De stem van de adelaar – een overweging van Johannes Scotus Eriugena

Scotus Eriugena, Johannes, Die Stimme des Adlers. Homilie zum Prolog des Johannesevangeliums. Übertragen und ausführlich kommentiert von Christopher Bamford. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Ditzhuyzen, Zürich 2006, (Chalice Verlag)


(1) Die Stimme des Adlers

Die Stimme des geistigen Adlers erklingt im Ohr der Kirche. Mögen unsere äußeren Sinne ihre flüchtigen Klange erfassen, möge unser innerer Geist ihre anhaltende Bedeutung durchdringen. 

Dies ist die Stimme des hochfliegenden Vogels – nicht des Vogels, der sich über die materielle Luft oder über den Äther erhebt, die gesamte sinnlich wahrnehmbare Welt umkreisend, sondern die Stimme des geistigen Vogels, der mit den geschwinden Flügeln tiefster und geheimster Theologie und der Intuition hervorragendster und höchster Kontemplation jede Betrachtung übersteigt und über alle Dinge, die sind und die nicht sind, hinausfliegt. 

Mit den Dingen, die sind, meine ich die Dinge, die sich nicht ganz der Wahrnehmung entziehen, sei sie engelhaft oder menschlich, da sie nach Gott erscheinen und wegen ihrer Anzahl nicht das Übertreffen, das durch die eine Ursache van allem gestaltet wurde. Mit den Dingen, die wahrlich nicht sind, meine ich jene, die tatsachlich jegliches Vermögen, sie zu verstehen, übersteigen. 

Der begnadete Theologe Johannes fliegt somit nicht nur über das hinaus, was gedacht und gesagt werden konnte, sondern erhebt sich auch über jedes Verständnis und jede Bedeutung. Herausgehoben durch den unbeschreiblichen Flug seines Geistes jenseits aller Dinge, tritt er ein in das innerste Mysterium des einen Anfangs von allem. Dort unterscheidet er deutlich die überwesentliche Einheit und den überwesenhaftigen(1) Unterschied von Anfang und Wort – das heißt von Vater und Sohn -, die sich beide unserem Verstehensvermögen entziehen, und beginnt sein Evangelium mit den Worten: »Im Anfang war das Wort.« 

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(Noot 1)Lateinisch superessentialitas, englisch superessential, deutsch “überwesentlich”; und lateinisch supersubstantialitas, englisch supersubstantial, deutsch “überwesenhaftig” (Anmerkung des deutschen Übersetzers).


(2) Oh, begnadeter Johannes

Oh, begnadeter Johannes, du bist nicht unwürdig, Johannes genannt zu werden. Der Name Johannes ist hebräisch. Ins Griechische übersetzt bedeutet er: »der, dem Gnade gegeben wurde«. Denn wem unter den Theologen wurde das gegeben, was dir gegeben wurde? Nämlich die verborgenen Mysterien des höchsten Guten zu durchdringen und dem menschlichen Geist und den menschlichen Sinnen das mitzuteilen, was dir dort offenbart und gezeigt wurde. Bedenke doch, wem sonst wurde so große und derartige Gnade gegeben?

Vielleicht sagen einige, derartige Gnade sei dem Apostelfürsten zuteil geworden, ich meine Petrus, der, als der Herr ihn fragte, für wen er ihn halte, antwortete: »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes« [Mt 16. 16]. Und doch kann, so denke ich, ohne Furcht gesagt werden, dass Petrus mit dieser Antwort eher als Gestalt des Glaubens und des Handelns gesprochen hat, denn als Gestalt des Wissens und der Kontemplation. 

Warum? Aus dem offensichtlichen Grund, dass Petrus immer als das Vorbild des Glaubens und Handelns dargestellt wird, während Johannes den Typus der Kontemplation und des Wissens verkörpert. Der eine lehnt tatsachlich an der Brust des Herrn [Joh 13. 23], die das Mysterium der Kontemplation ist, während der andere oft zögert, was das Symbol des ruhelosen Handelns ist.

Denn die Ausführung göttlicher Gebote kann, bevor sie zu einer inneren Haltung geworden ist, das reine Leuchten der Tugend zerstören und. in ihren Bewertungen zu kurz greifen, getrübt durch den Dunst des an die Sinne gebundenen Denkens. Die Scharfe der tiefsten Betrachtung andererseits, wenn sie einmal das Angesicht der Wahrheit wahrgenommen hat, zögert nicht, lasst nicht nach und  wird niemals durch irgendeine Wolke verdunkelt.


(3) Doch beide laufen

Beide Apostel laufen jedoch zum Grab. 

Die Grabstätte Christ! ist die Heilige Schrift, in der die Mysterien seiner Göttlichkeit und Menschlichkeit durch das Gewicht des Buchstabens gesichert werden, ebenso wie das Grab durch den Stein gesichert wird. 

Johannes aber lauft voraus und kommt vor Petrus dort an – denn tief geläuterte Kontemplation dringt scharfer und schneller in die geheime Kraft des göttlichen Plans ein als Handlung, die immer noch der Reinigung bedarf.  

Obwohl sie aber beide zum Grab gelaufen sind und beide eintreten, so ist doch Petrus derjenige, der zuerst eintritt und Johannes tritt erst nach ihm ein. Denn wenn Petrus den Glauben symbolisiert, dann steht Johannes für die Erkenntnis. Da geschrieben steht, »wenn du nicht glaubst, wirst du nicht verstehen“[Jes 7.9], betritt der Glaube notwendigerweise zuerst das Grab der Heiligen Schrift, gefolgt von der Erkenntnis(2), denn der Glaube hat den Eintritt vorbereitet. 

Petrus, der den Christus erkannte – jetzt als menschlich und göttlich in der Zeit Erschaffen -, sagte: »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. « So stieg Petrus sehr hoch auf, aber immer noch hoher flog der, der diesen selben Christus als Gott erkannte, geboren von Gott vor der Zeit, und sagte: »Im Anfang war das Wort.« 

Man soll jetzt jedoch nicht denken, dass wir den Johannes dem Petrus vorzogen. Denn wer konnte dies tun? Wer unter den Aposteln konnte tatsachlich hoher stehen als der, der ihr Fürst ist und so genannt wird? 

Wir ziehen Johannes nicht dem Petrus vor, wir vergleichen nur Handlung mit Kontemplation – die Seele, die noch der Reinigung bedarf, mit der Seele, die schon gereinigt ist. Wir vergleichen lediglich Tugend, die noch im Prozess des glückseliger hin zu einem unveränderlichen Zustand ist, mit Tugend, die diesen schon erreicht hat. Wir betrachten hier nicht die persönliche Wurde der Apostel, sondern ergründen nur die wunderschönen Unterscheidungen, die bei den göttlichen Mysterien vorgenommen werden. 

Somit erblickt Petrus – Handlung, die Tugend praktiziert -durch die Tugend van Glauben und Handlung den Sohn Gottes als auf eine wundervolle und unbeschreibliche Weise begrenzt im Fleisch. Johannes aber, der die höchste Kontemplation der Wahrheit ist, staunt über das Wort Gottes an sich, bevor es Fleisch wurde, in seinem Anfang oder absoluten und unbegrenzten Ursprung – das heißt im Vater. 

Petrus wird wahrhaftig von göttlicher Offenbarung geführt, wenn er betrachtet, wie Ewigkeit und Zeit in Christus eins werden; aber nur Johannes führt die gläubigen unter den Seelen zu dem, was in Christus ewig ist. 

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(Noot 2) Lateinisch intellectus, englisch intellect. (…) hat das lateinische Wort intellectus eine Vielzahl von Bedeutungen und Konnotationen. Vor allem bezeichnet es die Erkenntnis, gleichzeitig aber auch das Erkenntnisvermögen selbst (Anmerkung des deutschen Übersetzers).


(4) Der spirituelle Vogel

Deshalb steigt der spirituelle Vogel – ich meine Johannes, den Theologen – schnell fliegend, Gott sehend auf, jenseits aller sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung, durchquert alle Gedanken und den Intellekt, und tritt, vergöttlicht, in Gott ein, der ihn vergöttlicht. 

Oh glückseliger Paulus, du wurdest, wie du selbst erklärt hast, in den dritten Himmel entrückt, ins Paradies; aber du wurdest nicht jenseits jedes Himmels oder jedes Paradieses entrückt. Johannes jedoch gelangte jenseits jedes geformten Himmels und jedes erschaffenen Paradieses, jenseits von jeder menschlichen und engelhaften Natur. 

Im dritten Himmel, oh Gefäß der Erwählung und Lehrer der Volker, hast da Worte gehört, die es sich für einen Menschen nicht ziemt zu äußern. Johannes aber, der Beobachter der geheimsten Wahrheit, im Paradies der Paradiese, in der ureigensten Ursache van allem, horte das eine Wort, durch das alle Dinge geschaffen werden.

Ihm war es erlaubt, dieses Wort auszusprechen und es zu verkündigen, soweit wie es den Menschen verkündigt werden kann. Deshalb hat er mit größter Überzeugung ausgerufen: »Im Anfang war das Wort.«


(5) Daher Johannes

Daher war Johannes kein Mensch, sondern mehr als ein Mensch, als er über sich selbst und alle Dinge, hinausflog. Getragen von der  unbeschreiblichen Weisheit und der reinsten Scharfe des Geistes, trat er in das ein, was jenseits aller Dinge ist – das heißt in das Geheimnis der einen Essenz in drei Substanzen und der drei Substanzen in der einen Essenz. 

