten, ganz Europa, ganz Polen, sondern es geht nur um das frühere Galizien und hierbei um die stolze kleine, auf Hügeln gelegene Stadt Sanok.
Diese Erinnerung kann man auf sanfte, harmlose Art und Weise pflegen oder betreiben, man kann alte Postkarten, Brief-marken, Fotografien und alte Alben sammeln. Man kann auch – und ebendies geschieht in den Gedichten von Szuber – verwegen eine Herausforderung philosophischer Natur annehmen und versuchen, das wieder zum Leben zu erwecken, was man gar nicht kannte. Janusz Szuber ist ein Meister dieser Erinnerung an das Unbekannte.

Zagajewski, Adam, Poesie für Anfänger. Essays. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, München 2021, (Carl Hanser Verlag), pag. 206-209





2 gedachten over “Herinnering aan het onbekende

    1. Der Autor hat seine eigen Erinnerungen poëtisch wedergegeven in seine Lyrik und damit eine “neue” Stadt geschaffen…

      Once settled by Poles, Jews and Ukrainians, the town’s history goes back almost 1000 years when it was part of a medieval trade route. At the beginning of the German occupation during World War II, the Jewish population was around 5,000. During the occupation, most of the Jews were either executed or killed in Nazi death camps or Nazi concentration camps during the Holocaust.

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