Es wäre ihm nicht möglich gewesen, in Gott hinein aufzusteigen, wenn er nicht erst Gott geworden wäre. Denn so wie der Blick unserer Augen die Formen und Farben wahrnehmbarer Dinge nicht wahrnehmen kann, wenn er sich nicht erst mit den Sonnenstrahlen vermischt und vereinigt, so können die Seelen von Heiligen nicht das reine Wissen der spirituellen Dinge, die alle Intelligenz übersteigen, empfangen, wenn sie nicht zunächst der Teilhabe an der unfassbaren Wahrheit würdig werden. 

Somit verkündet der heilige Theologe, verwandelt zu Gott und teilhabend an der Wahrheit, dass Gott das Wort in Gott dem Anfang ewig besteht; das heißt: Gott Sohn in Gott Vater. »Im Anfang«, sagt er, war das Wort.«

Schaue den geöffneten Himmel und das offenbarte der höchsten und heiligsten Dreifaltigkeit! Nimm wahr, wie der göttliche Engel über dem Menschensohn aufsteigt [Joh 1.51] und verkündigt, dass dieser das Wort ist, das im Anfang war, vor allen Dingen. Nimm wahr, wie er auf denselben Menschensohn herabsteigt und ausruft: »Und das Wort wurde Fleisch. 

Der Engel steigt herab, wenn das Evangelium vom Wort spricht, das auf übernatürliche Weise unter allen Dingen Mensch wurde durch die Jungfrau. Der Engel steigt auf, wenn das Evangelium dieses selbe Wort verkündet, als überwesentlich geboren vom Vater vor und jenseits aller Dinge.


(6) Im Anfang

Der heilige Evangelist schreibt: »Im Anfang war das Wort.«

Hier müssen wir festhalten, dass die Bedeutung, die er dem Wort »war« [lateinisch erat] gibt, nicht zeitlich, sondern wesensmassig [lat. Substantia] ist. Denn das Wort »sein« [lat. esse], von dem wir durch unregelmäßige Konjugation das Imperfekt »war« ableiten, hat eine doppelte Bedeutung. Manchmal bedeutet es das unveränderliche Sein [lat. Subsistentia] ohne zeitliche Bewegung irgendeines Gegenstandes, von dem etwas ausgesagt wird. Dann wird es »Zustandswort« genannt. In anderen Fällen weist es jedoch wie andere Verben auf eine zeitliche Bewegung hin. Wenn der Evangelist versichert, »im Anfang war das Wort«, dann heißt das also dasselbe, als wenn er deutlich sagen wurde: »Im Vater ist ewig der Sohn.« Welche Person mit einem gesunden Verstand würde tatsachlich sagen, dass der Sohn zu irgendeiner Zeit zeitlich im Vater existierte? Denn nur wo Ewigkeit gekannt wird, kann unveränderliche Wahrheit verstanden werden. 

Damit nicht jemand denkt, das Wort bestehe unveränderlich im Anfang ohne substantiellen Unterschied, fugt der Evangelist sofort hinzu: »Und das Wort war bei Gott.« Das heißt: »Der Sohn ist unveränderlich mit dem Vater bei Einheit der Essenz und Unterscheidung der Substanz.« .

Und noch einmal, damit sich niemand von einem verderblichen Einfluss anstecken lasse, dass so etwas wie das Wort nur im Vater und bei Gott sei, aber nicht substantiell und wesensgleich mit dem Vater als Gott unveränderlich existiere – diesem Fehler verfielen die abtrünnigen Arianer -, fügt der Evangelist sofort hinzu: »Und das Wort war Gott.« 

Gleichermaßen fügt der Evangelist im Folgenden hinzu: »Dieses war im Anfang bei Gott«, weil er weiß, dass es nicht an jenen fehlen wird, die behaupten würden, dass er nicht ein und dasselbe Wort meine, wenn er sage: »Im Anfang war das Wort« und »Das Wort war Gott«, und die bekräftigen würden, dass es einen Unterschied gebe zwischen »das Wort im Anfang« und »das Wort war Gott«. Um diese häretische Sichtweise zu zerstören, fügt der Evangelist als Nächstes hinzu: »Dieses war im Anfang bei Gott.« 

Das heißt: Das Wort, das Gott bei Gott ist, ist nicht verschieden von ihm, der im Anfang war. 

Dies mag in den griechischen Abschriften des Evangeliums deutlicher verstanden werden. Diese sprechen von autos, das heißt »derselbe«, ein Ausdruck, der sich sowohl auf Gott als auch auf das Wort beziehen kann; denn diese beiden Wörter, Theos und Logos (»Gott« und »Wort«) sind im Griechischen beide maskulin, wie dies auch tatsachlich für autos gilt. Und deshalb kann die Aussage »Und das Wort war Gott, dieses (Gleiche) war im Anfang bei Gott« so verstanden werden, dass damit sonnenklar gesagt werden sollte: »Dieses Gott-Wort, das bei Gott ist, ist dasselbe, von dem ich sage: >Im Anfang war das Wort<.


(7) Alle Dinge wurden durch es erschaffen

Alle Dinge wurden durch es erschaffen, durch Gott das Wort selbst. Durch das Gott-Wort selbst wurden alle Dinge erschaffen.

Und was bedeutet »Alle Dinge wurden durch es erschaffen« anderes, da das Wort vor allen Dingen vom Vater geboren wurde, als dass alle Dinge mit ihm und durch es erschaffen wurden? Denn die Zeugung des Wortes vom Vater ist selbst die eigentliche Schöpfung von allen Ursachen, zusammen mit dem Wirken und der Wirkung all dessen, was aus ihnen in Gattungen und Arten hervorgeht. Alle Dinge wurden wahrlich aus der Zeugung van Gott dem Wort durch Gott den Anfang erschaffen.

Höre so das göttliche und unbeschreibliche Paradoxon – das nicht zu lüftende Geheimnis, die unsichtbare Tiefe, das unfassbare Mysterium! Durch es, das nicht erschaffen, sondern gezeugt wurde, wurden alle Dinge erschaffen, aber nicht gezeugt.”

Der Anfang, das Prinzip, van dem alle Dinge abstammen, ist der Vater; der Anfang, das Prinzip, durch das alle Dinge existieren, ist der Sohn. Der Vater spricht sein Wort – der Vater bringt seine Weisheit hervor – und alle Dinge werden erschaffen. Der Prophet sagte: »In Weisheit hast Du sie alle erschaffen« [Ps 104. 24]. Und an anderer Stelle, die Person des Vaters betrachtend: »Mein Herz brachte hervor« [Ps 45. 2]. Und was hat sein Herz hervorgebracht? Er erklärt es selbst: »Ich habe ein gutes Wort gesprochen« [Ps 45. 2]. Ich spreche ein gutes Wort, ich bringe einen guten Sohn hervor. Das Herz des Vaters ist seine eigene Substanz, von der die eigene Substanz des Sohnes gezeugt wurde.

Der Vater geht dem Sohn voraus, nicht von seiner Natur her, sondern kausal. Hore den Sohn selbst sagen: »Mein Vater ist großer als ich« [Joh 14. 2,8]. Das heißt: »Seine Substanz ist die Ursache meiner Substanz. « Ich sage, kausal geht der Vater dem Sohn voraus; von seiner Natur her geht der Sohn allen Dingen, die durch ihn erschaffen wurden voraus. Die Substanz dieser Dinge, die durch ihn erschaffen wurden, nahm ihren Anfang vor allen Erdenzeitaltern, nicht in der Zeit, sondern mit den Zeiten. Die Zeit wird tatsachlich zusammen mit allen erschaffenen Dingen erschaffen. Sie wird weder vor ihnen erschaffen, noch ist sie ihnen vorzuziehen, sie wird vielmehr mit ihnen erschaffen


(8) Die Folge des Wortes

Und was war die Folge des Wortes, das durch den Mund des Allerhöchstens gesprochen wurde? Gewiss hat der Vater nicht vergebens gesprochen. Weder fruchtlos ohne große Wirkung, denn sogar die Menschen erzielen eine gewisse Wirkung in den Ohren ihrer Zuhörer, wenn sie untereinander sprechen. Deshalb müssen wir drei Dinge glauben und verstehen: den Vater, der spricht das Wort das verkündet wird, und die Dinge, die durch das Wort bewirkt werden. Der Vater sprach, das Wort wurde gezeugt und alle Dinge wurden bewirkt. Höre die Worte des Propheten: »Der Herr sprach, und sogleich geschah es“ [Ps 33. 9]. Das heißt: Er brachte sein Wort hervor, durch das alle Dinge erschaffen wurden. 

Und damit da nicht denkst, dass unter den Dingen, die sind, einige durch das eigentliche Wort Gottes selbst erschaffen wurden, während andere tatsachlich außerhalb von ihm erschaffen wurden oder durch sich selbst existierten – sodass die Dinge, die sind, und die. die nicht sind, nicht auf ein einzelnes Prinzip zurückgeführt werden können -, fügt der Evangelist  seiner gesamten bisherigen Theologie die Schlussfolgerung hinzu: »Und ohne es wurde nichts erschaffen, das erschaffen wurde. « Das heißt: Nichts wurde außerhalb von ihm erschaffen, denn es selbst umgibt und umfasst alles, und man kann sich nichts vorstellen, das mit ihm ewig wäre, mit ihm Substanz oder Essenz hätte, abgesehen vom Vater und vom Geist, der durch das Wort aus dem Vater ausströmt. 

Dies ist im Griechischen leichter zu verstehen. Denn wo es im Lateinischen heißt sine ipso (ohne es), heißt es im Griechischen choris autou (außerhalb von ihm). Und gleichermaßen sagt der Herr selbst zu seinen Aposteln: »Ohne mich könnt ihr nichts tun« [Joh 15.5]. »Ihr«, sagt er, »die ihr ohne mich nicht euch selbst erschaffen konntet, was könnt ihr ohne mich tun?« Hier heißt es im Griechischen wiederum nicht aneu, sondern choris, was nicht »ohne«, sondern »außerhalb« heißt.

Aus diesem Grunde sage ich, dass das Griechische leichter zu verstehen ist; denn jemand, der sine ipso hört, konnte auch denken, »ohne seine Hilfe oder seinen Rat«, und damit ihm weder die Gesamtheit noch alle Dinge zuschreiben. Indem man jedoch extra als »außerhalb« versteht, bleibt nicht das Geringste übrig, das nicht in ihm und durch es erschaffen wurde. 


(9) Was erschaffen wurde in ihm

Was erschaffen wurde in ihm war Leben. « Aus der größtmöglichen Distanz zu jeder Vernunft und jeder Erkenntnis offenbart der glückselige Evangelist die göttlichen Mysterien. Er zeigt das Gott-Wort deutlich als offenbart im sprechenden Gott und überlasst denjenigen, die über die Heilige Schrift kontemplieren, die Offenbarung des Heiligen Geistes in beiden.

So wie jeder, der spricht, in dem Wort, das er spricht, notwendigerweise Atem erzeugt, so gebiert Gott der Vater zusammen und gleichzeitig, seinen Sohn, und durch seinen Sohn, der somit geboren wird, erzeugt er seinen Geist. 

Der Evangelist fügt hinzu, dass hierauf folgend durch den Sohn alle Dinge erschaffen wurden und dass nichts außerhalb von ihm unveränderlich besteht. 

Dann sagt er, als ob er die Entfaltung seiner Theologie von einem anderen Ausgangspunkt aus verfolgen wolle: »Was erschaffen wurde in ihm war Leben. « Früher hatte er gesagt: »Alle Dinge wurden van ihm erschaffen«; und dann, als ob ihn jemand nach den vom Gott-Wort erschaffenen Dingen gefragt hatte – wie diese Dinge, die van ihm erschaffen wurden, in ihm waren und was sie in ihm waren – erwidert der Evangelist: »Was erschaffen wurde in ihm war Leben.« 

Dieser letzte Satz ist zweideutig und kann auf zweierlei Weise gesprochen werden. Entweder sagt man: »Was erschaffen wurde«, und fügt hinzu »in ihm war Leben.« Oder man sagt: »Was erschaffen wurde in ihm, « und fügt dann hinzu »war Leben.« 

Durch diese beiden Möglichkeiten der Interpunktion werden uns zwei unterschiedliche Bedeutungen zur Kontemplation angeboten. Denn die Kontemplation, die feststellt, »Was an Orten, zu bestimmten Zeiten, in Arten, Formen und zahlbarer Anzahl erschaffen wurde, ob nun aus sinnlich oder intellektuell wahrnehmbarer Substanz, kompakt oder getrennt, all dies war Leben in ihm«, sagt nicht das Gleiche, wie diejenige, die verkündet, »Was erschaffen wurde in ihm, ist nichts anderes als das Leben.«

Lassen wir deshalb für uns die folgende Bedeutung gelten: Alle Dinge, die erschaffen wurden in ihm, sind in ihm Leben und sind eins. Alle Dinge waren nämlich, das heißt existieren unveränderlich, in ihm als Ursachen, bevor sie in sich selbst Wirkungen sind. Denn die Dinge, die durch ihn erschaffen werden, sind auf eine Art unter ihm; und die Dinge, die er ist, sind auf eine andere in ihm.


(10) Alle Dinge

Deshalb leben alle Dinge, die durch das Wort erschaffen wurden, unveränderlich in ihm und sind Leben. Alle Dinge existieren in ihm nicht und werden nicht in ihm existieren gemäß zeitlichen Intervallen oder Orten oder als das, was sein wird; sondern alle sind eins in ihm, über aller Zeit und allen Orten, und existieren in ihm ewig und unveränderlich.  

Sichtbares, Unsichtbares, Körperliches, Körperloses, Rationales, Irrationales – Himmel und Erde, die Hölle und was immer darin ist – in ihm leben alle und sind Leben und bestehen ewig unveränderlich. Sogar das, was für uns ohne jede lebendige Bewegung zu sein scheint, lebt im Wort.

Und wenn du wissen mochtest, wie oder in welcher Hinsicht alle Dinge, die durch das Wort erschaffen wurden, auf diese Art lebendig, ursachlich und auch auf die gleiche Art in ihm unveränderlich existieren, dann betrachte Beispiele aus der erschaffenen Natur. Lerne, den Schöpfer durch diese Dinge, die in ihm und durch ihn erschaffen wurden, zu erkennen. »Denn die unsichtbaren Dinge, die von ihm stammen, werden«, wie der Apostel sagt, »durch die Intelligenz deutlich verstanden, indem sie durch die erschaffenen Dinge verstanden werden« [Rom 1.20]. 

Siehe wie die Ursachen aller Dinge, die diese kugelförmige, sinnliche Welt enthalt, gleichzeitig und gleichermaßen in dieser Sonne unveränderlich existieren, die alleine der große Leuchtkörper der Welt genannt wird. Von hier nehmen alle Formen der Körper ihren Ausgang; von hier kommt die Schönheit und Verschiedenartigkeit der Farben und alles, was sonst noch in der sinnlich wahrnehmbaren Natur erkannt werden kann. 

Betrachte die unbegrenzte, vielfaltige Kraft des Samenkorns – wie viele Graser, Fruchte und Tiere sind in jeder Samenart enthalten und wie quillt aus einem jeden von ihnen eine wunderbare, zahllose Vielfalt an Formen hervor. Betrachte mit deinem inneren Auge, wie die vielen Gesetze einer Kunst oder Wissenschaft in einem Meister vereinigt sind, wie sie in dem Geist, der über sie verfügt, leben. Betrachte, wie eine unbegrenzte Zahl von Linien in einem einzigen Punkt denkbar sind, und andere Beispiele, die man aus der Natur nehmen kann.

Durch die Kontemplation solcher Dinge, die durch die Flügel der natürlichen Kontemplation über alle Dinge erhoben werden, wirst da, erleuchtet und unterstützt durch die göttliche Gnade, in der Lage sein, mit Hilfe der Schärfe deines Geistes die Geheimnisse des Wortes zu durchdringen, und du wirst in einem Masse, wie es einem Menschen, der Zeichen seines Gottes sucht, gewahrt wird, sehen, wie alle durch das Wort erschaffenen Dinge im Wort leben und Leben sind: »Denn in ihm«, so sagt die Heilige Schrift, »leben wir und bewegen wir uns und sind wir«  [Apg 17. 28]. Es ist wahrlich so, wie der große Dionysius Areopagita schreibt: »Das Sein aller Dinge ist ihre überwesentliche Gottheit.«


(11) Das Licht der Menschen

Und das Leben war das Licht der Menschen. « Den Sohn Gottes, den du, oh gesegneter Theologe, zuvor »das Wort« genannt hast, nennst da nun »Leben« und »Licht«. Und nicht ohne Grund hast du die Namen geändert, sondern vielmehr um uns zu erlauben, unterschiedliche Bedeutungen zu verstehen. Wenn du tatsachlich den Sohn Gottes als »das Wort« bezeichnet hast, dann ist das so, weil der Vater alle Dinge durch das Wort sprach. So wie geschrieben steht: »Er sprach, und es geschah« [Ps 33. 9]. Und jetzt nennst du ihn »Licht« und »Leben«, denn derselbe Sohn, der das Wort ist, ist das Leben und das Licht aller Dinge, die durch ihn erschaffen wurden. Und was erhellt er? Nichts anderes als sich selbst und seinen Vater. Das Licht also ist und erleuchtet sich selbst. Das Licht des Wortes offenbart sich der Welt; es manifestiert sich dem Unwissenden.

Als die Menschheit Gott verließ, hat sich das Licht des göttlichen Wissens aus der Welt zurückgezogen. Seit dieser Zeit offenbart sich das ewige Licht auf eine zweifache Weise durch die Schrift und durch die Geschöpfe. Göttliches Wissen wird in uns auf keine andere Weise als durch die Buchstaben der Schrift und die Arten der Schöpfung erneuert werden. Lerne daher, diese göttlichen Ausdrucksweisen zu verstehen und ihre Bedeutungen in deiner Seele zu erfassen, denn darin wirst du das Wort erkennen.

Beobachte die Form und Schönheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge und verstehe das Wort Gottes in ihnen. Wenn du dies tust, wird die Wahrheit dir in all diesen Dingen nur denjenigen Offenbaren, der sie erschaffen hat; außerhalb von ihm gibt es nichts zu betrachten, denn er selbst ist alle Dinge. Denn in allem, was wahrhaft ist, in allen Dingen, die sind, ist er. Ebenso wie kein Gut wesenhaft außerhalb von ihm existiert, so existiert kein Wesen oder keine Wesenheit, die nicht er ist. 

»Und das Leben war das Licht der Menschen. « Warum fügt der Theologe hinzu »das Licht der Menschen«, so als sollte das Licht, das das Licht der Engel ist, das Licht des erschaffenen Universums,  tatsachlich das Licht aller sichtbaren und unsichtbaren Existenz, auf besondere und ausschließliche Weise das Licht der Menschheit sein? Soll nicht das Wort, das allen Dingen Leben spendet, vielleicht auf besondere und sonderbare Weise das Licht der Menschheit sein, weil es sich in den Menschen nicht nur ihnen selbst gezeigt hat, sondern auch den Engeln und allen Geschöpfen, die fähig sind, an Gottes Wissen teilzuhaben? 

Denn Gott erschien weder den Engeln noch den Menschen als Engel, sondern als Mensch sowohl den Menschen als auch den Engeln. Gott erschien nicht nur einfach als Erscheinung, sondern war wahrhaft Mensch; er nahm das Menschsein vollständig an, in Einheit der Substanz. Auf diese Art zeigte er sich – als Kenntnis seiner selbst – allen, die ihn erkennen mögen. Das Licht der Menschheit ist deshalb unser Herr, Jesus Christus, der sich in seiner menschlichen Natur allen vernunftbegabten und geistigen Geschöpfen zeigte, indem er die verborgenen Mysterien seiner Göttlichkeit, durch die er dem Vater gleich ist, offenbarte.


(12) Und das Licht leuchtete in der Finsternis

Und das Licht leuchtete in der Finsternis.« Höre den Apostel: »Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. « Höre Jesaja: »Über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf« [Jes 9.1]. 

Das Licht scheint in der Finsternis. Die ganze Menschheit war durch die ursprüngliche Sünde in der Finsternis – nicht in einer Finsternis der aufSeren Augen, die die Formen und Farben sinnlich wahrnehmbarer Dinge wahrnehmen, sondern in einer Finsternis der inneren Augen, die die Pracht und Schönheit der nur geistig wahrnehmbaren Dinge unterscheiden; nicht in der Finsternis einer dusteren Atmosphäre, sondern in der Finsternis der Unwissenheit gegenüber der Wahrheit; nicht in der Abwesenheit des Lichtes, das die körperliche Welt offenbartUngläubigkeit, sondern in der Abwesenheit des Lichtes, das die körperlose Welt erleuchtet. Geboren aus einer Jungfrau, leuchtet dieses Licht in der Finsternis – das heißt, in den Herzen derjenigen, die es erkennen.

Und da es wahr ist, dass die Menschheit jetzt gewissermassen in zwei Gruppen gespalten ist – in die, deren Herzen durch das Wissen der Wahrheit erleuchtet sind, und jene, die noch in der Finsternis der Unheiligkeit und Ungläubigkeit verbleiben -, fugt der Evangelist hinzu: »Und die Finsternis hat es nicht erfasst.« 

Ebenso hatte er sagen können: Das Licht scheint in der Finsternis gläubiger Seelen, und es scheint dort mehr und mehr, indem es mit dem Glauben beginnt und zum Wissen fuhrt; der Unglaube aber und die Unwissenheit der gottlosen Herzen haben durch Ungläubigkeit und Unwissenheit das Licht des Wortes, das das Fleisch verherrlicht, nicht erfasst. »ihr unverständiges Herz wurde verfinstert«, wie der Apostel sagt. »Sie behaupteten, weise zu sein, und warden zu Toren« [Eph 5. 8]. Das ist zumindest der moralische Aspekt der Finsternis. 


(13) Die natürliche Kontemplation dieser Worte

Die natürliche Kontemplation dieser Worte zeigt jedoch eine weitere Bedeutung des Satzes: »Und das Licht leuchtete in der Finsternis.« 

Die menschliche Natur ware nämlich, selbst wenn sie nicht gesündigt hatte, nicht in der Lage gewesen, durch ihre eigenen Starken zu leuchten; denn die menschliche Natur ist nicht natürlicherweise Licht, sondern hat nur einen Anteil am Licht. Obwohl die menschliche Natur zur Weisheit befähigt ist, ist sie nicht selbst Weisheit: Nur ein Teilhaben an der Weisheit erlaubt es ihr, weise zu sein. Ebenso wie die Luft nicht selbst leuchtet – und aus diesem Grund Finsternis genannt wird – und doch in der Lage ist, das Licht von der Sonne zu empfangen, so ist auch unsere Natur, für sich selbst betrachtet, eine Substanz der Finsternis, aber sie ist in der Lage, das Licht der Weisheit zu empfangen. Und ebenso wie es heisst, dass die Luft, während sie teilhat an den Sonnenstrahlen, nicht selbst leuchtet – stattdessen heißt es, dass der Glanz der Sonne in ihr erscheint, so dass sie nicht ihre natürliche Dunkelheit verliert, sondern nur das plötzlich eintretende Licht in sich selbst empfangt -, so erkennt der rationale Teil unserer Natur, während er die Präsenz des göttlichen Wortes besitzt – nicht durch sich selbst, sondern durch das göttliche Licht, das ihm eingepflanzt wurde – geistige Dinge und sogar Gott selbst. Das Wort selbst sagt: »Nicht ihr werdet dann reden, sondern der Geist eures Vaters wird durch euch sprechen« [Mt 10. 20].

Durch diesen einen Satz will uns das Wort lehren, diese universelle Wahrheit zu verstehen und diese Bedeutung immer und auf unaussprechliche Weise in den Ohren unseres Herzens erklingen zu lassen: Nicht ihr seid es, die leuchten, sondern der Geist eures Vaters scheint in euch. Anders gesagt: Er, der Vater, ist es, der mich, das Wort, manifestiert, um in euch zu leuchten; denn ich bin das Licht der geistigen Welt, das heißt, der Welt, die ihrem Wesen nach rational und zur Einsicht fähig ist. Ihr erkennt mich nicht durch eure Intelligenz. Ich kenne mich selbst durch meinen Geist in euch, denn ihr seid kein wesenhaftes Licht, sondern habt nur einen Anteil am Licht, das durch sich selbst unveränderlich existiert. 

Somit leuchtet das Licht in der Finsternis, denn das Wort Gottes – das Leben und Licht der Menschen – hort nicht auf, in unserer Natur zu leuchten, die, für sich betrachtet und genauer untersucht, keine Form hat und finster ist. Trotz ihres Sündenfalls will das Wort die menschliche Natur nicht im Stich lassen; und es wird sie niemals im Stich lassen. Denn es formt sie, weil es sie natürlicherweise enthalt. Und es formt sie neu durch vergöttlichende Gnade. Und da er selbst das Licht ist, das keines der Geschöpfe erfassen kann, hat die Finsternis es nicht erfasst.

Denn Gott übersteigt alle Bedeutung und Vernunft, und er allein besitzt Unsterblichkeit [1 Tim 6.16]. Sein Licht wird wegen seiner Vortrefflichkeit »Finsternis« genannt, denn kein Geschöpf kann erfassen, was es ist oder wie es beschaffen ist.


(14) Es trat ein Mensch auf, der von Gott gesandt war

Es trat ein Mensch auf, der von Gott gesandt war; sein Name war Johannes.« 

Sieh, wie der Adler, der seine Schwingen van der großartigsten Kontemplation entspannt, im sanften Flug von den höchsten Hohen des Berges der Theologie hinunterschwebt in das tiefste Tal der Geschichte, vom Himmel der spirituellen Welt zur Erde.

Denn die Heilige Schrift ist gewissermaßen eine geistig wahrnehmbare Welt, die sich aus ihren vier Teilen ihren vier Elementen zusammensetzt. Ihre Erde ist sozusagen in der Mitte, am tiefsten Punkt, einem Zentrum gleich, die Geschichte. Diese wird, wie van Wasser, vom Abgrund des moralischen Verständnisses umgeben, das die Griechen ethike zu nennen pflegten. Und in dieser geistig wahrnehmbaren Welt treibt um diese beiden sozusagen niedrigeren Teile, die ich »Geschichte« und »Ethik« genannt habe, das, was ich »natürliches Wissen« oder »Wissen von der Natur« nenne, und das die Griechen physike genannt haben. Um dies alles herum, außerhalb und jenseits von allem, ist das himmlische und brennende Feuer des empyreischen Himmels, diese hehre Kontemplation, die die Griechen »Theologie« nannten und über die kein Geist hinauszusteigen vermag. 

Somit berührt der große Theologe – hiermit meine ich Johannes – am Anfang seines Evangeliums die höchsten Gipfel der Theologie und dringt in den geheimen spirituellen Himmel der Himmel ein und übersteigt dabei jede Geschichte, Ethik oder Physik. Van dort aus erzählt er, während er sich in seinem Plug abwärts wendet, die historischen Ereignisse, die der Inkarnation des Wortes unmittelbar vorausgingen, und sagt: »Es trat ein Mensch auf, der von Gott gesandt war.«


(15) Johannes führt Johannes ein

In seine Theologie fuhrt Johannes folgerichtig Johannes  ein. »Flut ruft der Flut zu« [Ps 42. 8] in der Stimme der göttlichen Mysterien. Johannes der Evangelist erzählt die Geschichte von Johannes dem Vorboten. Derjenige, dem es gegeben ist, das Wort 1m Anfang zu kennen, erinnert an denjenigen, dem es gegeben ist, dem inkarnierten Wort vorauszugehen. 

Er sagt »es trat auf«, nicht einfach »gesandt von Gott«, sondern »es trat ein Mensch auf.« Hierdurch unterscheidet der Evangelist denjenigen, der nur ein Mensch war und der vorausging, von dem anderen, der Gott und die Menschheit in einer festen Einheit vereinigte und der nach ihm kam. 

Auf diese Art trennt der Evangelist die vergängliche Stimme vom immer und unveränderlich verweilenden Wort. Er verkündet, dass der eine der Morgenstern ist, der zur Morgendämmerung des göttlichen Reiches erscheint, und erklärt den anderen zur hereinbrechenden Sonne der Gerechtigkeit. 

Hierdurch unterscheidet er den Zeugen van dem, für den er Zeugnis ablegt, die Botschaft von dem, der sie überbringt, das Licht der Leuchte in der Nacht vom hellsten Licht, das die Welten erfüllt und die Finsternis des Todes und die Sunde des ganzen Menschengeschlechts zerstört. Deshalb war der Vorbote unseres Herrn ein Mensch, nicht Gott, während der Herr, dessen Vorbote er war, gleichzeitig ein Mensch und Gott ist. Der Vorbote war ein Mensch, der von der Gnade berufen wurde, über die Menschheit hinaus zu Gott zu gelangen, während der, dem er vorausging, von Natur aus Gott war und durch Demut und den Willen zu unserer Rettung und Erlösung dazu berufen wurde, Mensch zu werden. 

»Es trat ein Mensch auf, der gesandt wurde. « Von wem?  Von Gott. Von Gott dem Wort, dem er, der Mensch, vorausging. Sein Auftrag war es, Vorbote zu sein. Laut rufend schickt er seine Stimme, »die Stimme des Rufenden In der Wüste« [Job 1. 23], vorher. Der Botschafter bereitete die Ankunft seines Herrn vor. 

»Sein Name war Johannes« – dem es gegeben war, der Vorbote des Königs der Könige zu sein, das inkarnierte Wort zu manifestieren; dem es gegeben war, ihn als ein prophetisches Versprechen seiner kommenden spirituellen Adoption zu taufen und durch seine Stimme und sein Martyrium Zeugnis gegenüber dem ewigen Licht abzulegen. 


(16) Der Zeuge

Dieser kam zum Zeugnis, am Zeugnis abzulegen für das Licht« – das heißt für Christus. Hore sein Zeugnis: »Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Weh« [Joh 1. 29]. Und wiederum: »Er, der nach mir kommt, ist der, der vor mir erschaffen wurde« [Joh 1. 30]. Das Griechische ist hier deutlicher: emprosthen mou – das heißt: »Er wurde vor mir, vor meinen Augen erschaffen. « ,’ Das ist so, als hatte er offen gesagt: »Er, der in der Ordnung der Zeiten nach meiner Geburt geboren wurde  im Fleisch, ihn sah ich vor meinen Augen in einer prophetischen Vision, als ich mich noch im unfruchtbaren Schoss meiner Mutter befand, ihn sah ich als empfangen vor mir  und als Mensch erschaffen 1m Leib der Jungfrau.«

»Er war nicht das Licht, aber er wurde gesandt, Zeugnis abzulegen für das Licht. « Dies muss mit der folgenden Betonung gelesen und verstanden werden: »Er war nicht selbst das Licht, sondern wurde gesandt, Zeugnis abzulegen für das Licht.« Der Vorbote des Lichtes war nicht das  Licht. Warum wird er dann »ein brennendes und leuchtendes Licht« [Joh 5. 35] und »der Morgenstern« genannt? Er war ein brennendes Licht, aber er brannte nicht mit seinem eigenen Licht. Er war der Morgenstern, aber er empfing sein Licht nicht aus sich selbst. Die Gnade dessen, dem er vorausging, brannte und leuchtete durch ihn. Er war nicht das Licht, aber er hatte teil am Licht. Was in ihm und durch ihn glühte, war nicht das Seine. Wie wir zuvor bereits gesagt haben: Kein Geschöpf, weder vernunftbegabt noch geistig, ist in sich selbst wesenhaft Licht, aber es hat teil an dem einen wahren wesenhaften Licht, das geistig wahrnehmbar überall und in allen Dingen leuchtet. 

Deshalb fügt der Evangelist dann hinzu: »Das war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt.« »Das wahre Licht« ist das, was er den Sohn Gottes nennt, der durch sich selbst unveränderlich besteht und der, vor aller Zeit, durch Gott den Vater, der auch durch sich selbst unveränderlich besteht, geboren wurde. »Das wahre Licht« ist das, was er den gleichen Sohn nennt, der zum Wohl der Menschheit ein Mensch unter Menschen wurde. Er ist das wahre Licht, das von sich selbst sagt: »Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben« [Joh 8. 12]. 


(17) Das wahre Licht

Das war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt. « 

Was bedeutet »in die Welt kommen«? Was haben wir zu verstehen unter »jeder Mensch, der in die Welt kommt?« ; Woher kommen  Menschen in die Welt? In was für eine Welt kommen sie? 

Und wenn die gemeint sind, die aus den verborgenen Schößen der Natur durch Zeugung in der Zeit und an Orten in die Welt kommen, welche Art der Erleuchtung ist dann für sie in diesem Leben möglich, in einem Leben, in das wir nur zum Sterben geboren werden, in dem wir wachsen, nur um wieder zu zerfallen, zusammengefügt werden, nur um wieder aufgelöst zu werden, in dem wir aus der Ruhe der stillen Natur in die Ruhelosigkeit des geschäftigen Elends fallen? Sage mir bitte, was für eine Art spirituellen und wahren Lichtes es für die geben kann, die in vergängliches und falsches Leben geboren werden? Ist nicht genau diese Welt die angemessene Wohnung für diejenigen, die sich dem wahren Licht entfremdet haben? Wird sie nicht richtigerweise die Region des Todesschattens genannt, das Tal der Tränen, der Abgrund der Unwissenheit, die irdische Behausung, die die menschliche Seele niederdrückt und das wahre Betrachten des Lichtes aus dem inneren Auge verbannt? 

Die Aussage »das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt« kann sich deshalb nicht auf die beziehen, die aus den verborgenen Ursachen des Samens hervorgehen und zu körperlichen Formen werden. Sie muss sich vielmehr auf diejenigen beziehen, die durch die spirituelle Regeneration, ermöglicht durch die in der Taufe gespendete Gnade, in die unsichtbare Welt eintreten. Indem sie die Geburt, wie sie dem vergänglichen Körper entspricht, zurückwiesen, wählten sie die zweite Geburt, die spirituell ist. Sie treten die untere Welt mit Füssen und steigen zur oberen Welt hinauf. Während sie die Schatten der Unwissenheit und des Todes zurücklassen, sehnen sie sich nach dem Licht der Weisheit und des Lebens. Indem sie aufhören, Kinder der Menschen zu sein, und beginnen, Kinder Gottes zu werden, lassen sie die Welt der Laster zurück. Sie zerstören diese in sich, halten sich die Welt der Tugenden vor ihr inneres Auge und verlangen danach, mit all ihrer Kraft dort hinaufzusteigen. Somit erleuchtet das wahre Licht jene, die in diese Welt der Tugend eintreten, nicht jene, die sich in die Welt der Laster fluchten.


(18) Er war in der Welt

Er war in der Welt.« Hier bezeichnet der Evangelist mit »Welt« nicht nur die sinnlich wahrnehmbare Schöpfung im Allgemeinen, sondern auch und im Besonderen die Substanz der vernünftigen Natur, die in den Menschen existiert. In allen Menschen, um es einfach zu sagen, im erschaffenen Universum als Ganzem, ist das Wort das wahre Licht, das jetzt und immer unveränderlich existiert, denn es hört niemals auf, unveränderlich in allen Dingen zu existieren. 

Denn, ebenso wie die Stimme von jemandem, der spricht, leiser wird und sich verflüchtigt, wenn er aufhört zu sprechen, so ist es auch mit dem himmlischen Vater. Sollte er aufhören, sein Wort zu sprechen, so würde die Wirkung seines Wortes – das erschaffene Universum – aufhören,  unveränderlich zu existieren. Denn das Sprechen Gottes des Vaters, die ewige und unveränderliche Erzeugung seines Wortes, ist die fortwährende Erhaltung durch Ersetzung – das eigentliche Fortbestehen –des  erschaffenen Universums. 

Deshalb ist es auch nicht unvernünftig, wenn man den folgenden Satz ausschließlich über die nur sinnlich wahrnehmbare Welt aussagt: »Er war in der Welt, und die Welt wurde von ihm erschaffen.« 

In anderen Worten: Damit nicht jemand, der der manichäischen Häresie anhängt, denkt, dass die Welt, die unter die körperliche Wahrnehmung fallt, vom Teufel erschaffen wurde und nicht vom Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge, fügt der Evangelist hinzu: »Er war in der Welt« – das heißt, er war immer in dieser Welt, die alle Dinge enthalt – »und die Welt wurde von ihm erschaffen. « Denn der Schöpfer lebt nicht in einem Universum, das von einem anderen erschaffen wurde, sondern in dem, das er selbst erschuf. 

*****

(19) Drei Welten

Beachte, dass der gesegnete Evangelist »die Welt« viermal erwähnt. Wir müssen dennoch verstehen, dass es drei Welten gibt. 

Die erste dieser geordneten Welten ist ausschließlich mit den unsichtbaren und spirituellen Wesenheiten der engelhaften Hierarchien angefüllt. Jeder, der in sie eintritt, hat vollständig teil am wahren Licht.

Die zweite ist der ersten direkt entgegengesetzt, denn sie besteht ganz aus sichtbaren und körperlichen Naturen. So niedrig die Stellung dieser Welt im Universum auch sein mag, so war das Wort dennoch in ihr, und sie wurde durch das Wort geschaffen. Somit ist dies die erste Stufe für diejenigen, die zur Erkenntnis der Wahrheit mittels der Sinne aufsteigen möchten, denn der Anblick der sichtbaren Dinge zieht die denkende Seele zur Erkenntnis der unsichtbaren Dinge.

Die dritte Welt ist diejenige, die in sich selbst wie ein vermittelndes Prinzip die obere, spirituelle Welt und die untere, körperliche Welt vereinigt und aus diesen beiden eine macht. Mit dieser Welt ist allein die Menschheit gemeint, in der alle Geschöpfe wie in einem  zusammengefugt werden. Denn der Mensch besteht aus einem Körper und einer Seele. Indem er den Körper dieser Welt und die Seele der anderen Welt zusammenhält, erschafft der Mensch – die Menschheit – einen einzigen Kosmos. Denn der Körper umfasst die ganze körperliche Natur und die Seele die ganze spirituelle, und diese beiden bilden, zusammengefugt zu einer einzigen Harmonie, die kosmische Welt des Menschen. Deshalb wird der Mensch »alles« genannt – denn alle Geschöpfe sind in der Menschheit enthalten, als waren sie zusammengeschmolzen in einem Schmelztiegel. Deshalb lehrt der Herr selbst seine Jünger, als sie beginnen, hinauszugehen und zu predigen: »Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen« [Mk16. 15]. 

Diese Welt, die die Menschheit ist, kannte deshalb ihren Schöpfer nicht. Die Menschen, unterdrückt durch die Fesseln des fleischlichen Denkens, wollten weder durch die Symbole des geschriebenen Gesetzes noch durch die Muster der sichtbaren Schöpfung ihren Gott erkennen. »Und die Welt erkannte ihn nicht.«

Die Menschen erkannten das Wort weder durch die Nacktheit seiner wahren Göttlichkeit, bevor es die menschliche Natur annahm, noch durch das Gewand der Inkarnation, nachdem es die menschliche Natur annahm. Sie erkannten den Unsichtbaren nicht; sie verleugneten den Sichtbaren. Sie wollten nicht den suchen, der sie suchte. Sie wollten nicht den hören, der sie rief. Sie wollten nicht dem Beachtung schenken, der sie vergöttlichte. Sie wollten nicht den aufnehmen, der sie aufnahm.


(20) Die Seinen

Er kam zu den Seinen« – das heißt, zu dem, was von ihm erschaffen wurde und das somit verdientermaßen sein Eigentum ist – »und die Seinen nahmen ihn nicht auf.« 

»Die Seinen« sind die Menschheit, die er erlösen wollte und die er erlöste. 

»Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben.« Hier wird eine Unterteilung vorgenommen, nicht im Hinblick auf die vernünftige Welt im Menschen, sondern im Hinblick auf ihren Willen. Diejenigen, die das inkarnierte Wort aufnehmen, werden von denjenigen getrennt, die es zurückweisen. Die Gläubigen glauben, dass das Wort gekommen ist, und nehmen ihren Herrn offenherzig auf. Die Gottlosen leugnen und weisen ihn starrsinnig zurück – die Juden aus Neid, die Heiden aus Unwissenheit. Denen, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden. Denen, die ihn nicht aufnahmen, gab er die Möglichkeit, ihn eines Tages aufzunehmen. 

Denn die Möglichkeit des Glaubens an den Sohn Gottes und die Möglichkeit, ein Sohn Gottes zu werden, wird niemandem verwehrt – sie ist nämlich im menschlichen Willen begründet, im Zusammenwirken mit der göttlichen Gnade. 

Welchen Menschen ist dann die Macht gegeben. Kinder Gottes zu werden? Denen, die ihn aufnehmen und die an seinen Namen glauben. Vide nehmen Christus auf. Zum Beispiel nehmen die Arianer ihn auf, aber sie glauben nicht an seinen Namen. Sie glauben nicht, dass er der einziggeborene Sohn Gottes ist, von gleicher Substanz wie der Vater. Sie leugnen, dass er wesensgleich – homoousios – mit dem Vater ist, und bekräftigen, dass er wesensungleich – heteroousios – ist. Aus diesem Grunde dient es ihnen nicht, Christus aufzunehmen, denn sie streben danach, seine Wahrheit zu verleugnen. Diejenigen, die Christus wahrhaft aufnehmen – als wahren Gott und wahren Menschen – und daran unerschütterlich glauben, denen ist die Möglichkeit gegeben. Kinder Gottes zu werden. 


(21) Das Fleisch gewordene Wort

Die nicht aus dem Blut, nicht aus dem ‘Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.« 

In den alten griechischen Handschriften heißt es einfach: »Die nicht aus Blut, sondern aus Gott geboren wurden.« 

»Nicht aus Blut«, sagt der Evangelist, nicht durch körperliche Fortpflanzung werden diejenigen geboren, die durch das Verdienst ihres Glaubens die Annahme als Kinder Gottes erlangten. Sie werden aus Gott dem Vater geboren, durch den Heiligen Geist, als Miterben Christi: Sie haben teil an der Sohnschaft des einziggeborenen Gottessohnes. 

»Nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes. « Hier führt der Evangelist zwei Geschlechter an, aus denen sich die Vielen, die im Fleisch geboren werden, gemäß dem Fleisch fortpflanzen. Denn mit dem Wort »Fleisch« bezeichnet der Evangelist das weibliche Geschlecht und mit dem Wort »Mann« das männliche. 

Und für den Fall, dass du versucht wärest zu sagen, es sei unmöglich, dass Sterbliche zu Unsterblichen werden, dass vergängliche Wesen frei werden von Vergänglichkeit, dass einfache Menschen Kinder Gottes werden und dass zeitliche Geschöpfe Ewigkeit besitzen werden – ganz gleich welcher dieser Zweifel für dich der größte sein mag -, akzeptiere das Argument, das der Glaube für das bereit halt, woran du zweifelst: »Und das Wort ist Fleisch geworden.«

Wenn das Größte unzweifelhaft vorangegangen ist, warum sollte es dann unglaublich erscheinen, dass das, was weniger ist, fähig sein sollte zu folgen? Wenn der Sohn Gottes zum Menschen wird, was keiner von denen, die ihn aufnehmen, bezweifelt, warum ist es dann erstaunlich, dass ein Mensch, der an den Sohn Gottes glaubt, ein Sohn Gottes werden sollte? Zu genau diesem Zweck ist nämlich das Wort in das Fleisch hinabgestiegen: dass in ihm das Fleisch – der Mensch -, durch das Fleisch an das Wort glaubend, aufsteigen möge; dass durch ihn, der der einziggeborene Sohn von Natur aus war, vide als Kinder angenommen werden sollten. 

Das Wort ist nicht für sich selbst Fleisch geworden, sondern für uns, denn nur durch das Fleisch des Wortes können wir in Kinder Gottes verwandelt werden. Er stieg alleine herab, aber mit Vielen steigt er hinauf. Er, der aus Gott sich selbst zum Menschen machte, erschafft Götter aus Menschen. 

»Und hat unter uns gewohnt«: das heißt, er nahm unsere Natur an, damit wir teilhaben an seiner Natur. 


(22) Seine Herrlichkeit

Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einziggeborenen Sohnes des Vaters.« 

Wo, oh gesegneter Theologe, hast du die Herrlichkeit des inkarnierten Wortes gesehen, die Herrlichkeit des Gottessohnes, der Mensch geworden ist? Mit welchen Augen hast du sie gesehen? 

Ich glaube: mit körperlichen Augen zum Zeitpunkt der Verklärung auf dem Berg. Denn du warst zu dieser Zeit dort, der dritte Zeuge der göttlichen Verherrlichung. Und ich denke, dass du auch in Jerusalem zugegen warst, als du die Stimme des Vaters hortest, der seinen Sohn mit folgenden Worten verherrlichte: »Ich habe ihn verherrlicht, und ich werde ihn wieder verherrlichen« [Joh 12. 28]. Du hortest die Scharen der Kinder, die riefen: »Hosianna dem Sohn Davids« [Mt 21. 15].

Und was soll ich zur Herrlichkeit der Auferstehung sagen? Du sahst, wie er auferstand von den Toten, als du eingeschlossen warst mit den anderen Jüngern und er durch verschlossene Türen zu euch trat. Du sahst seine Herrlichkeit, als er zum Vater aufstieg, von Engeln hinaufgetragen in den Himmel. Aber mehr noch als bei diesen Ereignissen sahst du seine Herrlichkeit, als du mit dem höchsten Schauen des Geistes ihn – ich meine das Wort – in seinem Anfang, mit seinem Vater, betrachtetest. Dort sahst du die Herrlichkeit, die er »als einziggeborener Sohn des Vaters« hat.


(23) Voll Gnade und Wahrheit

Voll Gnade und Wahrheit. « Diese Wendung hat eine doppelte Bedeutung. Man kann sie nämlich sowohl auf die Menschennatur als auch auf die Göttlichkeit des inkarnierten Wortes bezogen verstehen – in diesem Falle bezieht sich die Fülle der Gnade auf seine Menschennatur und die Fülle der Wahrheit auf seine Göttlichkeit. Denn das inkarnierte Wort, unser Herr Jesus Christus, empfing die Fülle der Gnade entsprechend seiner Menschennatur, weil er das Haupt der Kirche ist und der Erstgeborene der universalen Schöpfung – das heißt, der Gesamtheit der universalen Menschheit, die in ihm und durch ihn geheilt und wiederhergestellt wird. 

Ich sage „in ihm“,  weil er das großartigste und erste Beispiel für die Gnade ist, durch die, ohne irgendwelche vorhergehenden Verdienste, ein Mensch Gott wird. In ihm wird dies auf ursprüngliche Weise manifestiert. 

Ich sage »durch ihn«, weil wir wegen seiner Fülle alle die Gnade der Vergöttlichung empfangen haben im Austausch für die Gnade des Glaubens, durch die wir an ihn glauben, und die Gnade des Handelns, durch das wir seine Gebote einhalten. 

Die Fülle der Gnade Christi kann jedoch auch als auf den Heiligen Geist bezogen verstanden werden. Denn der Heilige Geist, da er die Gaben der Gnade verteilt und bewirkt, wird oft »Gnade« genannt. Dieser Geist erfüllte durch seine siebenfache Wirkung die Menschennatur Jesu und ruhte auf ihm. So sagt der Prophet: »Und der Geist des Herrn soll auf ihn vertrauen, der Geist der Weisheit und des Verstehens, der Geist des Ratschlags und der Starke, der Geist des Wissens und der Furcht vor dem Herrn« [Jes 11.2].

Wenn du deshalb Christus durch die Wendung »voll Gnade« verstehen mochtest, dann wisse, dass sie sich auf die Fülle seiner Vergöttlichung und seiner Heiligung als Mensch bezieht. 

Von seiner Vergöttlichung sage ich, dass die Menschheit und Gott in der Einheit einer einzigen Wesenheit verbunden wurden. Van seiner Heiligung sage ich, dass er nicht nur vom Heiligen Geist empfangen wurde, sondern dass er in Wahrheit auch van der Fülle seiner Gaben erfüllt wurde und dass die Lichter der Gnade in ihm und von ihm ausgehend scheinen, wie auf der Spitze des mystischen Leuchters der Kirche. 

Wenn du jedoch die Fülle der Gnade und der Wahrheit des inkarnierten Wortes im Bezug auf das Neue Testament verstehen möchtest, wie der Evangelist selbst etwas weiter unten gedacht zu haben scheint – »denn das Gesetz wurde durch Moses gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Christus« -, dann wäre es nicht unangemessen zu sagen, dass die Fülle der Gnade des Neuen Testaments durch Jesus gespendet wurde und dass die Wahrheit der Symbole des Gesetzes in ihm erfüllt wurde. Der Apostel sagt nämlich: »In ihm wohnt die Fülle der Gottheit körperlich « [Kol 2. 9].

Hier bezeichnet der Apostel die Fülle der Gottheit als die in dem Schatten verborgene Offenbarung. Christus offenbart diese Gottheit körperlich, indem er in die Gestalt des Fleisches kommt und im Fleisch wohnt, und. Somit lehrt und manifestiert, dass er in sich selbst die Offenbarung ist. Denn er selbst ist die Quelle und Fülle der Gnade, die Wahrheit der Symbole des Gesetzes, der Endpunkt der Visionen der Propheten. Er sei verherrlicht mit dem Vater und dem Heiligen Geist, jetzt und in Ewigkeit. Amen. 

pag. 21-54


Reflexionen

von Christopher Bamford

Logos

IM ANFANG WAR DAS WORT: IN DER REINEN, UNTEILBAREN, teillosen Einheit des Ursprungs war die Schöpferkraft der Bedeutung oder Offenbarung (Unterscheidung).

Auf dieser Prämisse baut das Johannesevangelium auf. Denn der heilige Johannes verkündigt in erster Linie nicht Jesus, den historischen Stifter des Christentums – den Lehrer und das vollkommene moralische Beispiel -, sondern ein immaterielles, abstraktes, irrationales, himmlisches Prinzip oder den Logos. Und doch leugnet der heilige Johannes keineswegs den menschlichen, historischen Jesus, denn einige Verse später sagt er kategorisch: »Das Wort wurde Fleisch und lebte unter uns. « Es ist aber dennoch nicht Jesus, sondern das Wort, der Logos, den er zuerst verkündet. Es ist nicht überraschend, dass logos sich ableitet aus dem griechischen Verb legein, »laut sagen oder aussern«. Aber legein bedeutet auch, und das war vielleicht die ursprüngliche Bedeutung, »nieder- und vorlegen; einsammeln und zusammenbringen; sammeln, ernten, aufbewahren.«

Diese Uräußerung oder dieses Wort – Logos – ist deshalb das Lagerhaus oder der Kornspeicher, der Ort, an dem der Vater niederlegt, einsammelt und ansammelt. Sie ist der Ort aller Orte – der Ort, an den alle Dinge gebracht werden und der selbst kein On ist. In diesem Sinne ist der Logos oder der Sohn die Heimat aller Dinge, wo alle Dinge erschaffen werden. Das Wort ist ihr Rastplatz und Ruheort, an den alle Dinge zurückkehren, um sich zu Hause wieder zu finden.

»Eine Gegend, durch deren Zauber alles, was ihr gehört, zu dem zurückkehren, worin es ruht«, sagt der Philosoph Heidegger und fügt hinzu: »Die Gegend versammelt, gleich als ob sich nichts ereigne, jegliches zu jeglichem und alles zueinander in das Verweilen beim Beruhen in sich selbst. (…) In ihr ist das Offene gehalten und angehalten, jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen.« Diesen Öffnung- und Sammlungsaspekt des Wortes können wir vielleicht das freie Spiel oder die bewegungslose Bewegung reiner Beziehung nennen. Es ist Gottes schöpferische Kraft, Seine Ausdruck gebende Aktivität und sein aktiver Ausdruck, die schließlich in der Urhandlung des fiat lux hervorbrechen: Es werde Licht! 

En arche en ho logos: Im Anfang war das Wort, Arche ist das Prinzip, die Ursache, Quelle und der Ursprung von allem: der Vater. Nichts kommt davor, nichts danach. Sie ist alles. In majestätischer Einsamkeit verweilend, in der Beziehung zum Logos, sind die Arche oder der Vater absolute Einheit – das Nichts oder nihil per excellentiam, das, »was jenseits geht« ins Nichts. Hieraus werden alle Dinge erschaffen. Als solches ist sie der Grund, die Ursubstanz des Seins, unbekannt und undenkbar. 

Und doch ruht in diesem Nichts, das ein ewiger Brunnen ist, ein ihm innewohnendes Vermögen der Unterscheidung. In diesem Nichts liegt das Vermögen von »etwas«. Dies ist die Antwort auf die Frage des Metaphysikers: »Warum gibt es eher etwas als nichts?« Wir mögen es das Vermögen der Schöpfung, des Wissens, der Form, der Ordnung, der Vernunft, der Harmonie, der Bedeutung nennen. Vielleicht nennen wir es sogar Schönheit, Wahrheit, Güte: Es ist die Manifestation des Ausdrucks und der Unterscheidung, der Logos oder Vermittler, das Wort.

»Logos« hat Viele Bedeutungen. Nach Plato wird logos in vier Bedeutungen verwendet. Es bedeutet: mentale Gedanken ohne Worte; Rede, die vom Verstand ausgeht und durch die Stimme ausgedrückt wird; die Erklärung der Elemente des Universums und das Verhältnis von Proportion. Gedanken, Rede, Bedeutung, Beziehung – der Logos oder das Wort ist all dies und mehr.

Das heißt, das Wort impliziert Verschiedenheit und Beziehung: Rhythmus. Darin das, was zwei Dinge unterscheidet – zum Beispiel Licht und Dunkelheit -, das eine dem anderen offenbart, sie trennt und auseinander halt, ist das Gleiche wie das, was zwischen ihnen vermittelt, sie in Harmonie zusammenhält. Nur was verschieden ist, kann in Beziehung gesetzt werden. So schreibt Plato im Timaios: »Zwei Dinge aber lassen sich für sich allein nicht haltbar zusammenfügen; es gehört notwendig dazu ein drittes, ein vermittelndes Band nämlich, welches die Vereinigung beider erst zustande bringen kann. 

Nun wurde das Auseinanderhalten, der Akt der Unterscheidung, das Urteil oder der Vergleich – dieser Akt des Wissens – von den Griechen auch logos (oder im Lateinischen ratio) genannt. Proportionen oder das, was Verhältnisse rhythmisch in der Einheit zusammenbindet, wurden deshalb analogos oder »im gleichem Verhältnis stehend« genannt, wie im vollkommenen analogos »a verhalt sich zu b wie b zu c«. Solch eine Proportion stellt eine vollkommenere Beziehung dar, weil es das Prinzip des logos, sowohl zu trennen als auch zu vereinen, zweifach verkörpert. Aus diesem Grand war für die Griechen der schönste Logos – der einzig wahre analogos – die einzigartige Proportion, die der Goldene Schnitt genannt wurde und die nur zwei Variablen verwendet: a:b = b:(a+b). Plato sagte: »Die schönste Verbindung ist diejenige, die vollkommene Einheit für sich selbst und die verbundenen Teile schafft.«

In diesem Sinne betet das Wort: »Alle sollen eins sein; wie Du, Vater, in mir bist und ich in Dir bin, sollen auch sie in uns eins sein (… ) ich in ihnen, und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit« [Joh 17.21 u. 23]. 

Deshalb ist der Logos »das Lamm, geschlachtet bei der Erschaffung der Welt« [Offb 13.8]; die Urspaltung des Opfers und der Selbstoffenbarung, erbracht für die Erschaffung der Welt. Denn aus der göttlichen Finsternis wird die Welt zur Welt und wird Licht in Licht. Gon und die Welt haben beide teil an diesem einen dynamischen Herz und Zentrum – beide ruhen in der Aktivität des Wortes oder Logos, »dem Lamm, geschlachtet bei der Erschaffung der Welt«.

Das Wort ist deshalb ein Verb, eine Handlung. Deshalb übersetzte Goethe im Faust »Im Anfang war das “Wort« als Im Anfang war die Tat. Dies ist sicherlich richtig für das hebräische dabhar, das alle hebräischen Wirklichkeiten – Wort, Handlung und konkretes Ziel – in ihrer Gesamtheit zu einem einzigen Ausdruck zusammenfasst. Im ganzen Nahen und Mittleren Osten war das Wort und vor allem das Wort Gottes eine mächtige, dynamische Kraft. In Assyrien und Babylonien war es kosmisch – ein Sturm, ein rauschender Strom. In Ägypten war es ein immerwährendes, fast körperhaftes Ausströmen aus dem Mund Gottes. Für die Hebräer war es mehr eine internalisierte, moralische Kraft: ein Wort des Befehls. Gott sprach und es wurde getan. Sprechen und Tat, Gedanke und Sprechen waren eine einzige schöpferische Einheit. Im Anfang war das Wort.


Der Grad des Wortes

MEISTER ECKHART SCHREIBT:

Ich bin nicht der Meinung, dass Gott erkennt, weil er ist; sondern, weil er erkennt, deshalb ist er, in der Weise, dass Gott Intellekt und Erkennen ist und das Erkennen selbst die Grundlage seines Seins ist. Denn in Johannes 1. 1 heißt es: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. « Nicht aber hat der Evangelist gesagt: »Im  Anfang war das Sein, und Gott war das Sein. « Das Wort aber ist seinem ganzen Wesen nach auf den Intellekt bezogen, und es ist dort als sprechendes oder als gesprochenes [Wort].

Die Schlussfolgerung ist unvermeidlich: »Und deshalb ist Gott, der Schöpfer und nicht erschaffbar ist, Intellekt und Erkennen und nicht seiend oder Sein. « 

Gott weiß, bevor Gott ist, und Gottes Wissen ist der Boden und die Ursache für Gottes Sein. Anders gesagt ist Gottes Sein die Wirkung (oder die Folge) van Gottes Wissen. Sein ist deshalb in seiner Ursache nicht Sein, sondern Wissen. Und das Wort ist deshalb gleichermaßen die Enthüllung und Offenbarung nicht des göttlichen Seins, sondern des göttlichen Wissens – eines Wissens jenseits von Sein, das Eriugena »das Nichts« nennt. Und doch ist das Wort selbst nicht Wissen in unserem Sinn, denn das Vermögen der Enthüllung oder Unterscheidung ist nicht selbst die Unterscheidung, sie macht diese nur möglich, enthalt sie als Potentialität. Diese möglich zu machen, ist nun die Schöpfung des Seins; und das Wort, welches das Vermögen des Wissens ist, das Sein enthalt und doch selbst weder Wissen noch Sein ist, ist deshalb immer in unserem Wissen und Sein aktiv – in unseren Unterscheidungen, die wir vornehmen, und unserem Erschaffen werden in unseren Unterscheidungen. Gottes Wissen, das Wort, unterscheidet sich von unserem. In den Worten Meister Eckharts:

Das Wissen Gottes ist Ursache der Dinge, während unser Wissen von den Dingen verursacht ist. Während deshalb unser Wissen ein Abfall vom Seienden ist, van dem es verursacht wird, ist das Seiende selbst aus dem gleichen Grunde ein Abfall vom Wissen Gottes, und deshalb liegt alles, was in Gott ist, über dem Sein selbst und ist ganz Erkennen. 

Eriugena drückt dies anders aus. Wissen geht dem, was es weiß, voraus und ist die Ursache davon. Wissen entspringt einem  ursprünglichen Wissen und ist, wenn nicht die »Erinnerung« hieran, so zumindest das Gewahrwerden einer Möglichkeit, die vorher in ihm existiert. Im Falle des menschlichen Wissens ist das Wissen, das dieses verursacht – deshalb ist es in einem Sinne ursprüngliches menschliches Wissen und entfaltet sich von dort – nichts anderes als die direkte, unvermittelte Wirkung des göttlichen Wissens, des Wortes, dessen unvermittelte Wirkung die Schöpfung des Seienden ist. Das menschliche Wissen ruht dann letztendlich in seinem Sein im Wort.

Zwischen dem menschlichen Wissen und dem Wort liegt jedoch ein Abgrund der Transzendenz, ein Abgrund, der durch die  Inkarnation des Göttlich-Menschlichen überbrückt wird. Gottes Wissen hat keinen Gegenstand oder eine Andersartigkeit. Wir konnten sagen, es ist reines Subjekt. Gott weiß, und was er weiß, ist sein Wissen: eine reine Aktivität, eine Tat, ein Sein. Simone Weil schreibt: »Wenn Gott Subjekt ist, kann das Verb >denken< nur als Aktivum verstanden werden. Was Gott denkt, ist noch immer ein Sein, das denkt.«

Das Wort ist dann göttliches Bewusstsein, der Samen von Bewusstsein, ein überwesentliches Wesen, das ohne Andersartigkeit oder Gegenstand denkt. Unter Bewusstsein können wir hier vielleicht das metaphysische formative Vermögen der Unterscheidung verstehen. Von diesem Vermögen stammt alles Wissen und erhält von ihm seine Form – dies bedeutet, dass wahres Wissen niemals eine Abbildung oder Bezeichnung ist und dass alles wahre Wissen Schöpfung ist.

Das Wort als Wissen ist somit ein Gefäß, in dem die wahren Bedeutungen aller Dinge aufbewahrt werden, oder noch genauer:  Es ist der unbegrenzte Ursprung der Wahrheit, der, wie ein Samen die Pflanze, alle Bedeutungen enthalt, die sie konstituieren. Hier gibt es keine einzelnen Ideen oder isolierte Formen, sondern nur Gleichzeitigkeit, Reziprozität, Identität. Es ist ein paradoxer Samen, gebildet aus dem, was er enthalt, und enthaltend, was er bildet. Darüber hinaus hat dieser Samenort oder dieses Gefäß durch eine eigenartige Topologie kein Äußeres. Und noch seltsamer: Er enthalt uns, und wir enthalten ihn. So beschaffen ist dieses Christus-Gefäß, dieser Gral des Wortes. Eriugena schreibt:

Ebenso wie der Intellekt aller Dinge, den der Vater in seinem einziggeborenen Wort erschuf, deren Essenz und die Grundlage für alles, was natürlicherweise über die Essenz gewusst wird, konstituiert, so ist dieses Wissen van allem, erschaffen in der menschlichen Seele durch das Wort des Vaters, ihre Essenz und die Grundlage von allem, was natürlicherweise von ihnen wahrgenommen werden kann. Und ebenso wie der göttliche Intellekt allem vorausgeht und alles ist, so geht das Wissen der intellektuellen Seele allem voraus, was es kennt und ist alles, wovon es ein Vorwissen hat. Somit existiert alles unveränderlich in Bezug auf die Ursache im göttlichen Intellekt und in Bezug auf die Wirkung im menschlichen Wissen. Wie wir so oft gesagt haben, ist es nicht so, dass die Essenz van allem im Wort das eine ist und im Menschen etwas anderes, sondern dass der Geist ein und dieselbe Essenz einerseits in ewigen Ursachen sieht und andererseits in ihren Wirkungen.


Das Wort

DAS WORT ist VOR ALLEM DA, WO ICH MEINEN STANDPUNKT habe, wenn ich im Zentrum und Ursprung van allem stehe. Das Wort ist da, wo ich bin, wenn ich der bin, der ich bin. Wenn ich, alles aufgebend, erfahre, dass ich ins Innerste der Bedeutung der Welt getragen werde, dann geschieht es durch die Gnade des Wortes, dass ich in seinen Armen und an seiner Brust außerhalb von Ort und Zeit erhalten werde.

Denn das Wort ist der Grund und der Erhalter der Welt. Dort, wo alle Dinge ihren heimatlichen Grund finden, dort ist auch unsere Heimat. Dort sind wir von Anfang an gewesen, Zeugen, die die Fülle der Bedeutung widerspiegeln. Solcherart ist von Anfang an unser Zustand, den wir verloren haben, von dem wir abgefallen sind und zu dem wir durch unsere erneuere vom Wort gespendete Natur hinstreben, wobei jede andere Neigung für uns und für die Welt unnatürlich wäre.

Denn auch die Welt ist nur insoweit wirklich und bedeutungsvoll, wie sie im Wort bekannt ist und offenbart wird. Es gibt tatsächlich keine Bedeutung außer im Wort, das Bedeutung ist; und die Erfahrung von Bedeutung, auf die tiefste Art gelebt und erfahren, ist die Erfahrung des Wortes. Es gibt keine andere Bedeutung – wenn man unter Bedeutung die Erfüllung und Vervollkommnung, das Erblühen der Welt, wie sie in uns aufsteigt, versteht. Denn wenn reine Wirklichkeit zur Welt wird, dann wird sie nur im und durch das Wort zur Welt. Außerhalb des Wortes ist nichts.

pag. 81-87


Scotus Eriugena, Johannes, Die Stimme des Adlers. Homilie zum Prolog des Johannesevangeliums. Übertragen und ausführlich kommentiert von Christopher Bamford. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Ditzhuyzen, Zürich 2006, (Chalice Verlag)